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Das Aufräumen der kaputten Mühle dauerte länger, als Jacob gedacht hatte. Er hatte das gesamte Ausmaß des Schadens nicht ansatzweise erkannt, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Im Nachhinein fanden sie noch unzählige Beschädigungen und herumliegende Bauteile. Und nicht alles ließ sich so einfach beseitigen, wie der Haufen Scheiße. Sie brachten einige Tage damit zu, verkeilte Holzstücke aus den Getrieben zu entfernen, immer vorsichtig, um die noch brauchbaren Bauteile dabei nicht zu beschädigen. Die kaputten Teile sammelten sie hinter der Mühle. Die wollten sie zunächst behalten, falls sie teilweise bei der Reparatur zum Ausbessern verwendbar waren.

Heute Morgen hatte ein Bote der Stadt ein Schreiben überbracht. Darin wurde ihnen noch einmal mitgeteilt, was der Ratsherr von Zölder im Rathaus bereits gesagt hatte: Sie sollten die Mühle wieder aufbauen, auf ihre eigenen Kosten und bei weiter laufendem Pachtzins. Es wurde erneut ausdrücklich betont, dass es für die Stadt Oldenburg unerheblich war, wie sie das anstellten. Der amtliche Stempel unter dem Schreiben grinste Jacob höhnisch an, nachdem er Herold vorgelesen hatte.

In einer Pause – sie hatten gerade die Aufräumarbeiten abgeschlossen und wollten mit dem Wiederaufbau anfangen – begann Herold wieder von dem Brief zu sprechen.

»Dieser verdammte Ratsherr«, sagte er, bestimmt bereits zum zehnten Mal. »Ich bin mir nicht sicher, ob der das überhaupt so einfach bestimmen darf.« Und nach einer kurzen Pause. »Aber was wollen wir dagegen tun?«

Jacob kaute weiter auf seinem Brot und antwortete nicht. Die Frage hatte Herold schon mehrfach gestellt. Sie war nicht an Jacob gerichtet.

»Wir werden uns nach Arbeit umsehen müssen.«

Jacob horchte auf. Das war seit der Zerstörung der Mühle das erste Zukunftsweisende, das Herold von sich gab. Aber Jacob erkannte sogleich einige Probleme, die dieses Vorhaben mit sich brachte.

»Nach was für Arbeit? Wir können doch nichts anderes außer der Arbeit des Müllers.«

»Oh, das glaube nicht. Ein Müller kann so manches. Ich habe erfahren, dass die Gerber noch Leute suchen. Notfalls müssen wir uns halt als Tagelöhner verdingen.«

Als Gerber! Jacob hatte schon viel von dieser Arbeit gehört. Schwere Tierhäute musste man dabei schleppen, ständig panschte man im Wasser herum und war ätzenden Dämpfen und Gasen ausgesetzt. Darauf konnte er gut verzichten.

»Aber als Tagelöhner wird man schlecht bezahlt. Wenn wir davon leben wollten, müssten wir viele Stunden dort arbeiten. Wer repariert dann die Mühle?«

Herold, dessen Gesichtsausdruck seit Tagen verdrießlich war, schaute tatsächlich noch verdrießlicher drein.

»Ich weiß, dass das ein Problem ist und dafür habe ich bisher keine Lösung. Doch fest steht, dass wir Geld brauchen. Wir haben zwar ein paar Reserven, doch die reichen nur, um uns ein paar Tage über Wasser zu halten. Wir müssen eine Arbeit annehmen. Vielleicht nimmst auch nur du eine an und wir leben dann beide davon, während ich mich mit Friedhelms Hilfe um die Mühle kümmere.«

»Das reicht doch niemals. Als Tagelöhner könnte ich doch nicht so viel verdienen, dass wir beide davon leben und auch noch Friedhelm bezahlen könnten.«

»Dann müssen wir uns eben einschränken.« Herold wurde lauter, bis er fast schrie. »Verdammt, ich weiß es doch auch nicht.«

Er sprang auf und schleuderte seinen Blechteller zu Boden. Die paar Krumen, die sich noch darauf befunden hatten, kullerten in alle Richtungen. Mit geballten Fäusten ging er ein Stück auf den See zu.

