Читать книгу Preußen - Michael Epkenhans - Страница 6

PREUSSEN
Annäherung an einen Mythos

Оглавление

Wie kein anderer deutscher Staat hat Preußen seit der Zeit Friedrichs II., der zu Lebzeiten bereits der »Große« genannt wurde, Zeitgenossen und Historiker interessiert und fasziniert, irritiert oder auch regelrecht abgestoßen. Aus einer ärmlichen »Streusandbüchse« am Rande des alten Reichs hatten Preußens Herrscher und ihre Untertanen mit Zähigkeit, Geschick und Gewalt, aber auch gestützt auf ganz eigentümliche Tugenden schließlich eine europäische Großmacht geschaffen. Trotz der ungünstigen Mittellage in Europa, haben sie diese Stellung in einer Reihe von Kriegen erfolgreich zu verteidigen, ja sogar zu erweitern verstanden. Am Ende war es Preußen, das Deutschland seinen Stempel aufdrücken sollte – nicht Österreich, die alte Vormacht seit dem Mittelalter.

Auf Jahrzehnte der Glorifizierung Preußens und seiner Macht, vor allem im Kaiserreich, folgen dessen tiefer Fall, schließlich der physische Untergang in der »Deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) der Jahre 1933 bis 1945. Die endgültige Auflösung am 27. Februar 1947 war kaum mehr als das Ausstellen der Sterbeurkunde.

»Dieser Staat«, so Heinrich von Treitschke in der Zeit der Einigungskriege, »mit all seinen Sünden hat alles wahrhaft Große getan, was seit dem Westfälischen Frieden im deutschen Staatsleben geschaffen ward, und er ist selber die größte politische Tat unseres Volkes.« Zweifellos sprach Treitschke 1864 das aus, was viele dachten oder fühlten – bei allen Vorbehalten gegenüber einem Staat, der in manchem anders war als das katholische Bayern, das liberale Baden oder die beschaulichen thüringischen Kleinstaaten mit ihren uralten Traditionen.

Ein halbes Jahrhundert später stand dieses Preußen, dem Treitschkes Stolz gegolten hatte, auf der Anklagebank: »Die ganze preußische Geschichte ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert«, behaupteten die Ententemächte am Ende des Ersten Weltkrieges in ihren Verhandlungen in Versailles im Jahr 1919. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diesem Verdikt auch zahlreiche Deutsche zustimmen konnten. Weltkrieg, Niederlage und Revolution veranlassten viele, über eine Auflösung Preußens nachzudenken. Der Versuch, einen Zentralstaat an die Stelle eines föderativen Staatswesens zu setzen, scheiterte nicht nur an den »Fußangeln«, die eine Umsetzung dieser Idee zur Folge gehabt hätte, sondern auch an der Hoffnung, die »guten Seiten« Preußens, seine Tugenden, für den Aufbau eines neuen, demokratischen Deutschlands nutzen zu können.

Diese Hoffnungen haben sich bekanntermaßen nicht erfüllt. Der »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 erschien Zeitgenossen und Nachgeborenen als eine Bestätigung dafür, dass Preußen die Wurzel allen Übels in Deutschland und Europa sei. Nicht die viel beschworenen preußischen Tugenden wie Pflichterfüllung, Treue, Genügsamkeit oder Toleranz prägten für Jahrzehnte das Bild Preußen-Deutschlands. Einmal mehr galt der Blick dem militaristischen, obrigkeitsstaatlichen Preußen als dem Ursprung eines »Sonderwegs«, der in fataler Weise in eine totalitäre Diktatur mündete, deren Ziel nichts anderes als die gewaltsame Eroberung der Hegemonie über Europa mit all ihren verbrecherischen Begleiterscheinungen zu sein schien.

Die viel beschworene Kontinuität von Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler, in die die NS-Propagandisten sich stellten, hielten viele Politiker, Historiker und Publizisten der Nachkriegszeit für tatsächlich gegeben. Das andere, das liberale, tolerante, zeitweilig sogar revolutionäre Preußen kam hinter diesem Vorhang erst mühsam wieder hervor. Bezeichnend für diesen Wandel war, dass er sich im ehemaligen Westen und Osten Deutschlands in den 1980er-Jahren nahezu zeitgleich vollzog – wenngleich unter völlig anderen Vorzeichen.

Gleichwohl, die damit verbundenen Auseinandersetzungen mit Preußen, seinem Erbe und seinem Mythos wurden nun differenzierter und damit fruchtbarer als alle eher holzschnittartigen, ideologisch motivierten Annäherungen oder Verurteilungen zuvor geführt.

Es war sicherlich kein Zufall, dass in diese Zeit auch das Erscheinen der ersten modernen Biografien über Otto von Bismarck fiel, den »Urpreußen und Reichsgründer« wie er im Osten oder den »Weißen Revolutionär« wie er im Westen hieß. Indem dessen Biografen – Ernst Engelberg in Ost-Berlin, Lothar Gall im liberalen Frankfurt am Main – versuchten, ein neues Bild dieses preußischen Junkers zu zeichnen, leisteten sie zugleich auch einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Komplexität des Preußen-Problems in der neueren deutschen Geschichte.


Beschreibung der Mark Brandenburg; Kupferstich von Abraham Ortelius aus dem Jahr 1588.

Im Grunde war damit der Damm gebrochen: Preußen war wieder »en vogue«, wenngleich nunmehr unter anderen Vorzeichen. Die Zahl der direkt oder indirekt Preußen und seiner Geschichte gewidmeten Ausstellungen, Filme und Publikationen ist kaum noch zu überschauen.

Gemeinsames Anliegen aller ist das Bemühen, sich dem Mythos, dem »Januskopf«, von dem einst bereits Madame de Staël gesprochen hatte, zu nähern, seine Widersprüchlichkeiten, Irr-, Um- und Sonderwege, aber auch seine Verdienste auf dem Weg in die Moderne zu beschreiben und zu erklären.

Heute ist Preußen endgültig Geschichte: Es existiert nicht mehr, seinen tragenden Schichten ist im wahrsten Sinne des Wortes bereits 1945 der Boden entzogen worden, seine Tugenden haben im Zeichen eines globalen Wertewandels anderen ganz oder teilweise weichen müssen. Der Reiz, sich mit ihm zu beschäftigen, ist dennoch ungebrochen.

Dieser Reiz war auch das Motiv, dieses Buch zu schreiben. Dabei ging es uns nicht darum, den vielen voluminösen Standardwerken oder opulenten Bildbänden einen weiteren Band hinzuzufügen. Unser Ziel war es, die Vielfältigkeit Preußens zu beschreiben, die ausgewählten Persönlichkeiten, die dieses Land geprägt haben, mit den Mitteln des Historikers noch einmal lebendig werden und die Lebenswelten vergangener Epochen Revue passieren zu lassen – sine ira et studio, wie es sich für den Historiker gehört. Der kundige Leser mag daher manches vermissen. Doch uns ging es vor allem darum, diejenigen zu erreichen, denen Sachbücher zu »trocken« sind. Erzählende Texte, ausgewählte Bilder und sprechende zeitgenössische Quellen sollen ihm helfen, sich durch einen Einblick in die vielen Facetten preußischer Geschichte ein eigenes Bild machen zu können, das erklären hilft, wie wir wurden, was wir sind.

Potsdam im September 2011

Michael Epkenhans Gerhard P. Groß Burkhard Köster

Preußen

Подняться наверх