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Kapitalismus als Religion Walter Benjamin und Max Weber

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Unter den 1985 von Ralph Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser in Band VI der Gesammelten Schriften herausgegebenen Dokumenten Walter Benjamins befindet sich ein besonders dunkler, aber erstaunlich aktueller Text: Kapitalismus als Religion. Er ist drei oder vier Seiten lang und enthält sowohl Anmerkungen als auch bibliografische Hinweise; der Text ist dicht, paradox, manchmal hermetisch und nicht leicht zu entziffern. Da er nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, hielt es Benjamin natürlich auch nicht für nötig, ihn lesbar und verständlich zu machen. Die folgenden Bemerkungen sind ein partieller Interpretationsversuch, der eher auf Hypothesen als auf Gewissheiten beruht und bestimmte „Grauzonen“ bewusst ausspart.

Der Titel des Fragments ist direkt aus Ernst Blochs 1921 veröffentlichtem Buch Thomas Münzer als Theologe der Revolution entliehen. Am Ende des Calvin gewidmeten Kapitels erkennt Bloch in der Lehre des Genfer Reformators eine Manipulation, die den „vollkommenen Abfall vom Christentum, ja Elemente einer neuen ‚Religion‘: des Kapitalismus als Religion und Mammonskirche brachte“.1

Wir wissen, dass Benjamin dieses Buch gelesen hat, denn in einem Brief an Gershom Scholem vom 27. November 1921 schreibt er: „Die vollständige Korrektur vom ‚Münzer‘ wurde mir neulich bei seinem [Blochs] ersten Besuch hier überreicht und ich habe zu lesen begonnen“.2

Das Fragment scheint also nicht, wie von den Herausgebern angegeben, „bis um Mitte 1921“, sondern eher „Ende 1921“ verfasst worden zu sein. Nebenbei gesagt teilte Benjamin keineswegs die These seines Freundes vom calvinistisch-protestantischen Verrat am wahren Geist des Christentums.3

Benjamins Text ist offensichtlich von Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus inspiriert. Dieser Autor wird zweimal zitiert: zunächst im Korpus des Dokuments, dann in den bibliographischen Anmerkungen, wo auch die 1920 erschienene Ausgabe der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie erwähnt wird, sowie das 1912 erschienene Werk von Ernst Troeltsch Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, das in der Frage nach dem Ursprung des Kapitalismus Thesen vertritt, die mehr oder weniger mit denen Webers identisch sind. Allerdings geht Benjamins Argumentation, wie wir sehen werden, weit über Weber hinaus, und vor allem ersetzt er dessen „wertfreien“ Ansatz durch eine heftige antikapitalistische Anklage.

„Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken“. Mit dieser kategorischen Aussage beginnt das Fragment. Es folgt ein Verweis auf, aber auch eine Distanzierung von Weber: „Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen.“ Später im Text taucht derselbe Gedanke wieder auf, aber in etwas abgeschwächter Form, im Grunde näher am Weberschen Argument: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.“ Das ist gar nicht so weit entfernt von der Schlussfolgerung der Protestantischen Ethik! Bahnbrechender ist der Gedanke der religiösen Natur des kapitalistischen Systems selbst: Das ist eine viel radikalere These als die von Weber, auch wenn sie auf vielen Elementen seiner Analyse aufbaut. Benjamin fährt fort: „Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.“ Ein seltsames Argument! Inwiefern sperrt ihn diese Beweisführung in das kapitalistische Netz ein? Der Punkt wird nicht „später“ behandelt, sondern sofort, in einem formgerechten Nachweis des religiösen Charakters des Kapitalismus: „Drei Züge jedoch sind schon in der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar.“ Benjamin zitiert Weber nicht mehr, die drei Punkte greifen jedoch die Ideen und Argumente des Soziologen auf, wobei sie ihnen sozial und politisch, aber auch philosophisch (theologisch?) eine neue, unendlich kritischere, radikalere Tragweite geben – die im krassen Gegensatz zu Webers These der Säkularisierung steht.

„Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung.“4

Die utilitaristischen Praktiken des Kapitalismus – Kapitalinvestitionen, Spekulationen, Finanzoperationen, Börsenmanöver, Kauf und Verkauf von Waren – sind das Äquivalent eines religiösen Kults. Der Kapitalismus verlangt kein Bekennen zu einem Glauben, einer Doktrin oder einer „Theologie“; was zählt, sind die Handlungen, die aufgrund ihrer sozialen Dynamik kultischen Praktiken gleichkommen. Benjamin, ein wenig im Widerspruch zu seiner Argumentation über die Reformation und das Christentum, vergleicht diese kapitalistische Religion mit dem ursprünglichen Heidentum, das ebenfalls „unmittelbar praktisch“ und ohne „transzendente“ Ansprüche ist.