Jacob hatte vor Schreck aufgehört zu kauen. Wenn Herold, der sonst immer die Ruhe und Besonnenheit selbst war, so aus der Haut fuhr, musste es in seinem Inneren schlimm zugehen. Er stellte seinen Teller ebenfalls auf den Boden und ging Herold nach.

»Wir kriegen das schon irgendwie hin«, sagte er, obwohl er nicht daran glaubte. »Du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung.«

Herolds Fäuste entspannten sich. Nach einer Weile drehte er sich langsam zu Jacob um. Sein Gesichtsausdruck war jetzt weder wütend noch verdrießlich. Er schaute Jacob prüfend an.

»Entschuldige«, sagte er. »Du musst auch einiges durchmachen und dann benehme ich mich derart.« Er fasste Jacob bei den Schultern. »Ich verspreche dir, dass das jetzt anders wird. Und noch eins: Mache dir keine Sorgen, ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist.«

Er sah zur Mühle, ließ Jacob los und schritt mit entschlossener Miene die Anhöhe hoch.

»Los, komm her«, rief er Jacob zu. »Wir wollen die Mühle wieder aufbauen.«

Jacob war verwirrt. Was sollte das heißen: Er gab ihm nicht die Schuld? Warum sollte er ihm auch die Schuld geben? Was konnte er dafür, dass diese Kerle, Rosas Bruder und ihr Verehrer, die Mühle kaputt gemacht hatten?

Jacob zog einen Stapel Papiere aus seiner Hasenfelltasche und eilte mit einem Stück Brot in der Hand aus der Mühle hinaus. Schon im Gehen biss er eine große Ecke ab. Auf der Rückseite des Gebäudes ließ er sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden nieder und fummelte sein hölzernes Tintenfass und den Federkiel aus seiner Tasche hervor. Nebenbei verschlang er das Brot so hastig, als würde es ihm sonst jemand wegnehmen. Nachdem er den letzten Krümel auf diese Weise hinuntergeschluckt hatte, stürzte er sich auf den Text, der sich bereits auf einigen Seiten befand, indem er die Blätter auf seinen Oberschenkel legte und mit dem Kiel in der linken Hand Geschriebenes durchstrich oder Notizen an den Rand hinzufügte. Seine Haare, die ihm aufgrund seines vorgeneigten Kopfes ständig ins Gesicht fielen, strich er mit einer unbewussten Geste immer wieder hinter die Ohren. Als er die Überarbeitung des vorhandenen Textes beendet hatte, sah er eine Weile auf den See. Er spürte dabei einen absoluten inneren Frieden.

Und plötzlich wusste er, wie es weiterging in der Geschichte. Aufgeregt wendete er sich den leeren Blättern zu und schrieb eilig auf, was ihm eingefallen war.

Dieser Vorgang – auf den See blicken, anschließend schreiben – wiederholte sich einige Male, mindestens eine Viertelstunde lang. Dann zuckte er vor Schreck zusammen, als Herold, den er nicht hatte kommen hören, ihn unvermittelt ansprach.

»Tut mir leid, Jacob, aber du musst mir jetzt weiter helfen.«

Jacob sah zu seinem Bruder auf. Er stand keine zwei Meter von ihm entfernt und machte ein Gesicht, als wollte er sich für die Unterbrechung entschuldigen. Dann wandte er sich ab und verschwand hinter der Rundung der Mühlenwand.

Seit diesem Wutausbruch vor zwei Tagen war er wieder ganz der Alte. Er war voller Tatendrang, wobei sich alles nur um die Mühle drehte. Von der Tagelöhnerarbeit war keine Rede mehr gewesen, aber es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das Thema erneut aufkam. Schließlich hatten sie bald kein Geld mehr. Jacob hatte jetzt kaum noch Gelegenheiten zu schreiben. Wenn er erst mal von morgens bis abends als Tagelöhner schuften würde, hätte er gar keine Zeit mehr dafür.

Mit zusammengepressten Lippen raffte er die Blätter zusammen und verstaute sie wieder in der Tasche. Wenn er am Abend nicht zu kaputt war, hatte er vielleicht noch einmal Gelegenheit zu schreiben. Er erhob sich und folgte Herold in die Mühle, im Gedanken weiterhin bei seiner Geschichte. Herold stand dort an einem großen, hölzernen Zahnrad. Doch das bemerkte Jacob nur nebenbei, während er über den Fortgang der Handlung nachdachte.

