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Monopol- und Uniformitätsbestrebungen

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Die Hitler-Jugend ging aus dem stark polarisierten Spektrum der Jugendbünde in der Weimarer Republik hervor und bestand zunächst aus einer Gruppe junger Leute, die sich der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) verbunden fühlte. Soweit glaubhaft, gehen die Ursprünge der HJ auf Anfang 1925 zurück, als Adolf Hitler, der nach dem gescheiterten Bierkeller-Putsch vom November 1923 gerade erst aus der Landsberger Festungshaft entlassen worden war, die NSDAP von neuem aufbaute. Initiator der Jugendgruppe war ein Jurastudent und Hitler-Bewunderer namens Kurt Gruber, der aus Plauen in Sachsen stammte, wo viele Arbeiter lebten. Daher lagen die Anfänge der nationalsozialistischen Jugendorganisation im proletarischen Milieu, und zumindest bis zu Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 pflegten die Gruppen ihren Arbeiternimbus. Als allerdings mit der Zeit immer mehr Jugendliche aus der Mittelschicht eintraten, wurde das proletarische Image der Jugendorganisation zunehmend fadenscheinig. Die Bezeichnung ‘Hitler-Jugend’ (abgekürzt HJ) erhielten die Gruppen, als sie im Juli 1926 Hitlers SA unterstellt wurden. Der ‘Führer’ selbst hatte an ihnen zunächst kein besonderes Interesse, weil es ihm damals auf Wählerstimmen ankam und er sich deshalb ausschließlich auf Erwachsene konzentrierte.3

Bis 1930 blieb die HJ im Vergleich zur Bündischen Jugend unbedeutend. Politisch standen die Bündischen (auch im Hinblick auf ihren Antisemitismus) soweit rechts, dass sie für deutsche Jugendliche, die die Weimarer Republik verabscheuten, mehrheitlich attraktiv waren. Im Unterschied zur HJ waren die Bündischen allerdings nicht auf einen einzigen Führer fixiert und in ihrer sozialen Zusammensetzung viel stärker von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht geprägt. Als die Nazis nach der Wahl vom 14. September 1930 die zweitgrößte Reichstagsfraktion stellten, zählte die Bündische Jugend rund 50 000 Mitglieder. Die HJ hatte im Vorfeld der Wahl einen sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahl auf 18 000 verzeichnet, und neben proletarischen Jugendlichen kamen nun auch immer mehr mittelständische Gymnasiasten, die sich Gedanken über ihre Aufstiegsmöglichkeiten in der Industrie, der staatlichen Verwaltung sowie in den akademischen Berufen machten. Zu dieser Zeit wurde in der HJ eine Unterorganisation für weibliche Mitglieder geschaffen: der ‘Bund Deutscher Mädel’ (BDM). Außerdem richtete man für – später als ‘Pimpfe’ bezeichnete – Jungen von 10 bis 14 Jahren das ‘Deutsche Jungvolk’ (DJ) ein und für die Mädchen dieser Altersstufe den ‘Jungmädelbund’ (JM). Ende 1930 reichte das Altersspektrum der HJ bei beiden Geschlechtern von 10 bis 18 Jahren.4

Im Oktober 1931 wurde Baldur von Schirach von Hitler zum Reichsjugendführer der NSDAP bestimmt. Schirach leitete bereits den NS-Schülerbund und seit 1928 den NS-Studentenbund, gab aber bald beide Ämter auf, um sich ausschließlich der Hitler-Jugend zu widmen. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) bestand weiter, während der Schülerbund in der HJ aufging. 1931 hatte die HJ schon knapp 35 000 Mitglieder, darunter immer noch 69 Prozent junge Arbeiter, 12 Prozent Schüler und 10 Prozent junge Angestellte. Schätzungen zufolge war damals, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, etwa die Hälfte der Eltern dieser jungen Leute erwerbslos.5

Der gut aussehende, wenn auch immer etwas aufgeschwemmt wirkende Baldur von Schirach war von seiner Abstammung her drei Viertel Amerikaner und ein Viertel Deutscher. Sein Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach, ein deutscher Richter, war 1855 in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Dessen Sohn Karl Friedrich kämpfte als Major im Bürgerkrieg auf der Seite der Unionsstaaten und gehörte, nachdem er in der Schlacht von Bull Run ein Bein verloren hatte, 1865 bei Präsident Lincolns Begräbnis zur Ehrenwache. Major von Schirach, Baldurs Großvater, heiratete Elizabeth Baily Norris, die aus einer Patrizierfamilie in Philadelphia stammte. Der Sohn der beiden, Karl Norris von Schirach, Baldurs Vater, wurde in Berlin geboren, doch heiratete auch er schließlich eine Amerikanerin: Emma Tillou, die einer anderen vornehmen Familie Philadelphias entstammte. Karl Norris von Schirach war amerikanischer Staatsbürger, bis er in die preußische Armee eintrat. Dort nahm er als Oberst seinen Abschied und wurde 1908 am Weimarer Hoftheater Generalintendant, verlor dieses Amt aber – ungerechtfertigterweise, wie er betonte – während der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg. Das Großherzogtum Weimar hatte sich bis dahin – also zwischen der weihevollen Aura von Goethe und Schiller auf der einen und der visionären Modernität des Bauhauses auf der anderen Seite – durch überwiegend mittelmäßige künstlerische Leistungen ausgezeichnet, zu denen auch die des von Karl Norris von Schirach geleiteten Theaters gehörten.6