Aber was erlaubt ihm, kapitalistische Wirtschaftspraktiken mit einem „Kult“ gleichzusetzen? Benjamin erklärt dies nicht, aber ein paar Zeilen weiter verwendet er den Begriff „des Verehrenden“; wir können also annehmen, dass der kapitalistische Kult bestimmte Gottheiten umfasst, die Gegenstand der Anbetung sind. Zum Beispiel: „Vergleich zwischen den Heiligenbildern verschiedner Religionen einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits“. Geld in Papierform wäre somit Gegenstand eines ähnlichen Kultes wie die Heiligen der „gewöhnlichen“ Religionen. Interessanterweise vergleicht Benjamin in einer Passage der Einbahnstraße Banknoten, die den Kapitalismus „in seinem heiligen Ernst“ widerspiegeln, mit der „Fassadenarchitektur der Hölle“.5 Es sei daran erinnert, dass am Tor – oder der Fassade – von Dantes Hölle zu lesen ist Lasciate ogni speranza, voi ch‘entrate [„Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet“]; nach Marx sind dies die Worte, die der Kapitalist an den Eingang der Fabrik schreibt, an die Arbeiter gerichtet. Wir werden später sehen, dass für Benjamin die Verzweiflung der religiöse Zustand der Welt im Kapitalismus ist.

Das Papiergeld ist jedoch nur eine Erscheinungsform einer viel grundlegenderen Gottheit im kapitalistischen Kultsystem: das Geld, der Gott Mammon, oder, in Benjamins Worten, „Plutos als Gott des Reichtums“. In der Bibliografie des Fragments wird eine virulente Passage gegen die religiöse Macht des Geldes erwähnt: Sie findet sich im Buch Aufruf zum Sozialismus des jüdisch-deutschen anarchistischen Denkers Gustav Landauer, das 1919, kurz vor der Ermordung seines Autors durch konterrevolutionäre Soldaten, zum zweiten Mal veröffentlicht wurde. Auf der Seite, die in Benjamins bibliographischem Eintrag angegeben ist, schreibt Landauer:

„Fritz Mauthner (Wörterbuch der Philosophie) hat gezeigt, daß das Wort ‚Gott‘ ursprünglich identisch ist mit dem Wort Götze, und daß beides der ‚Gegossene‘ heißt. Gott ist ein von den Menschen gemachtes Erzeugnis, das Leben gewinnt, Leben der Menschen an sich zieht und schließlich mächtiger wird als die Menschheit.

Der einzige Gegossene, der einzige Götze, der einzige Gott, den die Menschen je leibhaft zustande gebracht haben, ist das Geld. Das Geld ist künstlich und ist lebendig, das Geld zeugt Geld und Geld und Geld, das Geld hat alle Kräfte der Welt.

Wer aber sieht nicht, wer aber sieht heute noch immer nicht, daß das Geld, daß der Gott nichts anderes als der aus dem Menschen herausgetretene und zum lebendigen Ding, zum Unding gewordene Geist ist, daß es der zum Wahnsinn gewordene Sinn unseres Lebens ist? Das Geld schafft nicht Reichtum, das Geld ist Reichtum; ist Reichtum für sich; es gibt keinen Reichen als Geld.“6

Wir wissen zwar nicht, inwieweit Benjamin Landauers Überlegung teilte, aber wir können diese in der Bibliographie erwähnte Passage als Beispiel dafür nehmen, was er unter „kultischen Praktiken“ des Kapitalismus verstand. Aus marxistischer Sicht ist das Geld nur eine – und nicht die wichtigste – Erscheinungsform des Kapitals, aber Benjamin stand 1921 dem romantischen und libertären Sozialismus eines Gustav Landauer – oder eines Georges Sorel – viel näher als Karl Marx und Friedrich Engels. Erst später, im Passagen-Werk, greift er auf Marx zurück, um den fetischistischen Kult der Ware zu kritisieren und die Pariser Passagen als „Tempel des Warenkapitals“ zu analysieren. Dennoch gibt es eine gewisse Kontinuität zwischen dem Fragment von 1921 und den Notizen des unvollendeten großen Buches aus den 1930er Jahren.