»Willst du mir jetzt vielleicht mal helfen?«, hörte er Herold schließlich sagen. Jacob sah ihn an. Sein Bruder lächelte und schüttelte leicht den Kopf. »Aha, bist du jetzt wieder in dieser Welt?« Er klopfte auf das Zahnrad. »Nun pack endlich mit an.«

Das Zahnrad sah aus, als wäre eine Herde Rinder darüber hinweg gelaufen.

»Na, das hat wohl auch schon bessere Tage erlebt«, sagte Jacob.

»Ja, das ist das alte Zahnrad, das zerstört war. Ich habe es einigermaßen repariert, um Geld zu sparen, weil wir noch genug andere Ersatzteile kaufen müssen. Hoffentlich hält es eine Weile durch.«

Jacob hatte sich dem Zahnrad genähert, begriff aber nicht, was er machen sollte. Herold lächelte weiterhin mild. Er wusste, wie unbeholfen Jacob sich anstellte, wenn es um technische Dinge ging.

»Du musst es dort anfassen und mit anheben«, erklärte er. »Wir stecken es dann auf diese Welle, die ich schon dafür vorbereitet habe.«

Er deutete auf ein zylindrisches Bauteil, das in Jacobs Brusthöhe aus dem Durcheinander der anderen Bauteile hervorstand. Oben auf diesem Bauteil saß etwas Rechteckiges drauf. Jacob fragte sich gerade, was es wohl damit auf sich hatte, da erläuterte es Herold schon für ihn.

»Diese Einkerbung in der Nabe«, er deutete auf eine eckige Aussparung, die oberhalb des runden Lochs in der Mitte des Zahnrads war, »müssen wir auf dieses rechteckige Teil schieben. Dann haben die beiden Bauteile eine Verbindung, mit der die Kraft des Windes übertragen werden kann.«

»Aha«, sagte Jacob. Da sein technisch begabter Bruder es sagte, musste es wohl stimmen, auch wenn ihm nicht klar war, wie das funktionieren sollte.

Zusammen wuchteten sie das Zahnrad hoch. Während Herold es scheinbar mühelos anheben konnte, musste Jacob sich enorm anstrengen. Sie schoben es, wie Herold vorher beschrieben hatte, auf diese sogenannte Welle. Für Jacob waren Wellen etwas ganz anderes. Er musste an den See denken und wie ihm beim Beobachten der Wellen immer gute Ideen für seine Geschichte kamen.

»So, jetzt musst du von außen gegendrücken. Dann kann ich es befestigen.«

Jacob tat, wie ihm geheißen und stemmte sich gegen das Zahnrad. Herold holte eine große Holzscheibe und schob sie ebenfalls über die Welle. Anschließend nahm er einen Bolzen und schlug ihn mit einem Hammer genau vor der Scheibe in ein Loch, das Jacob erst jetzt bemerkte, quer durch die Welle.

»Du kannst loslassen«, sagte Herold und grinste über das ganze Gesicht. »Gut gemacht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Kraft doch in deinem kleinen Körper steckt.«

Jacob trat von dem Zahnrad zurück.

»Findest du?« Er war noch gedanklich bei seinem See. »Sag mal, warum heißt das Ding eigentlich Welle? Wir haben doch eine Windmühle und keine Wassermühle. Was haben wir also mit Wellen zu tun?«

Herold lachte auf.

»Das Bauteil wird nunmal so genannt, auch wenn wir mit Wasser nichts zu tun haben. Wenn gerade mal wieder Flaute ist, wünsche ich mir allerdings manchmal schon, wir hätten eine Wassermühle.«

»Ja, das ist schon zu dumm. Wir haben einen ganzen See voller Wasser mit richtigen Wellen vor der Haustür und können ihn nicht nutzen«, lachte Jacob, denn er konnte sich über solche Wortspielereien köstlich amüsieren. »Vielleicht sollten wir, statt zu hoffen, dass dem lieben Gott nicht die Puste ausgeht, lieber das Wasser mit Eimern auf die Flügel schütten.«

Mit einem Schlag wurde Herold ganz ernst.

»Was ist?«, gluckste Jacob weiter. »Kannst du solche Scherze über deine geliebte Mühle nicht ertragen?«

Herolds Augen verengten sich. Er sah aus, als hätte er gerade auf den See geschaut und einen Einfall gehabt.