In diese relativ gut situierte Familie mit hohen, wenn auch frustrierten kulturellen Ambitionen wurde Baldur von Schirach 1907 in Berlin hineingeboren. Da seine Familie stark monarchistisch sowie nationalistisch eingestellt war und die Revolution samt nachfolgender Republik verabscheute, neigte Baldur von Kindesbeinen an zur radikalen Rechten. Als Adolf Hitler im März 1925 Weimar besuchte, stellte ein Freund der Familie Schirach, der politisch rechtsgerichtete, im Kulturbereich aktive Hans Severus Ziegler, ihm Baldur und einen von dessen Freunden vor. „Hitler drückte uns lange die Hand, wobei er uns fest ansah … [Ich] rannte nach Hause und machte eines meiner zahlreichen schlechten Gedichte: ‘Ihr seid viel Tausend hinter mir / und ihr seid ich, und ich bin ihr / Ich habe keinen Gedanken gelebt / der nicht in euren Herzen gebebt.’“ Als Hitler im Herbst des Jahres die Familie Schirach besuchte, rief Baldurs amerikanische Mutter aus: „Endlich ein deutscher Patriot!“7

Im Frühjahr 1927 zog Schirach nach München, um an der Universität deutsche und englische Philologie sowie Kunstgeschichte zu studieren. Er beherrschte beide Sprachen bereits fließend, hielt sich für einen angehenden Dichter und wollte das reizvolle Leben eines Künstlers und Intellektuellen führen. Er beteiligte sich an den Machenschaften des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds, der unter anderem für einen dauerhaften Ausschluss jüdischer Studenten aus deutschen Hochschulen eintrat. Schirach traf erneut mit Hitler zusammen, der ihn im Juli 1928 zum Führer des Studentenbunds machte und ihm dabei die Worte mit auf den Weg gab: „Schirach, Sie studieren bei mir!“8

Mit der Ernennung zum Reichsjugendführer der NSDAP durch Hitler im Oktober 1931 unterstand Schirach nominell Ernst Röhm, der inzwischen zum zweiten Mal die SA, die ‘Sturmabteilung’ der Partei, anführte. 1932 gab Hitler der HJ einen eigenständigen Status innerhalb der NSDAP und beförderte Schirach zur gleichen Hierarchieebene wie Röhm. Um seine neue Stellung zu betonen, organisierte Schirach für den 1. und 2. Oktober 1932 in Potsdam seine erste HJ-Massenkundgebung. Es wurde marschiert, Reden wurden geschwungen, Übungen vorgeführt, Fanfaren erklangen, und natürlich sprachen sowohl Schirach als auch Hitler zur Menge. Das Ereignis zog aus ganz Deutschland offenbar die beeindruckende Zahl von 70 000 Jungen und Mädchen an, die alle selbst für die Fahrtkosten aufkamen.9 Der Dezember 1932 bildete für sozial verunsicherte Menschen in den Straßen der Großstädte den Gipfelpunkt einer unruhigen Zeit voller Kämpfe zwischen der radikalen Linken und der radikalen Rechten. Hauptbeteiligte auf nationalsozialistischer Seite waren die SA und die HJ. Als das Kabinett Papen der NSDAP und ihren Unterorganisationen das Tragen nationalsozialistischer Uniformen verbot, ging 1932 in Kiel eines Tages eine Gruppe von Metzgerlehrlingen, die der HJ angehörten, in ihren weißen Metzgerschürzen auf die Straße. Jeder, der sie vorbeiziehen sah, hatte Angst, sie könnten, ihre riesigen Schlachtmesser unter den Schürzen versteckt bei sich tragen.10 Bis zum Ende der Weimarer Republik kamen bei Straßenkämpfen und Saalschlachten 22 HJ-Mitglieder ums Leben; besonders glorifiziert wurde Herbert Norkus, Sohn eines SA-Mannes aus dem Berliner Unterschichtsviertel Moabit, den kommunistische Jugendliche Ende Januar 1932 nach einer Hetzjagd erstochen hatten.11