Geld – Gold oder Papier –, Reichtum, Waren wären also einige der Gottheiten oder Götzen der kapitalistischen Religion, und ihr „praktischer“ Gebrauch im kapitalistischen Alltag stellt eine Gesamtheit kultischer Äußerungen dar, außerhalb derer „nichts eine Bedeutung hat“.

Der zweite Zug des Kapitalismus hängt mit dieser Konkretion des Kults zusammen: „die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci („ohne Traum noch Gnade“). Es gibt da keinen ‚Wochentag‘, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.“ Es ist wahrscheinlich, dass Benjamin sich von der Protestantischen Ethik und ihren Analysen der methodischen Verhaltensregeln des Calvinismus/Kapitalismus anregen ließ, von der permanenten Kontrolle über die Lebensführung, die sich insbesondere durch die „religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit“7 ausgeübt wird. Unermüdlich, unablässig und gnadenlos: Webers Idee wird von Benjamin fast wortwörtlich übernommen; übrigens nicht ohne Ironie, wenn er die Dauerhaftigkeit von „Festtagen“ anführt: In Wirklichkeit haben die puritanischen Kapitalisten die meisten katholischen Feiertage, die als Anreiz zum Müßiggang galten, abgeschafft. In der kapitalistischen Religion wird also jeden Tag „sakraler Pomp“ entfaltet, d.h. die Rituale der Börse oder der Fabrik, während die Verehrenden mit Angst und „äußerster Anspannung“ den Anstieg oder Fall der Aktienkurse verfolgen. Die kapitalistischen Praktiken kennen keine Pause, sie beherrschen das Leben der Menschen von morgens bis abends, von Frühling bis Winter, von der Wiege bis zur Bahre. Wie Burkhardt Lindner zu Recht bemerkt, entlehnt das Fragment von Weber die Vorstellung vom Kapitalismus als „eines dynamisch unaufhaltsamen, global expandierenden“8 Systems, dem man sich nicht entziehen kann.

Das dritte Merkmal des Kapitalismus als Religion ist schließlich sein schulderzeugender Charakter: „Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ Man kann sich fragen, was in Benjamins Augen ein Beispiel für einen „entsühnenden Kult“ wäre, der im Gegensatz zum Geist der kapitalistischen Religion stünde. Da das Christentum im Fragment als vom Kapitalismus untrennbar betrachtet wird, könnte es sich um das Judentum handeln, dessen wichtigster Feiertag, wie man weiß, Jom Kippur ist, im Allgemeinen als „Tag der Vergebung“ bezeichnet, dessen genauere Übersetzung aber „Tag der Sühne“ wäre. Dies ist jedoch nur eine Hypothese und nichts im Text deutet darauf hin.

Benjamin fährt mit seiner Anklage gegen die kapitalistische Religion fort: „Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen[,] um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren.“ In diesem Zusammenhang bezieht sich Benjamin auf das, was er als die „dämonische Doppeldeutigkeit des Wortes Schuld“, d.h. sowohl „Schuld“ (dette) als auch „Schuld“ (culpabilité, die französische Übersetzung „faute“ ist unzureichend). Nach Burkhard Lindner gründet die historische Perspektive des Fragments in der Prämisse, dass im System der kapitalistischen Religion die „mythische Schuld“ nicht von der wirtschaftlichen Schuld zu trennen ist.9

Ähnlich argumentiert Max Weber, der mit den beiden Bedeutungen von Pflicht spielt: Für den puritanischen Bourgeois ist es „bedenklich, […] etwas zu verausgaben zu einem Zweck, der nicht Gottes Ruhm, sondern dem eigenen Genuß gilt“; man wird also sowohl schuldig als auch verschuldet gegenüber Gott. „Der Gedanke der Verpflichtung des Menschen gegenüber seinem anvertrauten Besitz, dem er sich als dienender Verwalter […] unterordnet, legt sich mit seiner erkältenden Schwere auf das Leben. Je größer der Besitz wird, desto schwerer wird […] das Gefühl der Verantwortung dafür, ihn zu Gottes Ruhm […] durch rastlose Arbeit zu vermehren.“10 Benjamins Formulierung, „dem Bewußtsein sie einzuhämmern“, entspricht den von Weber analysierten puritanischen kapitalistischen Praktiken.