»Mit Eimern sagst du? ... hmm.« Er sah zu Boden und machte einige Schritte durch die Mühle, als suchte er etwas, das ihm runtergefallen war. Dann wandte er sich wieder Jacob zu. »Wer sagt, dass wir das Wasser im See nicht nutzen können?«

Endlich saß Jacob mal wieder an dem kleinen Tisch in seiner Kammer und schrieb an seiner Geschichte. Seitdem Herold ihn am Vortag zum Helfen in die Mühle geholt hatte, war es das erste Mal, denn abends war er so müde, dass er es gerade noch so ins Bett geschafft hatte. Er hoffte, dass er heute ein wenig durchhalten würde, bevor die Konzentration nachließ. Eine Seite hatte er immerhin schon geschrieben und die Ideen sprudelten momentan nur so aus ihm heraus, auch ohne die Wellen des Sees.

Mit seiner Bemerkung über die Nutzung des Wassers hatte er sich schön was eingebrockt. Permanent redete Herold seitdem von seinem Einfall. Woraus der genau bestand, wusste Jacob immer noch nicht. Er wurde aus Herolds Geschwafel über künstliche Becken und Becherwerke einfach nicht schlau. Es war nur zu hoffen, dass dieses Hirngespinst bald wieder der Vergangenheit angehörte und Herold zur Normalität zurückkehrte. Dann würde das unverständliche Gerede endlich ein Ende haben.

Nur kurz ließ Jacob sich von diesen Gedanken unterbrechen. Die Ideen für den Handlungsfortgang flogen ihm nur so zu und die Formulierungen flossen wie von selbst aus der Feder. Als Jacob alles um ihn herum ausgeblendet hatte und mit Geist und Seele in seinem kreativen Schöpfungsprozess abgetaucht war, holte ihn plötzlich ein Klopfen an der Tür an die Oberfläche zurück. Schlagartig befand er sich wieder in der Realität. Er musste ein paar mal blinzeln, bevor er das bemerkte und sogleich die Augenbrauen zusammenzog.

»Ja, was ist denn?«, rief er dann ärgerlich.

Herold trat herein. Als Jacob sah, dass es ihm unangenehm war, ihn beim Schreiben zu stören, konnte er ihm nicht mehr so richtig böse sein.

Das erinnerte ihn an eine Situation vor einigen Jahren, als er noch nicht mit in der Mühle gearbeitet hatte, er hatte etwa ein Jahr davor die Schule beendet. Damals hatte Herold ihn auch unterbrochen und ihm danach mitgeteilt, dass er nicht mehr länger nur schreiben durfte und stattdessen in der Mühle mithelfen musste. Für Jacob war eine Welt zusammengebrochen. Zu der Zeit glaubte er noch, dass er nur als Schriftsteller arbeiten könnte, so wie Goethe, und damit sein Geld verdienen. Heute, nach mehreren Werken, die er trotz der Mühlenarbeit nebenbei fertigstellen konnte, wusste er, dass das nicht so einfach war.

Na, hoffentlich war der heutige Anlass für die Störung nicht ein solch aufrührender.

»Wir müssen etwas besprechen«, sagte Herold. »Es geht um die Mühle.«

Oh nein, nicht schon wieder die Mühle. Jacob seufzte. Dann und wann musste er doch mal Ruhe vor der verdammten Mühle haben können.

»Und bring bitte deine Feder, Tintenfass und ein paar Blatt Papier mit«, ergänzte Herold.

»Na gut.« Er stand auf, griff nach den genannten Utensilien und folgte Herold in den Raum, den sie Esszimmer nannten, der aber auch für alle sonstigen Zwecke herhalten musste. Er setzte sich an den alten Tisch aus Kiefernholz, an dem Herold bereits saß.

»Gut«, begann Herold. »Du weißt ja bereits, dass du mich gestern auf eine Idee gebracht hat.«

»Wieso sollte ich das wissen?«, lachte Jacob. »Vielleicht, weil du seitdem von nichts anderem mehr sprichst?«

»Ja, ja, schon gut. Aber du wirst gleich verstehen, warum ich so begeistert bin. Diese Idee könnte für uns ein Ausweg aus der Situation sein, in der wir uns gerade befinden.«

Jacob konnte sich nicht vorstellen, wie das Wasser im See ihre Situation verbessern sollte.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte er und lehnte sich zurück.