Kaum war Hitler am 30. Januar 1933 Kanzler des Deutschen Reichs, versuchte Schirach auch schon, die gesamte deutsche Jugend an sich zu ziehen. Er wollte möglichst viele der im ganzen Land verstreut existierenden kleinen und großen Jugendbünde übernehmen und in die Hitler-Jugend eingliedern. Am 17. Juni ernannte ihn Hitler zum Jugendführer des Deutschen Reichs. Diesen Posten hatte Schirach inne, bis er im August 1940 zum Gauleiter von Wien befördert wurde und an seine Stelle der 27-jährige Artur Axmann trat, der seit 1933 das ‘Soziale Amt der Reichsjugendführung’ in Berlin geleitet hatte. Axmanns Loyalität stand außer Zweifel: Im westfälischen Hagen geboren, war er 1928 in Berlin zum ersten Mal für die HJ tätig geworden und rasch aufgestiegen. Schirach hatte die deutsche Jugend allerdings auch weiterhin im Griff, denn schon im Oktober 1940 ernannte ihn Hitler zum Reichsinspekteur der HJ sowie zum Generalbevollmächtigten für Jugenderziehung der NSDAP und übertrug ihm die Verantwortung für die Kinderlandverschickung (KLV), mit deren Hilfe Kinder aus Städten, die von Bombenangriffen bedroht waren, unter HJ-Leitung aufs sichere Land gebracht wurden.12

Die Mitgliederzahlen der Hitler-Jugend stiegen in beeindruckendem Maße: von mehr als 100 000 zur Zeit der Machtübernahme Hitlers auf mehr als zwei Millionen Ende 1933 und bis zum Dezember 1936 schließlich auf 5,4 Millionen. Zu diesem Zeitpunkt behauptete Schirach, dem der ‘Führer’ gerade zusätzliche Vollmachten erteilt hatte, dass 60 Prozent aller 10- bis 18-Jährigen ihm treu ergeben seien. Das war zwar wirklich bemerkenswert und zeigte deutlich, wie attraktiv das autoritäre NS-System für junge Deutsche war, dennoch waren es längst nicht die von Schirach angestrebten 100 Prozent.13

Anfang 1933 war die Zahl der HJ-Mitglieder noch relativ gering, auch wenn sich schon viel versprechende Tendenzen erkennen ließen. Da die Hitler-Jugend auf das Freiwilligkeitsprinzip stolz war, hing ihre Entwicklung in den ersten Jahren des ‘Dritten Reiches’ vom freiwilligen Beitritt neuer Mitglieder ab. Allerdings versuchte Baldur von Schirach schon bald nach Januar 1933, die vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen möglichst rasch durch die manipulativ betriebene komplette Übernahme der traditionellen Jugendbünde zu steigern. Besonders schwer war das nicht, weil viele ihrer führenden Köpfe mit der HJ sympathisierten und sich von der Aussicht auf neue Führungspositionen locken ließen. Dies war teilweise auch schon vor 1933 zu beobachten gewesen. Was die Bünde mit der Hitler-Jugend gemein hatten, war ein allgemeiner Hass auf das parlamentarisch-demokratische System der Weimarer Republik, stattdessen zogen sie autoritäre Führungsstrukturen vor; im Weg stand ihnen jedoch ihre individuelle Loyalität gegenüber vielen einzelnen Führern an Stelle einer einheitlichen Bindung an einen nationalen Führer und dessen Statthalter.14 Da die präsidiale Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar dem Verbot aller politischen Parteien außer der NSDAP und ihrer Unterorganisationen den Weg ebnete, gingen in der HJ als erstes Jugendgruppen wie der Jungnationale Bund auf, die aus politischen Parteien der Weimarer Republik hervorgegangen waren. Wie sich Altbundeskanzler Helmut Schmidt erinnert, der 1933 15 Jahre alt war, brachten diese Vorgänge nichtorganisierte Teenager wie ihn dazu, in die HJ einzutreten, um nicht alleine dazustehen.15 Schmidt spricht für viele, die damals einem beträchtlichen Druck durch gleichaltrige HJ-Mitglieder ausgesetzt waren. Stigmatisierte Gruppen wie der ‘Kommunistische Jugendverband Deutschlands’ (KJVD) wurden einfach aufgelöst und die Führer ins KZ gesteckt; noch verbliebene marxistische Splittergruppen, die Widerstand zu leisten versuchten, waren spätestens 1935 ausgeschaltet.16

