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DIE SCHLEIEREULE

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Wir sind mit der Eule verbunden, und zwar nicht nur weil wir ihre Schönheit, ihre ausgeprägten Sinne und ihre beeindruckenden Jagdfähigkeiten bewundern. Das Band zwischen uns und dieser Spezies ist auch für die Eule wichtig. Sie hat sich an uns Menschen angepasst, um Seite an Seite mit uns zu leben. Die Verbundenheit zwischen uns hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, wie eine Ehe, wenn vielleicht auch keine ganz glückliche.

Als Jägerin von Wühlmäusen wurde die Schleiereule von den dichten Nagetierpopulationen angezogen, die auf den von uns Menschen angelegten Feldern ihr Zuhause fanden. Während die Eule im frühen 20. Jahrhundert jedoch noch ein häufiger Anblick auf britischen Feldern war, sieht man sie heute kaum noch. The Barn Owl Trust, eine britische Organisation, die sich dem Schutz der Schleiereule verschrieben hat, erklärt, dass die Ursachen für das Verschwinden des Raubvogels auf uns Menschen zurückzuführen sind: Veränderungen in der Landwirtschaft, die Zerstörung von Nist- und Schlafplätzen, der verstärkte Einsatz von giftigen Chemikalien sowie der Ausbau von Fernstraßen haben sich in ihrer verheerenden Kombination auf die empfindliche Schleiereule ausgewirkt. Es ist wahrscheinlich, dass es in Großbritannien nur noch knapp fünftausend Paare ihrer Art gibt.

Aber fangen wir von vorn an: Eulen gab es auf dieser Erde schon lange vor uns. Fossile Überreste der Raubtiere konnten auf ein Alter von 65 bis 56 Millionen Jahren datiert werden. Im Pleistozän verbreiteten sich Ornimegalonyx, riesige Schleiereulen, im gesamten Mittelmeerraum. Sie waren über einen Meter hoch, wogen doppelt so viel wie der heutige Uhu und erbeuteten große Nagetiere wie das Wasserschwein. Unsere menschlichen Vorfahren waren vermutlich fasziniert von den enormen Kräften der Vögel; unfähig, sich ihre unheimlichen Fähigkeiten mithilfe der Wissenschaft zu erklären, glaubten sie unter Umständen, dass die Eulen über eine Art übersinnliches Wissen verfügten, das sich ihnen entzog.

Die langen, leichten Flügel der Schleiereule haben sich für die Jagd in Weidelandschaften entwickelt, nicht in dichten Wäldern, wo einige Kurzflügler ihr Revier haben. Ursprünglich stammte die Schleiereule aus wärmeren Gebieten mit viel Trockenheit, doch als die Eisschichten vor zehn- bis zwanzigtausend Jahren Nordeuropa freigaben und sich die Menschen in größerer Zahl gen Norden ausbreiteten, folgte auch die Eule dieser Bewegung. Sie wurde von den Weiden angezogen, die wir Menschen mit dem Beginn der Landwirtschaft schufen, und fand später auf den Dach- und Heuböden von Bauernhöfen und in anderen menschengemachten Strukturen geschützte Plätze, wo sie ihr Nest errichten konnte. So begannen Homo sapiens und Tyto alba schon früh damit, sich sowohl ihre Futter- als auch ihre Schlafplätze zu teilen. Während sich die Ausbreitung der Eulen gen Norden zum Teil durch Klima- und Lebensraumveränderungen erklären lässt, trugen bestimmt auch wir Menschen einen nicht zu verachtenden Teil dazu bei. Die Schleiereule war auf den von uns geschaffenen Lebensraum angewiesen: Hier konnte sie leicht Unterschlupf finden und nachts im Tiefflug über die Felder gleiten, um im schwachen Schimmer des Mondes mit ihrem extrem sensiblen Gehör ihre Beute aufzuspüren.

Unsere leicht bewachsenen Weiden waren der perfekte Lebensraum für kleine Nagetiere, insbesondere für Feldmäuse, die Hauptnahrungsquelle der Eule. Seit mehr als tausend Jahren haben die Säugetiere zwischen unseren heimischen Gräsern, die extrem langsam verrotten und dadurch eine natürliche Strohschicht auf dem Boden bilden, Schutz gefunden – die Weiden stellten damit das ideale Jagdrevier für den Raubvogel dar. Diese einst häufigen Flächen sind heutzutage jedoch bedroht – durch einen immer intensiveren Ackerbau, mechanisierte Prozesse in der Landwirtschaft und den aggressiven Einsatz von Pestiziden.