Herold ignorierte seine vorlaute Art und begann zu erklären.

»Als du gestern meintest, dass man das Wasser aus dem See nutzen müsste und es mit Eimern auf die Flügel der Mühle schütten sollte, hatte ich eine Idee.«

»Ja, ja, ich weiß. Nun erzähl schon, welcher Art deine Idee ist. Aber möglichst so, dass man es auch verstehen kann.«

»Also: Wir werden das Wasser aus dem See schöpfen. Dazu bauen wir ein Becherwerk. Das sind viele Becher hintereinander, die mit einem Band verbunden sind. An diesem Band laufen sie über Räder. Auf der Oberseite sind sie mit dem geschöpften Wasser aus dem See gefüllt und auf der Unterseite kehren sie leer zum See zurück.«

Herold zog ein Blatt Papier heran, tunkte die Feder in die Tinte und malte versetzt zueinander zwei Kreise.

»Das sind die Räder.«

Die Kreise verband er mit geraden Linien.

»Das ist das Band, das um die Räder läuft.«

Oben und unten auf den Linien malte er viele kleine Halbkreise, die mit der runden Seite dem »Band« zugewandt waren.

»Hier haben wir die Becher ... und das ist das Wasser darin.«

In die Becher oberhalb des »Bandes« malte er kleine Wellenlinien.

Selbst Jacob konnte erkennen, dass es eine Art Riementrieb von der Seite darstellen sollte, auf dem rundherum diese Becher befestigt waren. Er konnte sich vorstellen, dass oben das Wasser in den Bechern blieb, während es unten rausfallen musste.

»Hm, ... aber wie wird das Wasser geschöpft? Muss sich das Ganze nicht irgendwie bewegen, damit es funktioniert?«

»Genau«, fuhr Herold fort. Er malte eine weitere, größere Wellenlinie oberhalb des unteren Rades. »Die untere Seite des Becherwerks muss im Wasser vom See eingetaucht sein. Die beiden Räder drehen sich. Dadurch werden die Becher vorwärts bewegt, schöpfen unten das Wasser aus dem See und schütten es oben wieder aus.«

»Aber wodurch drehen sich die Räder? Müssen wir dort kurbeln?«

»Natürlich nicht. Wir lassen die Räder von der Mühle drehen.«

»Von der Mühle?«

»Ja. Wenn wir Wind haben, hat die Mühle doch genug Kraft. Da macht es ihr nichts aus, dieses Becherwerk noch mit anzutreiben.«

Jacob kratzte sich am Kopf.

»Das verstehe ich nicht. Wie soll die Mühle die Räder drehen?«

Herold nahm ein neues Blatt Papier und malte die Mühle von der Seite.

»Bisher endete die Hauptantriebswelle, die man Königswelle nennt, direkt beim Mahlstein.« Er malte die Königswelle mit zwei senkrechten Strichen in die Mitte der Mühle und darunter den Mahlstein als liegendes Rechteck. »Wir werden den Mahlstein versetzen«, er malte ein Rechteck neben dem vorherigen, »verlängern die Königswelle weiter nach unten durch, sodass wir über Zahnräder den Mahlstein und beliebige andere Dinge antreiben können. Also auch das Becherwerk.« Unten an die verlängerte Königswelle malte er ein flaches, waagerechtes Rechteck und daran ein flaches, senkrechtes Rechteck, die wohl die Zahnräder darstellen sollten. An das senkrechte Rechteck ergänzte er zwei parallele Linien, die nach außerhalb der Mühle führten.

Herold schwieg, während Jacob eine ganze Weile auf die Zeichnung starren musste, bis er glaubte, alles verstanden zu haben. Die Königswelle reichte bis nach unten, dort wandelten Zahnräder die senkrechte in eine waagerechte Drehbewegung um, die wiederum das Rad vom Becherwerk antrieb.

»In Ordnung. Soweit habe ich begriffen. Jetzt musst du mir aber noch verraten, wozu es gut sein soll, das Wasser da oben auszuschütten. Willst du einen Gemüsegarten bewässern und zukünftig Kartoffeln und Wurzeln auf dem Markt verkaufen?«

Herold lachte.