Aber mir scheint, dass Benjamins Argument allgemeiner ist: Nicht nur der Kapitalist ist schuldig und „verschuldet“ sich gegenüber seinem Kapital: die Schuld ist universell. Die Armen sind schuldig, weil sie kein Geld verdient haben und verschuldet sind: Da der wirtschaftliche Erfolg für den Calvinisten ein Zeichen der Erwählung und des Seelenheils ist (vgl. Max Weber), ist der Arme per definitionem verdammt. Die Schuld ist umso universeller, als sie im kapitalistischen Zeitalter von Generation zu Generation weitergegeben wird, wie eine von Benjamin in der Bibliografie zitierte Passage von Adam Müller – einem romantisch-konservativen Sozialphilosophen, einem gnadenlosen Kritiker des Kapitalismus – zeigt: „das ökonomische Unglück, welches in früheren Zeiten von dem Geschlecht, das es betraf, unmittelbar getragen […] wurde und dann mit den Leidenden dahin starb, sich nunmehr, seitdem alle Tat und Handlung in Golde ausgedrückt wird, in schweren und immer schwerer werdenden Schuldenmassen auf die Nachwelt wälzt“.11

Gott selbst ist also in diese allgemeine Schuld verwickelt: Wenn die Armen schuldig und von der Gnade ausgeschlossen sind, und wenn sie im Kapitalismus zur sozialen Ausgrenzung verurteilt sind, dann ist es „der Wille Gottes“, oder, der kapitalistischen Religion entsprechend, der Wille der Märkte. Nimmt man die Sicht dieser armen und verschuldeten Menschen ein, ist natürlich Gott der Schuldige, und mit ihm der Kapitalismus. In jedem Fall ist Gott untrennbar mit dem Prozess der universellen Schuld verbunden.

Bis hierher können wir den Weberschen Ausgangspunkt des Fragments in seiner Analyse des modernen Kapitalismus als einer Religion erkennen, die aus einer Transformation des Calvinismus entstanden ist; es gibt jedoch eine Passage, in der Benjamin dem Kapitalismus eine transhistorische Dimension zuzuschreiben scheint, die nicht mehr die von Weber – oder selbst von Marx – ist:

„Der Kapitalismus hat sich – wie nicht allein am Calvinismus, sondern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu erweisen sein muß – auf dem Christentum parasitär im Abendland entwickelt, dergestalt, daß zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die seines Parasiten, des Kapitalismus, ist.“

Benjamin liefert diesen Beweis nicht, aber in der Bibliografie verweist er auf Der Geist der Bürgerlich-Kapitalistischen Gesellschaft (1914), ein Buch, dessen Autor, ein gewisser Bruno Archibald Fuchs – vergeblich – in einer Polemik gegen Weber zu beweisen versucht, dass die Ursprünge der kapitalistischen Welt bereits in der Askese der Mönchsorden und in der päpstlichen Zentralisierung der mittelalterlichen Kirche zu finden seien.12

Das Ergebnis des „monströsen“ Prozesses der kapitalistischen Schuldzuweisung ist die Verallgemeinerung der Verzweiflung: „Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei.“

Benjamin fügt, sich auf Nietzsche beziehend, hinzu, wir seien Zeugen des „Durchgang[s] des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn.“ Warum wird Nietzsche in dieser erstaunlichen, poetisch und astrologisch inspirierten Diagnose erwähnt? Wenn Verzweiflung die radikale Abwesenheit jeglicher Hoffnung ist, wird sie durch das amor fati perfekt repräsentiert, das der Philosoph mit dem Hammer in Ecce Homo predigt: „Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen […], sondern es lieben.“13

Zwar ist von Kapitalismus bei Nietzsche nicht die Rede. Es ist der Nietzscheaner Max Weber, der mit Resignation – aber nicht unbedingt mit Liebe – die Unausweichlichkeit des Kapitalismus als Schicksal der Moderne feststellen wird. Dies ist der Sinn der letzten Seiten der Protestantischen Ethik, wo Weber mit pessimistischem Fatalismus feststellt, dass der moderne Kapitalismus „heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt.“ Er vergleicht diesen Zwang mit einer Art Gefängnis, in dem das System der rationalen Warenproduktion den Einzelnen einschließt: „Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‘, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden.“14 Für den Ausdruck stahlhartes Gehäuse gibt es verschiedene Interpretationen oder Übersetzungen: für die einen ist es eine „Zelle“, für die anderen ein Schneckenhaus, wie es die Schnecke auf ihrem Rücken trägt. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Weber das Bild von dem englischen Puritaner Bunyan übernommen hat, der vom „Eisenkäfig der Verzweiflung“ spricht.15

Haus der Verzweiflung, Stahlhartes Gehäuse, Eisenkäfig der Verzweiflung (Iron cage of despair): Von Weber bis Benjamin befinden wir uns in einem gleichen semantischen Feld, das die unbarmherzige Logik des kapitalistischen Systems beschreibt. Doch warum erzeugt es Verzweiflung? Auf diese Frage lassen sich verschiedene Antworten vermuten.