Es gibt allerdings nicht nur schlechte Nachrichten: Die landwirtschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen und Schleiereulen haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Die Schleiereule ist mittlerweile weithin als Schädlingsbekämpferin akzeptiert; aber können Schleiereulen tatsächlich genauso viele Nagetiere aus unseren Feldern und Scheunen eliminieren wie der Einsatz von Chemikalien? Um diese Frage zu klären und der Schleiereule unter die Schwingen zu greifen, hat Mark Browning 2011 das Projekt Barn Owl/Rodent ins Leben gerufen. Das Projekt beschäftigt sich mit der Frage, ob es nachhaltiger ist, einen Befall durch Nagetiere mittels Eulen oder Rattengift zu bekämpfen. In Kalifornien war ein hundert Hektar großer Weinberg von der Taschenratte, einem gefräßigen Nagetier, okkupiert worden. Die extrem fruchtbaren Knabberer verursachten an den wertvollen Rebstöcken einen enormen wirtschaftlichen Schaden. Im Rahmen seines Projekts baute Browning Nistkästen für Eulen und brachte sie im Abstand von je fünfhundert Metern im Umkreis des Weinbergs an. Im darauffolgenden Jahr hatten die insgesamt 25 errichteten Nistkästen insgesamt 18 Schleiereulenpaare angezogen, die zusammen 66 Jungtiere zur Welt brachten. Browning berechnete, dass allein diese geringe Anzahl von Eulen im Jahr 2011 insgesamt 9.576 Nagetiere erbeutet hatte. Im Jahr 2012 verzehrte die wachsende Eulenpopulation etwa 15.204 Nagetiere – eine beachtliche Zahl. Die Eulen stürzten sich geradezu auf den Weinberg mit den Taschenratten, und das Ausmaß der durch die Nagetiere verursachten Schäden wurde erheblich reduziert.

Selbst wenn man die anfängliche Investition mit einrechnet, hat sich das Projekt innerhalb von zwei bis fünf Jahren amortisiert: Die ursprünglichen Kosten der kalifornischen Studie für das Anlegen der Nistkästen beliefen sich auf etwa sechstausend US-Dollar. Am Ende des zweiten Jahres beliefen sich die Kosten für jedes von den Eulen erbeutete Nagetier nach dieser Rechnung auf 0,24 Dollar pro Exemplar. Im weiteren Verlauf der Studie sanken die Kosten pro Nagetier so weit, dass sie nach einem Zeitraum von fünf Jahren gegen null gingen.

Als Alternative greifen viele Bauern zu Strychnin-Pellets, um des Befalls durch Nagetiere Herr zu werden. Strychnin kostet pro Anwendung mehrere Hundert Dollar, und es auf den Feldern zu verteilen, ist ein langwieriger und aufwendiger Prozess – der jedes Mal wiederholt werden muss, wenn sich die Nagetierpopulation wieder erholt hat. Keine Frage: Die Schleiereule ist in diesem Vergleich die Siegerin!

In Jordanien und Israel wurden ähnliche Projekte durchgeführt, die Eule wurde dabei für ihren Nutzen in Bezug auf eine nachhaltige Landwirtschaft gefeiert. Die bahnbrechenden Experimente haben gezeigt, dass die nützlichen Raubvögel eine natürliche Alternative zu Pestiziden sind.

In Großbritannien befindet sich die Schleiereule am nördlichsten Rand ihres Verbreitungsgebiets. In den schottischen Highlands und hoch im Norden ist es zu kalt, nass und windig für den zarten, wärmeliebenden Vogel. Das Gefieder der Eule ist nicht wasserdicht, und da sie über keinen öligen Schutz gegen Regen verfügt, kann sie nicht fliegen, wenn sie nass wird. Ist sie aufgrund des feuchten Wetters nicht in der Lage zu jagen, kann sie schnell verhungern oder an der Kälte sterben. Frost und gefrorener Boden im Winter, starke Regenfälle im Herbst, Überschwemmungen, starker Wind – all diese extremen und unvorhersehbaren Wetterbedingungen bedrohen das Überleben der Schleiereule. Als extrem leichter Vogel ist sie mit so wenig Körperfett ausgestattet, dass sie auf die Wärme und den Schutz unserer Dachbalken, das isolierende Stroh in unseren alten Scheunen angewiesen ist. Doch die letzten schlechten Winter haben die Nahrungssuche für die Eule zunehmend erschwert: Regen macht die Jagd unmöglich, Schnee und Eis treiben die Beute in den Untergrund oder dezimieren die Wühlmauspopulationen so stark, dass die Eulen verhungern. Als Wühlmausjägerin ist die Schleiereule gefährdet, denn ihre Beute unterliegt zahlenmäßig großen Schwankungen. Außerdem ist der Raubvogel extrem standorttreu und hat daher nicht einfach die Möglichkeit, sich ein neues Jagdrevier zu erschließen. Als Gewohnheitstier bleibt die Schleiereule fast ausnahmslos ihr ganzes Erwachsenenleben lang ein und demselben Gebiet treu; sogar nisten tut sie immer an der gleichen Stelle. Sie legt keine größeren Strecken zurück, allerhöchstens sucht sie sich ab und an einen neuen Schlafplatz. Durch ihre mangelnde Flexibilität hat die Schleiereule in der heutigen Zeit keine guten Überlebenschancen.