»Wir haben doch den Hügel bei der Mühle. Dort hinauf bringen wir das Wasser«, sagte er.

»Willst du dort oben dein Gemüse anbauen?«

»Nein, dort oben bauen wir ein Becken, in dem wir das Wasser sammeln, wenn wir Wind haben.«

Jacob sah Herold mit offenem Mund an.

»Und wozu soll das wieder gut sein? Wenn du schwimmen willst, kannst du es doch auch direkt im See tun, ohne diesen Aufwand zu betreiben.«

Wieder lachte Herold.

»Weißt du denn immer noch nicht, was ich vorhabe? Wir hatten doch bisher oft Zeiten, in denen kein Wind wehte und die Mühle still stand. Das ist in Zukunft vorbei, zumindest so lange wir Wasser in dem Becken haben. Denn wenn wir nicht genug Wind haben, lassen wir einfach das gesammelte Wasser wieder den Hügel herunterlaufen und treiben damit die Mühle an.«

»Mit dem Wasser? Aber wir haben doch eine Windmühle.«

»Ja, das wird der schwierigste Teil. Dazu brauchen wir zusätzlich ein Wasserrad. Auf der einen Seite der Mühle holen wir das Wasser mit dem Becherwerk aus dem See und auf der anderen Seite führen wir es dem See wieder zu und treiben damit das Wasserrad an, welches den Mühlstein bewegt.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Jacob brauchte wieder eine Weile, bis er alles begriffen hatte.

»Verstehst du denn nicht?« Herold wurde langsam ungeduldig. »In Zukunft können wir bei Flaute mahlen, was bedeutet, dass wir unseren Ertrag erhöhen können.«

Jetzt war es Jacob, der lachen musste, als er den gesamten Umfang von Herolds Idee endlich verstand.

»Das ist ja grandios«, überschlug er sich. »Herold, du bist ein Genie.«

»Na ja, mal langsam. Diese Umbauten dauern leider viel länger als die einfache Reparatur. Wenn wir nebenbei noch einer Tagelöhnerarbeit nachgehen müssen, haben wir keine Kunden mehr, wenn wir damit fertig sind. Die sind dann zu anderen Mühlen abgewandert.«

Jacob musterte Herold. Er war noch nicht fertig mit seinen Ideen, das sah man ihm an. Irgendetwas hatte er noch auf Lager.

»In Ordnung, raus damit. Wie können wir dieses Problem lösen.«

»Also gut«, fuhr Herold fort. »Ich sagte eingangs, dass diese Idee der Ausweg aus unserer momentanen Situation sein könnte. Es sieht doch so aus, dass wir gerade keine Einnahmen durch die Mühle haben. Ein paar Tage halten wir es noch aus, aber dann müssen wir uns eine andere Arbeit suchen. Und wir müssen nicht nur unseren Lebensunterhalt bestreiten, sondern zusätzlich die Mühlenpacht zahlen und Ersatzteile zur Reparatur kaufen. Das bedeutet, dass wir sehr viel bezahlt arbeiten müssen und nur wenig Zeit für die Reparatur haben. Also wird das alles sehr lange dauern, sodass uns wohl tatsächlich irgendwann die Kunden abwandern.«

Herold machte eine Pause, damit Jacob das Gesagte verarbeiten konnte.

»Na gut«, meinte Jacob. »Wie kommen wir nun aus dieser Situation heraus?«

»Wenn wir die Mühle auf die Art umbauen, wie ich gerade beschrieben habe, werden wir danach mehr Einnahmen haben als bisher. Und diese Mehreinnahmen müssen wir beleihen. Wir müssen jemanden finden, der uns einen Kredit gibt, den wir später mit Zinsen zurückzahlen. Der Kredit muss so hoch sein, dass wir nicht gezwungen sind, eine andere Arbeit anzunehmen und zugleich noch zwei oder drei Hilfskräfte bezahlen können, die uns bei den Umbauten helfen. Auf diese Weise, denke ich, werden wir schneller fertig sein, als ohne Umbauten.«

»Das hört sich doch prima an«, begeisterte sich Jacob, der erleichtert war, keine Knochenarbeit bei den Gerbern verrichten zu müssen. Dann fiel ihm jedoch etwas ein. »Aber, die Mühle gehört uns doch nicht. Wir dürfen sie nicht einfach umbauen.«

»Auch darüber habe ich schon nachgedacht«, erwiderte Herold. »Jacob, was genau hat der Ratsherr von Zölder gesagt und geschrieben, wie wir die Mühle wieder aufbauen sollen?«

»Was meinst du?«

»Hier, das Schreiben.« Herold reichte ihm den Brief der Stadt über den Tisch. »Sieh es dir noch mal an. Was steht dort?«

Jacob las sich den Text erneut durch und dann ging ihm ein Licht auf.