Bis 1936 gelang es offiziell, die bürgerlichen und politisierten Jugendgruppen wie den ‘Wandervogel’ und die ‘Deutsche Freischar’ zu neutralisieren. Diese hatten die Republik mit Argwohn betrachtet, gingen gerne fern von Erwachsenen wandern und waren unter dem Oberbegriff ‘Bündische Jugend’ bekannt. Dieser Nazi-Sieg wurde mit Hilfe totalitärer Methoden erreicht – durch Terror und Straßenschlachten, die im Allgemeinen von der Hitler-Jugend ausgingen, obwohl Schirach solche Konfrontationen offiziell verboten hatte.17 Zweifellos hatte der Reichsjugendführer diese Anordnung nur zum Schein erlassen, und so wurde sie von seinen Anhängern fröhlich ignoriert. Beispielsweise griffen im Sommer 1934 in Baden, wo der ‘Deutsche Pfadfinderbund’ bis dahin unbehelligt geblieben war, 40 Hitlerjungen ohne erkennbaren Grund zwei Pfadfinder an und schlugen einen von ihnen krankenhausreif.18 Ein anderes Beispiel für den Terror ist der Fall des charismatischen Eberhard Koebel, den seine Kameraden in der Deutschen Jungenschaft als ‘tusk’ kannten, und der im Herbst 1933, nach einem vorübergehenden Flirt mit dem Kommunismus, der HJ Avancen gemacht hatte. Im Januar 1934 wurde er von der Gestapo verhaftet und schnitt sich daraufhin die Pulsadern auf. Er kam ins Krankenhaus, sprang dort aus dem Fenster und zog sich dabei eine Gehirnerschütterung zu. Als man ihn ein paar Tage später entließ, floh er über Schweden nach England.19 Andere bürgerliche Jugendführer wurden direkt ermordet. Typisch hierfür war ein Vorfall im Juni 1934 in Plauen, wo ein rasender HJ-Mob den früheren Führer der ‘Deutschen Freischar’, Karl Lämmermann, umbrachte. Lämmermann war schon 1928 in führender Position in die HJ übergetreten und hatte nach Januar 1933 die ihm anvertrauten Jungen weiterhin in jenem Geist individueller Freiheit beeinflusst, der für die meisten pro-republikanischen Jugendbünde kennzeichnend gewesen war; und so fand er dann durch Nazi-Hände ein gewaltsames Ende.20 1935 schätzte die HJ-Führung, dass Jugendgruppen mit insgesamt knapp dreieinhalb Millionen Mitgliedern sich nach wie vor außerhalb des Einflussbereichs der HJ befanden.21 Am 8. Februar 1936 ordnete die Gestapo – wiederum unter Berufung auf die Notverordnung vom 28. Februar 1933 – die Auflösung all dieser bürgerlichen Jugendbünde an und untersagte ihnen weitere Zusammenkünfte.22 Diese Anordnung musste mehrfach wiederholt werden, weil es mit einigen bündischen Jugendorganisationen – vor allem den dezidiert katholischen – anhaltende Probleme gab.

Bei der Eingliederung der protestantischen Bünde stand die Hitler-Jugend hingegen vor einem weniger großen Problem. Viele protestantische Jugendliche und ihre Führer hatten schon vor 1933 mit der HJ sympathisiert – ähnlich wie ihre Eltern, die sich zu einem unverhältnismäßig hohen Prozentsatz zu Hitler und der NS-Bewegung hingezogen fühlten.23 Wenn protestantische Jugendbünde nach Januar 1933 ihre Unabhängigkeit zu wahren trachteten, dann ging es ihnen dabei um institutionelle Freiheit und kaum um religiöse Überzeugungen. Den rassistischen, nationalsozialistischen ‘Deutschen Christen’ innerhalb der evangelischen Kirche, die tatsächlich glaubten, der Jude Jesus sei ein blonder ‘Arier’ gewesen, erschien Hitler als direkt von Gott gesandt, um Deutschland zu retten. Doch sogar deren innerkirchliche Gegenspieler, die von Pastor Martin Niemöller geführten Anhänger der ‘Bekennenden Kirche’, hielten es für richtig, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Und so fiel es der protestantischen Jugendführung nicht schwer, im Dezember 1933 mit Schirach ein Abkommen zu schließen, das einen nahtlosen Übergang der evangelischen Jugendgruppen in die Hitler-Jugend besiegelte.24 Versöhnlich stimmte die Kirchenführer, dass es weiterhin möglich sein sollte, gruppenweise Bibelstunden abzuhalten. Jedoch wurden alle, die diese Möglichkeit wahrnahmen, schon bald von örtlichen HJ-Führern mit Argwohn betrachtet und schließlich schikaniert und so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich anpassten.25

Die Katholiken begegneten den Nationalsozialisten von Anfang an mit mehr Skepsis – nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kaiserreich ihre eigene politische Organisation hatten: die katholische Zentrumspartei. Für die katholischen Jugendgruppen mit über einer Million Mitgliedern sah die Lage zwiespältig aus, als im Juli 1933 zwischen dem Berliner Regime und dem Vatikan ein Konkordat geschlossen wurde, das der Katholischen Kirche in Deutschland in allen religiösen Fragen Eigenständigkeit garantierte, andererseits aber jede Art politischer Betätigung untersagte und die Auflösung der Zentrumspartei festschrieb.26 Organisierte katholische Jugendliche glaubten, ihre Verbände könnten nun neben der Hitler-Jugend fortbestehen, doch das wollte Schirach nicht zulassen, und er beschuldigte die katholischen Jugendorganisationen wiederholt grundlos der politischen Betätigung. Zwischen der HJ und katholischen Gruppen, wie dem Sportverein ‘Deutsche Jugendkraft’ und der größten katholischen Jugendorganisation, dem ‘Jungmännerverband’, kam es vor allem in stark katholischen Gegenden immer wieder zu Zusammenstößen.27 Symptomatisch für die rohe Vorgehensweise der Nazis war ein Vorfall in der Nähe von Berchtesgaden, wo HJ-Mitglieder im Mai 1934 auf junge katholische Kirchgänger losstürmten und ihnen die Jugendkraft-Aufnäher abrissen.28 Zwischen 1935 und 1939 wurden die katholischen Jugendbünde nach und nach verboten; selbst Organisationen mit harmlosen Namen wie ‘Franziskanerjugend’ und ‘Katholischer Jungmännerverband’ konnten die HJ-Führung nicht davon überzeugen, dass es sich um unpolitische Gruppierungen handelte.29