Im März waren mir die ersten Speiballen aufgefallen. Die unverdauten, wieder erbrochenen Nahrungsreste waren ungefähr kastaniengroß und lagen neben einigen weißen Sprenkeln verstreut unter der alten Eiche in der Nähe meines Hauses. Das konnte nur eins bedeuten: Hier war irgendwo eine Eule! Die Tage wurden länger, und meine Neugier wuchs. Schleiereulen fangen im späten Winter an, sich zu paaren, und suchen sich dann langsam einen geeigneten Nistplatz. In der Abgeschiedenheit ihrer Nisthöhle oder hoch oben im Gebälk einer alten Scheune geht die Balz zwischen den zwei Tieren dann weiter. Das ganze Frühjahr über putzen sich die Vögel gegenseitig und reiben ihre Wangen aneinander; das Männchen macht dem Weibchen Geschenke in Form von Wühlmäusen. Wenn das Vogelweibchen paarungsbereit ist und das Nahrungsangebot in ihrem Revier gut ist, fangen etwa 75 Prozent aller Schleiereulen zwischen März und August an zu brüten, manchmal findet man ihre Eier aber sogar schon im Januar. Gibt es im Lebensraum der Eulen nicht genügend Beutetiere, ist es wahrscheinlich, dass der Brutversuch fehlschlägt oder sogar ganz ausbleibt.

Oft ließ ich meinen Blick durch das Geäst der alten Eiche schweifen. Manchmal sah ich dort ein weißes Wesen sitzen, es schaute sich wachsam um und stieß gelegentlich nervöse Rufe aus. Ungefähr zur selben Zeit, als ich begann, die Schleiereulen bei der Familiengründung zu beobachten, wurde das Leben meiner eigenen Familie in seinen Grundfesten erschüttert. Eins unserer Kinder wurde krank – es war eine Krankheit, die so selten, so schwer zu diagnostizieren und so schwer zu behandeln war, dass ihr Auftreten eine erdbebenartige Wirkung auf uns alle hatte. Vielleicht ist das mit Erkrankungen immer so, egal ob es eine Erkältung oder Krebs ist, alle rütteln irgendwo an unserem Selbstverständnis und sind damit lebensverändernd. Die ersten Anzeichen dieser Erschütterung bemerkten wir im April. Benji, der damals 19 Jahre alt war, und ich saßen am Fluss und lauschten in der Dämmerung dem Vogelgesang, der sich über dem Sumpfgebiet erhob. Benji, der an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, verbrachte die Ferien zu Hause, bevor sein letztes Jahr am College beginnen würde. Er studierte Architektur. Ich genoss die Gesellschaft dieses lebhaften jungen Erwachsenen; gleichzeitig war ich mir bewusst, dass es nicht mehr lange so weitergehen würde. Bald würde mein Sohn das weiterführende Studium beginnen, alles würde sich verändern. Als er plötzlich zur Seite kippte, sich schüttelte und sich dann langsam wieder aufrichtete, dachte ich mir erst nichts dabei. Einen Moment lang saß er ganz still da, dann fragte er: »Fängst du auch manchmal einfach so an zu zucken?« Ich schaute ihn verwirrt an.

Wir wussten es damals noch nicht, aber irgendwo in den unsichtbaren Leitungen von Benjis Gehirn feuerte eine Synapse falsche Signale ab. Irgendwo in der Kommunikation zwischen den Millionen Neuronen in seinem Kopf hatte sich ein Fehler eingeschlichen.

Wir gingen damals oft hinunter ins Röhricht, um den Eulen zu lauschen. Im Nachhinein wirkt es irgendwie unwirklich, dass wir zu dieser Zeit noch keine Ahnung hatten, was auf Benji zukommen würde. Unsere ganze Aufmerksamkeit war auf die Schleiereule gerichtet, die übers Schilf hinweg ihrem Partner zurief; als Antwort kam ein Kreischen zurück.