»Dort steht, dass es egal ist, wie wir es machen.«

»Genau, der Stadt Oldenburg ist es egal, wie die Mühle aufgebaut wird. Und da nehmen wir den Ratsherrn beim Wort und bauen die Mühle nach unserem Ermessen wieder auf.« Nun zog Herold die Augenbrauen zusammen. »Ich sehe da eher ein anderes Problem: Woher bekommen wir das Geld?«

Jacob fiel ein, dass sie in Oldenburg für solche Zwecke seit zwei Jahren eine Einrichtung besaßen.

»Warum gehen wir nicht einfach zu unserer Ersparungscasse? Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde sie für solche Zwecke gegründet.«

»Hmm, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Eine gute Idee.« Herold kniff die Augen zusammen und kratzte sich am Kopf. »Wir müssen uns allerdings eine ziemlich große Summe leihen, und das, ohne irgendeine Sicherheit bieten zu können. Ich könnte mir vorstellen, dass ein privater Investor einfacher von unseren Plänen zu überzeugen wäre.«

»Wie viel Geld brauchen wir denn?« Jacob hatte nicht den geringsten Hauch einer Vorstellung, was die Umbauarbeiten kosten könnten.

»Na ja, allein das Wasser-Mühlenrad kostet 18 bis 20 Reichstaler. Dann ist es noch nicht mal zur Mühle transportiert und eingebaut. Die Anschaffung eines Mahlsteins, was ich für einen zweiten Mahlgang erwäge, wird bei etwa 3 Reichstalern liegen.« Während Herold aufzählte, welche Kosten entstehen würden, schrieb er die Zahlen untereinander auf das Papier. »Hinzu kommen die Arbeitslöhne für 2 bis 3 Gehilfen mit etwa 12 Grote je Mann und Tag, deren Verpflegung, unsere Verpflegung und sonstige Bedürfnisse, das alles für einen Zeitraum von schätzungsweise 4 Wochen. Dann brauchen wir noch Material für die Erweiterungen, Ersatzteile und den Pachtzins dürfen wir auch nicht vergessen. Vielleicht sollten wir auch einen kleinen Betrag für unerwartete Ausgaben einplanen.«

Herold hatte nun viele Zahlen untereinander auf dem Papier notiert. Er zog einen Strich darunter und ermittelte die Summe. Obwohl das Rechnen nicht gerade Jacobs bevorzugte Disziplin war, schwante ihm schon bei den Einzelbeträgen Böses, und er erwartete mit Spannung das Ergebnis. Als er es sah, pustete er mit aufgeblähten Wangen die Luft aus.

»90 Reichstaler!«, platzte er heraus, und er merkte selber, dass ihm der Schreck anzuhören war. »Das ist ja der Lohn von einem ganzen Jahr!«

»Wie ich schon erwähnte: Wir brauchen eine große Summe«, sagte Herold.

»Wer käme denn außer dieser Ersparungscasse in Frage, uns einen solchen Betrag zu leihen?«

Herold kratzte sich am Kopf und stand auf.

»Darüber habe ich mindestens genauso lange nachgedacht, wie über die Umbauten der Mühle. Und mir ist jemand eingefallen. Ein früherer Freund unseres Vaters.«

»Ein Freund von Bernhard?«

»Nein, ich meine nicht unseren Stiefvater, sondern unseren leiblichen Vater. Ich war damals noch ziemlich klein, aber wenn ich mich recht erinnere, beteiligte sich dieser Herr an allerlei Geschäften. Ein Versuch wäre es wert.«

Jacob sah seinen Bruder ungläubig an. Er hatte noch nie davon erzählt, dass er frühere Freunde ihres Vaters kannte. Und nun wollten sie einen solchen sogar um Geld bitten. Er war gespannt, wie das enden würde.

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller

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