Anders als Schirach und seine Günstlinge behaupteten, lag das Anwachsen der Hitler-Jugend zwischen Januar 1933 und September 1939 größtenteils an der erzwungenen Eingliederung bestehender Bünde und weniger an freiwillig erfolgten Beitritten.30 Von den die HJ betreffenden drei gesetzlichen Bestimmungen, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs erlassenen wurden, legte allerdings erst die letzte eine Pflichtmitgliedschaft aller 10- bis 18-jährigen Jungen und Mädchen fest. Das erste dieser Gesetze betraf Schirachs offizielle Ernennung zum Jugendführer des Deutschen Reiches am 17. Juni 1933 durch Hitler; es verlieh seinem Amt hohe Priorität, ohne es allerdings in den Rang eines Ministeriums zu erheben.31 Schirach konnte patriotische Appelle veröffentlichen und psychologische Tricks einsetzen, z. B. Gruppendruck fördern. Dies bildete eine starke Triebfeder für unorganisierte deutsche Kinder und Jugendliche, der HJ beizutreten; aber direkt zum Beitritt zwingen konnte er die Unorganisierten nicht. Als Nächstes bestimmte das Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936: „Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefasst.“ Wunschdenken kam hier als gesetzliche Bestimmung daher; verwirklicht war dieses Vorhaben nicht. Allerdings trug das Gesetz sehr dazu bei, in Deutschland die Illusion, Schirach sei im Recht, zu verbreiten und so den Gruppendruck unter den Jugendlichen zu verstärken.32 Das vom 25. März 1939 datierende dritte Gesetz verkündete: „Alle Jugendlichen vom 10. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr sind verpflichtet, in der Hitler-Jugend Dienst zu tun.“33 Angesichts des bevorstehenden Kriegs hielt Hitler es für angezeigt, die HJ stärker zur Vorbereitung auf den Wehrmachtsdienst zu nutzen, und das war ohne Zwang nicht zu machen. Diese drei aufeinander folgenden administrativen Maßnahmen spiegeln sich in den Wachstumszahlen der Hitler-Jugend wider. Nach eigenen Angaben verzeichnete die HJ Ende 1933 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche oder 30,5 Prozent der gesamten Altersgruppe in ihren Reihen. Ende 1937 war diese Zahl auf 64 Prozent gestiegen, und Anfang 1939 erreichte die Zahl der Mitglieder – zweifellos aufgrund des im März erlassenen Gesetzes – kurzzeitig respektable 98,1 Prozent.34 Mit seiner – für die Anfangsjahre des ‘Dritten Reiches’ typischen – Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik hatte Schirach also, ganz wie geplant, einen nicht zu übersehenden Erfolg.

Auf die örtlichen HJ-Gruppen wirkte sich diese Entwicklung unterschiedlich aus. In 80 von 137 Volksschulen im Raum Vechta (Norddeutschland) waren im Juli 1934 alle der 10- bis 14-jährigen Schüler der letzten vier Klassen in der HJ; in den restlichen Schulen lag die Erfolgsrate bei mindestens 80 Prozent.35 Etwas weiter südlich, im Raum Lippe, vermochten die Schulen zu etwa der gleichen Zeit kaum die Hälfte der Schüler für die Hitler-Jugend zu gewinnen.36 In einer Hamburger Berufsschule verteilten Parteivertreter im Juni 1935 Handzettel mit der Frage, „Warum bist Du nicht Mitglied?“, weil nur sieben von 20 Schülern der HJ angehörten.37 In Baden lag die HJ-Mitgliedsrate im Oktober desselben Jahres in den Berufsschulen bei unter 80, in den Gymnasien hingegen bei über 90 und in den Volksschulen bei knapp 90 Prozent.38 In der Nähe der norddeutschen Stadt Braunschweig (die schon immer eine Nazi-Hochburg gewesen war) konnten im Februar 1936 acht Gymnasien stolz auf HJ-Mitgliedsraten von 94 bis 99 Prozent verweisen, während im katholischen Bayern in den Volks- und Handelsschulen nur 44 Prozent Schirachs Aufruf folgten.39 In ganz Württemberg waren knapp ein Jahr vor dem Zwangsgesetz vom März 1939 89,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler aller Schularten HJ-Mitglied; die höchste Mitgliedsrate verzeichneten die Gymnasien, die niedrigste die Berufsschulen, und die der Volksschulen lag irgendwo dazwischen.40