»Schau«, sagte Benji. Er zeigte auf eine weiße Eule, die sich aus dem Schilf erhob und über den Fluss glitt. Ihr Körper spiegelte sich im grau glitzernden Wasser.

Im Mai und Juni ließ ich unser Fenster immer weit offen stehen, um den Höhepunkt des morgendlichen Chorgesangs nicht zu verpassen. Manchmal wurde ich nachts oder in den frühen Morgenstunden vom Schrei der Eule geweckt. Er lockte mich aus dem Bett, nach draußen auf die grüne Wiese, wo ich meinen morgendlichen Spaziergang absolvierte, ein festes Ritual dieser Zeit. Es dauerte jedes Mal eine Weile, bis sich meine Sinne auf die frühmorgendliche Kulisse eingestellt hatten: schattenhafte Blätter, knorrige Wurzeln und feuchte Erde, alles getaucht in unheimliche Dunkelheit.

Eines Morgens war der Schrei so durchdringend, dass ich sofort aus dem Bett sprang und nach meinem Fernglas kramte. Ich lehnte mich aus dem Fenster und erspähte die weißen Flügel, die eine scharfe Drehung vollführten, die empfindlichen Ohren des Tieres in Richtung Boden gerichtet, aufmerksam jedem noch so winzigen Geräusch lauschend. Das gefiederte Gesicht der Eule war nach unten gedreht, sie hatte etwas entdeckt: Beute – genau da! Die Flügel stromlinienförmig an den Körper gefaltet und die Krallen ausgestreckt, stürzte sie sich lautlos nach unten.

Wenn eine Eule auf der Jagd ist, fliegt sie dasselbe Stück Land immer wieder ab, und es besteht eine große Chance, dass ihr Angriff danebengeht. Nur ein kleiner Prozentsatz der Versuche endet mit einem Beuteriss, was das Leben der Schleiereule zu einem Glücksspiel macht. Zwar ist das Raubtier ideal für sein Jagdvorhaben ausgerüstet, dennoch muss es einige Herausforderungen meistern: Zwar sind Schleiereulen extrem leicht, sodass sie mühelos durch die Luft gleiten und sich auf ihre Beute stürzen können, andererseits bedeutet das aber auch, dass ihr Body-Mass-Index so niedrig ist, dass sie schnell verhungern können, wenn sie ein paar Tage lang keinen Erfolg bei der Jagd haben.

Ich sprang unter die Dusche und zog mir einen Pullover, eine Weste, lange Hosen und Socken an. Als ich nach draußen trabte, weckte mich die frische Luft auf. Dornensträucher, Farne und Brennnesseln säumten den Weg zum Feld. Aus den nahe gelegenen Gärten am Stadtrand hatten sich Glockenblumen ihren Weg in die Wildnis gebahnt; sie erstreckten sich an all jenen Stellen der Böschung, die von der Sonne erreicht wurden. Während ich die farbenprächtigen Blumen bewunderte, flackerte etwas am Rande meines Sichtfelds auf. Das fast lautlose Schwingen von Flügeln. Die Eule kreiste über das Feld, einmal hierhin, einmal dorthin, ihr weißes Federkleid reflektierte das Licht. Sie flog an mir vorbei, machte eine Kehrtwendung, sah mich kurz an und tauchte dann ab, im Sturzflug in Richtung Wiese.

Kurze Augenblicke wie diese offenbaren flüchtige Eindrücke ins Wesen dieser geheimnisvollen Kreaturen. Ich wollte nichts verpassen, horchte genau hin, versuchte, alle meine Sinne einzuschalten, mich so leise wie möglich zu bewegen; ich wollte näher herankommen, ohne mich dabei einzumischen. Ich wartete auf den Schrei der Eule, aber es kam keiner, also richtete ich den Fokus meines Fernglases dorthin, wo der Vogel im Gras verschwunden war: Und da war er, schwang sich hinauf in die Lüfte, der Schnabel mit Beute beschwert. Ich hielt den Atem an, während ich die Eule beobachtete. Mein Blick blieb an ihrer glatten weißen Brust hängen. Keine Sprenkelung. Könnte es das Männchen gewesen sein? Wo brachte es seinen Fang hin? Als die Schleiereule über mich hinwegglitt und kurz in der Luft stehen blieb, fiel das Licht durch die Federn ihres perfekt angeordneten Schwanzfächers.