Zunächst weil der Kapitalismus, wie wir gesehen haben, sich selbst als die natürliche und notwendige Form der modernen Wirtschaft definiert und folglich keine andere Zukunft, keinen Ausweg, keine Alternative zulässt. Seine Kraft ist, wie Weber schrieb, von „überwältigendem Zwang“, und er stellt sich als ein unausweichliches Schicksal (fatum) dar.

Das System reduziert die große Mehrheit der Menschheit auf „Verdammte dieser Erde“, die ihr Heil nicht von Gott erwarten können, da dieser selbst in ihrem Ausschluss von der Gnade eingeschlossen ist. Sie sind schuld an ihrem eigenen Schicksal und haben keine Hoffnung auf Erlösung. Der Gott der kapitalistischen Religion, das Geld, hat kein Erbarmen mit denjenigen, die kein Geld haben.

Der Kapitalismus ist der „Ruin des Seins“, er ersetzt das Sein durch das Haben, menschliche durch kommerzielle Quantitäten, menschliche Beziehungen durch monetäre Beziehungen, moralische oder kulturelle Werte durch den einzigen Wert, der etwas gilt, das Geld. Dieses Thema taucht in dem Fragment nicht auf, wird aber von den antikapitalistischen, sozialistischen und romantischen Quellen, die Benjamin in seiner Bibliografie anführt, ausführlich entwickelt: Gustav Landauer, Georges Sorel – sowie, in einem konservativen Kontext, Adam Müller. Es ist anzumerken, dass der von Benjamin verwendete Begriff Zertrümmerung mit dem Begriff verwandt ist, der in These IX von Über den Begriff der Geschichte verwendet wird, um die durch den Fortschritt verursachten Ruinen zu beschreiben: Trümmer.

Da die „Schuld“ der Menschen, ihre Verschuldung gegenüber dem Kapital ständig und anwachsend ist, ist keine Hoffnung auf Sühne erlaubt. Der Kapitalist muss sein Kapital ständig vermehren und erweitern, um nicht von seinen Konkurrenten verdrängt zu werden, und der Arme muss sich Geld leihen, um seine Schulden zu bezahlen.

Entsprechend der Religion des Kapitals liegt das Heil allein in der Intensivierung des Systems, in der kapitalistischen Expansion, in der Anhäufung der Waren, aber das macht die Verzweiflung nur noch größer. Das scheint Benjamin mit der Formel anzudeuten, die aus der Verzweiflung einen religiösen Weltzustand macht, „aus dem die Heilung zu erwarten sei“.

Diese Hypothesen widersprechen sich nicht und schließen sich auch nicht aus, aber es gibt keinen ausdrücklichen Hinweis im Text, um eine Entscheidung zu treffen. Benjamin scheint allerdings Verzweiflung mit dem Fehlen eines Auswegs zu verbinden:

„Geistige (nicht materielle) Ausweglosigkeit in Armut, Vaganten- Bettel- Mönchtum. Mönche bietet keinen geistigen Ausweg. Ein Zustand der so ausweglos ist, ist verschuldend. Die ‚Sorgen‘ sind der Index dieses Schuldbewußtseins von Ausweglosigkeit. ‚Sorgen‘ entstehen in der Angst gemeinschaftsmäßiger, nicht individuell-materieller Ausweglosigkeit.“

Die asketischen Praktiken der Mönche sind kein Ausweg, weil sie die Vorherrschaft der Religion des Kapitals nicht in Frage stellen. Rein individuelle Auswege sind eine Illusion, und ein gemeinschaftlicher, kollektiver, sozialer Ausweg wird von der Religion des Kapitals verboten. Doch für Benjamin, überzeugter Gegner der Religion des Kapitals, müsste ein Ausweg gefunden werden. Er prüft oder betrachtet kurz einige der Vorschläge für einen „Austritt aus dem Kapitalismus“:

1)Eine Reform der kapitalistischen Religion: Dies ist angesichts ihrer lückenlosen Perversität unmöglich. „Die Entsühnung […] ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie.“ Die Absage ist kein Ausweg, denn sie ist rein individuell: Sie hindert die Götter des Kapitals nicht daran, weiterhin ihre Macht über die Gesellschaft auszuüben. Was die Reform anbelangt, so lautet die Passage in Gustav Landauers Buch auf der von Benjamin zitierten Seite folgenden: „Der Gott [das Geld] ist jetzt schon so gewaltig und allmächtig geworden, daß er nicht mehr durch eine bloße sachliche Umgestaltung, durch eine Reform der Tauschwirtschaft, abzuschaffen ist.“16

2)Nietzsches Übermensch. Für Benjamin ist er keineswegs ein Gegner, sondern „der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt“. […] Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ‚Sprung‘ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die […] Steigerung. […] Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt, hat Nietzsche präjudiziert.“17

Wie ist dieser recht obskure Absatz zu interpretieren? Eine mögliche Interpretation ist, dass der Übermensch die Hybris, den Machtkult und die unendliche Ausdehnung der kapitalistischen Religion nur verstärkt; er stellt die Schuld und Verzweiflung der Menschen nicht in Frage, er überlässt sie ihrem Schicksal. Es ist ein weiterer Versuch von selbsternannten Ausnahmemenschen oder einer aristokratischen Elite, aus dem eisernen Kreis der kapitalistischen Religion auszubrechen, aber er reproduziert lediglich deren Logik. (Dies ist nur eine Hypothese, und ich gestehe, dass mir diese Kritik an Nietzsche ziemlich rätselhaft bleibt).

3)Der Marxsche Sozialismus: „Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld sind (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs), Sozialismus.“ Allerdings waren Benjamins Kenntnisse des Werkes von Marx zu dieser Zeit recht begrenzt. Wahrscheinlich übernahm er Gustav Landauers Kritik am Marxismus, indem er ihm vorwarf, eine Art Kapitalsozialismus etablieren zu wollen, insbesondere durch die Zentralisierung von Produktion und Kredit: „Das ist die wahre Lehre von Karl Marx“ – so der anarchistische Denker – „wenn der Kapitalismus ganz und gar über die Reste des Mittelalters gesiegt hat, ist der Fortschritt besiegelt und der Sozialismus so gut wie da“.18

Es ist jedoch nicht klar, worauf sich die „Schuld“ in dem Fragment bezieht: Schuld, d.h. sowohl „Schulden“ als auch „Schuld“. In jedem Fall bleibt der Marxsche Sozialismus für Benjamin in den Kategorien der kapitalistischen Religion gefangen und stellt daher keinen Ausweg dar. Wie wir wissen, änderte er seine Meinung zu diesem Thema erheblich, nachdem er 1924 Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein gelesen hatte.

4)Erich Unger und der Ausstieg aus dem Kapitalismus: „Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung Unger, Politik und Metaphysik S. 44.“19 Der Begriff Wanderung ist verwirrend und die französische Übersetzung, zu wörtlich, ist unzureichend. In der Tat bedeutet es nicht „zu Fuß gehen“, sondern eher Migration oder Ortsveränderung. Erich Unger verwendet den Begriff „Wanderung der Völker“.

Auf Seite 44 des von Benjamin zitierten Buches schreibt er: „So gibt es nur ein logisches Entweder-Oder: reibungsloser Verkehr oder Wanderung der Völker. […] Der Sturmlauf gegen das ‚kapitalistische System‘ muß ewig vergeblich sein […] Um gegen den Kapitalismus überhaupt etwas auszurichten, ist es vor allem unerläßlich, aus seinem Wirkungsbereich herauszutreten, denn innerhalb dessen vermag er jede Gegenwirkung aufzusaugen.“ Es gehe darum, den Bürgerkrieg durch Völkerwanderung zu ersetzen.20

Es ist bekannt, dass Benjamin mit den „metaphysisch-anarchistischen“ Ideen Erich Ungers sympathisierte und ihn in seinem Briefwechsel mit Scholem wohlwollend erwähnte. Wir wissen jedoch nicht, ob er diesen „Ausstieg aus der Sphäre des Kapitalismus als gültigen Ausweg betrachtete. Das Fragment gibt uns keine Informationen darüber.21

5)Der libertäre Sozialismus von Gustav Landauer, Autor vom Aufruf zum Sozialismus. Auf der Seite, die auf die von Benjamin im Fragment zitierte Seite folgt, schreibt der anarchistische Denker:

„Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn; Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wiedererfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung. […] Die Sozialisten also wollen wieder in Gemeinden zusammentreten […].“22

Der von Landauer verwendete Begriff „Umkehr“ ist genau derjenige, den Benjamin verwendet, um Nietzsche zu kritisieren – dessen Übermensch „Umkehr, Sühne“ verweigert und ohne Umkehr in den Himmel kommt – und Marx, dessen Sozialismus nur ein „nicht umkehrender Kapitalismus“ ist. Man kann also vermuten, dass Landauers Sozialismus, der eine Art „Umkehr“ oder „Rückkehr“ impliziert – zur Natur, zu menschlichen Beziehungen, zu einem Gemeinschaftsleben – der Ausweg aus dem „Haus der Verzweiflung“ ist, das von der kapitalistischen Religion errichtet wurde. Landauer war nicht weit davon entfernt zu glauben, wie Erich Unger, dass es notwendig sei, die Sphäre der kapitalistischen Herrschaft zu verlassen und sozialistische Kommunen auf dem Lande zu schaffen.

Dies stand jedoch für ihn nicht im Widerspruch zur sozialrevolutionären Perspektive: Kurz nach Erscheinen des Buches beteiligte er sich als Volkskommissar für Erziehung an der kurzlebigen Münchner Räterepublik (1919) – ein mutiges Engagement, das ihn das Leben kostete.

In einem interessanten Kommentar zum Begriff der Umkehr in Benjamins Fragment interpretiert Norbert Bolz diesen als Antwort auf Webers Argument, dass der Kapitalismus ein unausweichliches Schicksal sei. Für Benjamin bedeutet Umkehr gleichzeitig Unterbrechung der Geschichte, Metanoia, Sühne, Läuterung und… Revolution.23

Natürlich sind dies nur Vermutungen; das Fragment selbst zeigt keinen Ausweg und begnügt sich damit, mit Schrecken und offensichtlicher Feindseligkeit die erbarmungslose und „monströse“ Logik der Religion des Kapitals zu analysieren.

In Benjamins Schriften der 1930er Jahre, insbesondere im Passagen-Werk, wird diese Problematik des Kapitalismus als Religion durch die Kritik des Warenfetischismus und des Kapitals als mythische Struktur ersetzt. Zweifellos lässt sich die Verwandtschaft zwischen beiden Ansätzen aufzeigen – zum Beispiel in der Bezugnahme auf religiöse Aspekte des kapitalistischen Systems –, doch die Unterschiede sind nicht weniger offensichtlich: Der theoretische Rahmen ist nun eindeutig der des Marxismus.

Die Webersche Problematik scheint aus dem von Benjamin konstruierten Theoriefeld zu verschwinden; in den Thesen Über den Begriff der Geschichte findet sich jedoch ein letzter, impliziter, durchaus erkennbarer Bezug zu Weberschen Thesen. In seiner Kritik am Kult der industriellen Arbeit in der deutschen Sozialdemokratie (These XI) schreibt Benjamin: „Die alte protestantische Werkmoral feierte in säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre Auferstehung.“24

Inspiriert von Max Weber, aber weit über die Argumente des Soziologen hinausgehend, gehört das Fragment von 1921 zu einer Reihe, die man als antikapitalistische Lesarten von Weber bezeichnen könnte. Es handelt sich weitgehend um eine „Entführung“:

Webers Haltung gegenüber dem Kapitalismus ging nicht über eine gewisse Ambivalenz, eine Mischung aus „axiologischer Neutralität“, Pessimismus und Resignation hinaus. Einige seiner untreuen „Schüler“ nutzten jedoch die Argumente der Protestantischen Ethik, um einen virulenten Antikapitalismus sozialistisch-romantischer Prägung zu entwickeln.