Diese Zahlen sind zwar beachtlich, zeigen aber auch, dass nicht alle Schularten gleich hohe Beitrittsraten zur HJ verzeichneten und dass religiöse und regionale Unterschiede für die Beitrittswilligkeit der Kinder und Jugendlichen eine Rolle spielten. Wie einzelne Fallgeschichten erhärten, war die Mitgliedsrate in den Gymnasien tendenziell hoch, weil die HJ-Führung – im Gegensatz zu ihren auf die unteren Schichten abzielenden Sprüchen in der Zeit vor 1933 – nun ältere und sozial arriviertere Schüler umwarb, die als Führer für zwei bis drei Jahre jüngere Schüler in Frage kamen. Dieser Anreiz fehlte in den Volksschulen, denn dort hatten die Schüler, die mit 14 Jahren abgingen, ihre anschließende Lehre oder Arbeitsstelle im Kopf, was wenig Platz für HJ-Interessen ließ. In den Berufsschulen war diese Situation noch prononcierter, weil nicht wenige der Schüler schon im Berufsleben standen.41

Bis März 1939 ließ die teilweise durchlässige HJ-Mitgliederstruktur Fluktuation zu. Wenn junge Deutsche sich gegen einen Beitritt entschieden, riskierten sie offensichtlich gesellschaftliche bzw. berufliche Nachteile. Einer der sich trotzdem so entschied, war der spätere Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll in Köln, der 1933 16 Jahre alt war: „In die HJ konnte ich einfach nicht gehen und ging nicht rein, und das war’s.“42 Der von örtlichen HJ-Gruppen ausgeübte Beitrittsdruck wurde häufig mit Hilfe der Eltern, vor allem der Mutter, zurückgewiesen, und in katholischen Gegenden unterstützte nicht selten auch der ortsansässige Geistliche die Anti-HJ-Haltung.43 Einige Mädchen, die im Sommer 1936 im bayerischen Weildorf die Teilnahme an BDM-Abenden verweigerten, führten als Grund die fehlende elterliche Erlaubnis, kirchliche Verpflichtungen oder ihre Müdigkeit nach einem harten Arbeitstag auf dem Feld an.44 Manche Jungen und Mädchen blieben der HJ fern, weil sie sich dort langweilten, die Lieder nicht mochten, die Übungen und das Marschieren zu anstrengend fanden oder weil sie sich nicht mit den Gruppenführern bzw. -führerinnen vertrugen, die kaum älter als sie selbst waren.45 Eine NS-Publikation deutet auf einen anrüchigeren Grund hin: In der BDM-Geschichte Ursel und ihre Mädel will sich ein neues Mitglied namens Marga nicht integrieren. Sie hält sich nicht an die Reinlichkeitsvorschriften des BDM und ist nur an dummen Streichen interessiert. Wenn man ihr sagt, dass sie sich benehmen soll, streckt sie die Zunge heraus, und das geht so lange, bis die Scharführerin ihr die Uniform und BDM-Abzeichen wegnimmt. Marga macht auf der Stelle kehrt, stürmt hinaus, schlägt die Tür hinter sich zu und lässt sich nie wieder blicken.46 Die Bereitschaft entsprechend konditionierter HJ-Mitglieder, Außenseiter als Feinde der NS-Gemeinschaft abzustempeln, findet sich schon in frühen Jahren und gibt einen Vorgeschmack auf die nachfolgenden Ereignisse.

Da HJ-Mitglieder einfach gehen konnten, wenn sie verärgert waren, sollten sie durch drohende soziale und politische Sanktionen davon abgehalten werden. Zumindest theoretisch sollten z. B. Gymnasiasten, die der HJ fernblieben, nicht zur Reifeprüfung – und damit auch nicht zum Universitätsstudium – zugelassen werden. Berufsschüler sollten in so einem Fall keine Lehrstelle erhalten und auch keine Erbhofbauern werden dürfen. Und in politischer Hinsicht drohte denjenigen, die der HJ fernblieben, für alle Zukunft von der Mitgliedschaft in der NSDAP und sämtlichen ihrer Unterorganisationen ausgeschlossen zu werden. Das alles sollte letztlich auf eine „politische Ächtung und Verbannung aus dem öffentlichen Leben“ hinauslaufen.47 Doch schon 1936 wurden diese Klauseln angesichts des Arbeitskräftemangels bedeutungslos, denn sie hätten die Kriegswirtschaft hemmen können; und alle jungen Leute, deren Abneigung so groß war, dass sie die HJ mieden, hätten sich ohnehin davor geekelt, in einem Nazistaat ein öffentliches Amt zu bekleiden.

Selbst nach der Jugendverordnung vom März 1939 entsprachen die Anwesenheitszahlen bei der HJ nicht dem, was man erwartete, da zu viele Jugendliche nach eigenem Gutdünken kamen und gingen oder der HJ erst gar nicht beitraten.48 Hilfestellung erhielt die HJ-Führung im November 1939 durch die Festlegung, zur Durchsetzung ihrer Bestimmungen amtliche Unterstützung in Anspruch nehmen zu dürfen. Das bedeutete, dass die HJ sich an Orts- und Kreisbehörden, z. B. an den zuständigen Landrat, und schließlich auch an die Polizei wenden konnte.49 Ab da bemühte sich die HJ, das Problem unzulässigen Fernbleibens auf zwei Ebenen anzugehen. Hatten Jungen oder Mädchen beispielsweise drei HJ-Versammlungen geschwänzt, konnten sie von der örtlichen Polizei einen ganzen Sonntag lang (damit sie keinen Schulunterricht versäumten) bei Wasser und Brot eingesperrt werden. Soweit die Eltern verantwortlich zu machen waren, konnten NS-Kreisleiter damit drohen, ihnen Zuwendungen der ‘Volkswohlfahrt’ so lange zu verwehren, bis ihre Kinder brav zur HJ gingen.50

In den folgenden Monaten versuchten viele HJ-Gruppen, zumal auf dem Lande, diese Möglichkeiten zu nutzen, waren dabei aber unterschiedlich erfolgreich.51 Tatsächlich bezweifelten die Justiz und andere Behörden die Wirksamkeit der zur Verfügung stehenden Sanktionen, und das nicht zuletzt wegen des damit verbundenen Papierkriegs.52 Die im Alltag gemachten Erfahrungen gaben ihnen Recht. In Biberach bei Ulm gingen z. B. eines Sonntags im April 1941 mehrere HJ-Mitglieder lieber zur Kirche als zu dem für jenen Morgen extra angesetzten Appell. Sie wurden darin nicht nur von ihren Eltern, sondern praktisch von der gesamten ortsansässigen Bevölkerung unterstützt, von der es hieß, sie vertrete „den Standpunkt, dass die Jungen in die Kirche gehören, da am Nachmittag genug Zeit ist, um die Appelle abzuhalten“.53 Nur in seltenen Fällen scheinen junge „Wiederholungstäter“ tatsächlich festgenommen, vor Gericht gestellt und bestraft worden zu sein.54 Und dementsprechend war im ganzen Reich keine wesentliche Veränderung der Situation zu erkennen. Manchenorts wurde ähnlich wie im bayerischen Landkreis Landsberg Mitte 1942 festgestellt, dass „schon seit 2–3 Jahren kein HJ-Dienst mehr durchgeführt“ worden war.55

Obwohl derartige Vorfälle im Hinblick auf das gesamte Reich nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen zu sein scheinen, störten sie die HJ-Führung so sehr, dass sie beschloss, zur Durchsetzung der allgemeinen HJ-Dienstpflicht Heinrich Himmler in seiner Eigenschaft als Reichsführer der SS und der Polizei (darunter auch der Gestapo) um Hilfe zu bitten. Mit der Verordnung zur Jugenddienstpflicht vom 24. November 1942 legte Himmler viel härtere Regeln fest, deren Durchführung aber keinen großen Verwaltungsaufwand erforderte. Die Polizei wurde ermächtigt, sogleich gegen die Eltern eines Übeltäters vorzugehen und eine Geld- oder Haftstrafe gegen sie zu vollstrecken. Alternativ konnten die Jugendlichen zur Verantwortung gezogen werden. Auch ihnen drohten auf eine Eilanordnung der HJ hin Geld- oder Haftstrafen; sie konnten sogar als „gemeinschaftsfremde Asoziale“ bzw. nicht resozialisierbare „Verbrecher“ von der Kriminalpolizei oder – noch schlimmer – der Gestapo in besonderen Gewahrsam genommen werden.56 Von nun an diente die Jugenddienstpflicht-Verordnung als Grundlage für weit rigorosere Versuche, der Verweigerung des HJ-Dienstes Einhalt zu gebieten, vor allem in Verbindung mit der größten sozialen Strafe, die die HJ zu vergeben hatte: dem Ausschluss.57 All das konnte jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass die Anwesenheitszahlen bei der HJ selbst auf dem Höhepunkt des Krieges keineswegs perfekt waren.58