Der erste in dieser Reihe ist Ernst Bloch, der in den Jahren 1912-1914 zum Freundeskreis von Max Weber in Heidelberg gehörte. Wie wir gesehen haben, war es Bloch, der 1921 in seinem Thomas Münzer den Ausdruck „Kapitalismus als Religion“ prägte, für den er den Calvinismus verantwortlich macht. Der aufgerufene Zeuge der Anklage ist kein anderer als … Max Weber: Bei den Anhängern Calvins, „als sich durch die abstrakte Arbeitspflicht an sich die Produktion zäh und systematisch mehrte, wirkte Calvins lediglich auf die Konsumtion übertragenes Armutsideal kapitalbildend, schuf der Sparzwang seine Verpflichtung gegenüber dem Vermögen als einer abstrakt verselbständigten, um ihrer selbst willen zu mehrenden Größe. […] Dermaßen sah sich, wie Max Weber glänzend zeigte, die aufblühende kapitalistische Wirtschaft vollends befreit, aller urchristlichen Skrupel und nicht minder noch der relativen Christlichkeit mittelalterlicher Wirtschaftsideologie los und ledig.“25

Webers „wertfreie“ Analyse der Rolle des Calvinismus bei der Entstehung des kapitalistischen Geistes wird in den Worten des vom Katholizismus faszinierten Marxisten Ernst Bloch zu einer scharfen Kritik des Kapitalismus und seiner protestantischen Ursprünge. Wie wir gesehen haben, hat sich Benjamin zweifellos von diesem Text inspirieren lassen, ohne jedoch Blochs Sympathie für „die Skrupel des Urchristentums“ oder das „relativ christliche“ Moment der Wirtschaftsideologie des mittelalterlichen Katholizismus zu teilen.

Auch in Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein gibt es Passagen, die Weber zitieren, um seine Kritik an der kapitalistischen Verdinglichung zu untermauern. Wenige Jahre später berief sich der Freudomarxist Erich Fromm in einem Aufsatz von 1932 auf Weber und Sombart, um die Verantwortung des Calvinismus für die Zerstörung der Idee des Rechts auf Glück anzuprangern, die für vorkapitalistische Gesellschaften – wie die mittelalterliche katholische Kultur – typisch ist, und für ihre Ersetzung durch bürgerliche ethische Normen: die Pflicht zu arbeiten, zu erwerben und zu sparen.26

Benjamins Fragment von 1921 ist somit ein Beispiel für jene „erfinderischen“ Lesarten – sie stammen alle von romantisch inspirierten deutschjüdischen Denkern –, die Webers soziologisches Werk und insbesondere Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus als Munition für einen umfassenden Angriff auf das kapitalistische System, seine Werte, seine Praktiken und seine „Religion“ gebrauchen.

PS. Es wäre interessant, Benjamins Kapitalismus als Religion mit der Arbeit lateinamerikanischer Befreiungstheologen zu vergleichen, die, ohne das Fragment von 1921 zu kennen, seit den 1980er Jahren eine radikale Kritik des Kapitalismus als götzendienerische Religion entwickelt haben. Hugo Assmann zufolge manifestiert sich die kapitalistische „Wirtschaftsreligion“ in der impliziten Theologie des Wirtschaftsparadigmas selbst und in der täglichen Andachtspraxis des Fetischismus. Die explizit religiösen Konzepte, die in der Literatur des „Marktchristentums“ zu finden sind – zum Beispiel in den Schriften der neokonservativen religiösen Strömungen – haben nur eine ergänzende Funktion. Die Theologie des Marktes, von Malthus bis zum jüngsten Dokument der Weltbank, ist eine grausame Opfertheologie: Sie verlangt von den Armen, dass sie ihr Leben auf dem Altar der wirtschaftlichen Götzen opfern.27 Ähnliche Argumente finden sich im Werk des jungen brasilianischen Theologen (koreanischer Herkunft) Jung Mo Sung, der in seinem Buch The Idolatry of Capital and the Death of the Poor (1989) eine ethisch-religiöse Kritik am internationalen kapitalistischen System entwickelt, dessen Institutionen – wie der IWF oder die Weltbank – Millionen armer Menschen in der Dritten Welt dazu verdammen, sich durch die unerbittliche Logik der Auslandsverschuldung dem Gott des „globalen Marktes“ zu opfern. Für die kapitalistische Religion „gibt es kein Heil außerhalb des Marktes. […] Dank dieser Sakralisierung des Marktes ist es nicht möglich, an die Befreiung im Verhältnis zu diesem System und als Alternative zu denken. Alle Türen zur Transzendenz sind geschlossen, sowohl in historischer Hinsicht (ein anderes Gesellschaftsmodell jenseits des Kapitalismus) als auch in Bezug auf die absolute Transzendenz (es gibt keinen anderen Gott jenseits des Marktes).28

Die Analogien – wie auch die Unterschiede – zu Benjamins Ideen sind offensichtlich. Im letzten Kapitel dieses Bandes werde ich darauf zurückkommen.

ad Walter Benjamin

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