Junge Deutsche, die den Mut aufbrachten, sich der Eingliederung in die HJ zu widersetzen, taten das häufig nicht bloß, weil sie sich in der HJ langweilten oder deren nervtötende Dienstabläufe oder lästige Appelle verabscheuten. Viele waren soweit Individualisten, dass sie es aus eigenem Antrieb ablehnten, sich in die von der HJ-Führung für alle Mitglieder vorgesehene stereotype Form pressen zu lassen, die keine Normabweichung und keinerlei Eigenheit zuließ. Im Einklang mit den nationalsozialistischen Vorstellungen von einer zukünftigen Elite, aus deren Reihen man für sämtliche Regierungsebenen viele skrupellose politische Führer benötigte, war das idealisierte Selbstbild der HJ erstickend gleichförmig und gleichzeitig kämpferisch-exklusiv.59 Diese Gleichförmigkeit oder Uniformität zeigte sich nicht nur an den für die Jungen vorgesehenen kurzen bzw. langen schwarzen Hosen und braunen Hemden oder an den dunkelblauen Röcken und weißen Blusen der Mädchen, sondern auch an dem militärisch anmutenden, streichholzkurzen Haarschnitt der Jungen bzw. an den langen oder zur Gretchenfrisur eingerollten Zöpfen der Mädchen.60 In einem spezifisch deutschen Rahmen definierte sich die ideologisch rassistische Hitler-Jugend aus praktischen Gründen einfach über Volkslieder, Leben im Freien und Körperertüchtigung – im angeblichen Gegensatz zum ‘dekadenten’ internationalen Judentum, amerikanisch geprägten Filmen und Musikarten wie Jazz oder auch zu modernen internationalen Kunstformen.61

Selbst zu Zeiten offiziell angeordneter, allgemeiner HJ-Dienstpflicht – als sich die meisten Mitglieder, genau wie Hermann Graml und Margarete Hannsmann, gerne an den kultischen und sportlichen Aktivitäten der HJ beteiligten – gab es also Jugendliche, und zwar Mädchen wie Jungen, die anders waren und sich eigene Gedanken machten. Aus Protest gegen die erstickende Enge verweigerten sie sich der staatlichen Jugenddienstpflicht. Dabei handelten sie meist allein und wurden nur manchmal von Eltern oder Freunden unterstützt. Beispielsweise ließ sich ein Junge im norddeutschen Rendsburg mit Einverständnis seines Vaters die Haare wachsen und riskierte schon allein dadurch die totale Konfrontation mit seinen HJ-Führern.62 Der spätere Schriftsteller Max von der Grün lehnte die fordernde HJ ab, weil sein Vater inhaftiert war; der spätere Germanistikprofessor Peter Wapnewski war als Junge von amerikanischem Jazz und Swing gefesselt und sorgte deshalb für ein gefälschtes ärztliches Attest, das ihm das Fernbleiben von der HJ ermöglichte.63 Ein junger Frankfurter, der lieber ins Kino als zu HJ-Versammlungen ging, änderte die Altersangabe auf seinem HJ-Ausweis, um Erwachsenenfilme ansehen zu können.64 In Hamburg riskierte ein besonders sensibles Mädchen den Ausschluss aus dem BDM, weil sie dessen Inhalte als bloßes Geschwätz empfand, nachdem sie Bilder von Emil Nolde, George Grosz und Bauhaus-Mitgliedern gesehen hatte, die 1937 in der Ausstellung für ‘entartete’ Kunst als abschreckende Beispiele gezeigt wurden.65 Die Hollywoodfilm- und Jazz-Liebhaberin Karma Rauhut sah sich lieber Eleanor Powell und Clark Gable an, als sich mit ihren BDM-Kameradinnen zu treffen. Und die von ihren Eltern in sozialdemokratischem Geist erzogene Rosemarie Heise erfand genau wie Wapnewski ein ärztliches Attest, um zu Hause bleiben und heimlich BBC-Sendungen hören zu können.66 Der bekannte Hitler-Biograph Joachim C. Fest, der schon mit 17 Jahren dem ‘Führer’ und seinem NS-Regime kritisch gegenüberstand, ging erst gar nicht zur HJ. Als er 1941 eine kleine Hitler-Karikatur in die Schulbank ritzte, drohte ihm nicht nur der Schulverweis, vielmehr fasste auch die Hitler-Jugend Maßnahmen ins Auge. Der seinem Sohn wohlgesonnene Vater nahm den Jungen daraufhin unverzüglich vom Berliner Leibniz-Gymnasium und zog mit der Familie ganz im Stillen nach Freiburg um.67 In den zwölf Jahren zwischen den hoffnungsvollen Anfängen 1933 bis zum katastrophalen Ende 1945 widersprachen solche – wenn auch seltenen – Ausnahmen dem Bild vom uniformen Monopol der Hitler-Jugend, das deren Führer ständig verbreiteten. Und wenn es auch nur wenige Fälle gewesen sein mögen, so bildeten sie doch die Basis für weitere Probleme, mit denen die HJ in wachsendem Maße konfrontiert war. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass es der Hitler-Jugend, zuerst unter Schirachs wachsamen Augen und dann unter Axmann, gelang, den bei weitem größeren Teil der deutschen Jugend im Alter von 10 bis 18 Jahren unter ihre Fittiche zu bekommen.

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