Eine erwachsene Schleiereule kann eine ganze Feldmaus in einem einzigen Zug verschlucken. Da Eulen nicht kauen können, zerkleinern sie ihre Beute nur notdürftig innerhalb weniger Minuten, der Rest wird im Ventriculus, dem Magen des Vogels, aufgelöst. Nachdem sich das weiche Gewebe der Wühlmaus verflüssigt hat, wird der Rest, also das Fell und die härteren Teile, in den Kaumagen transportiert. Dieses Organ, auch Muskelmagen genannt, dient Vögeln als Zahnersatz. In ihm werden die unverdaulichen Teile der Nahrung – Knochen, Zähne, Krallen und Fell – gesammelt und zu einem runden Ballen, dem sogenannten Gewölle, komprimiert. Es verbleibt für einige Stunden im Magen, bis es als Speiballen von der Eule wieder erbrochen wird. Es ist verlockend, diese Gewölle, findet man sie draußen auf dem Boden, mit nach Hause zu nehmen und ihre Bestandteile zu analysieren. Anhand der Beschaffenheit des Felles und der Knochen lässt sich genau feststellen, was die Eule erlegt hat. Ist es eine Feldmaus, eine Wühlmaus oder gar ein Wiesenpieper? Denn: Die Schleiereule bricht die Regeln. Wenn sie durch die Brut unter Druck steht oder die nächtliche Jagd erfolglos war, jagt sie oft auch tagsüber, wobei sie bei ihrer Beute nicht allzu wählerisch ist.

Es begann, leicht zu nieseln. Nicht weit von mir entfernt auf der Wiese stand eine halb verfallene Scheune, und um trocken zu bleiben, suchte ich Unterschlupf in ihrem Windschatten. Die Tür war geöffnet, der Innenraum lag frei, und als ich mich langsam hineintastete, spürte ich eine seltsame Präsenz, etwas Lebendiges, und zwar jenseits von Mäusen oder Dohlen. Ich bewegte mich weiter nach vorn, meine Füße knirschten auf dem staubigen Boden, und ein Zischen unterbrach die Stille. Ich bekam Gänsehaut. Ganz hinten, in einer Ecke der Scheune, erspähte ich im Halbdunkel ein kleines, flaumiges Gesicht, aus dem mich zwei wachsame Augen anstarrten.

Ein Eulenküken, das aus dem Nest gefallen war.

Über ihm machte ich die Quelle des Zischens aus: die kleine, dicht zusammengedrängte Schar seiner Geschwister, die von ihrem hohen Vorsprung aus nach ihm riefen. Bis dahin hatte ich gedacht, Eulen könnten nur in Baumhöhlen nisten, es überraschte mich allerdings nicht, dass sie die verlassenen und halb verfallenen, aber dafür zuverlässig trockenen Ruinen des Menschen bevorzugten.

Als ich das Eulenjunge sah, setzte sofort mein Beschützerinstinkt ein. Die Klimakrise, das Artensterben, der Müllteppich im Pazifik – gegen all das konnte ich nichts ausrichten, aber hier konnte ich tatsächlich etwas tun! Ich hatte gelesen, dass es für die Eulen ein schweres Jahr war, die Wetterverhältnisse hatten ihnen zugesetzt. Trotzdem hatte dieses Schleiereulenpaar den stürmischen, nassen Winter überlebt – und es hatte sogar Nachwuchs gezeugt.

Ich suchte die Wand nach Möglichkeiten, mich festzuhalten, ab. Ich könnte zum Nest hinaufklettern und das Junge zurücksetzen, in der Hoffnung, dass die Eltern bald wiederkommen würden. Langsam ging ich auf die kleine Eule zu – sie bewegte sich hin und her, aber flüchtete nicht. Ich legte meine Hände um den warmen, weichen Körper. An den dünnen Flügeln kamen bereits die ersten Federschäfte durch; sie umhüllten das, was sich eines Tages zu Flugfedern entwickeln würde, sollte das Junge den Sommer überleben. Momentan war es zum Fliegen noch viel zu klein. Wie alt genau war es wohl? Drei Wochen, vielleicht sogar vier?

Zuerst zappelte das Eulenjunge mit den Füßen, als ich es hochnahm, aber schon bald lag es ruhig in meiner Hand. Ich hatte erwartet, dass es wie ein Kätzchen riechen würde, aber sein fremdartiger Gestank nach verrottenden Mäusen und beißendem Ammoniak tat mir in der Nase weh. Das kleine Wesen hatte auch etwas Reptilienartiges an sich: Ich spürte seine schuppigen Füße, die spitzen steingrauen Krallen, die schon jetzt ordentlich zupackten.

Das Eulenjunge in der Hand, begann ich zu klettern, meine Finger tasteten nach Vorsprüngen an der Steinwand. Ich rutschte ab; ich brauchte beide Hände. Kurzerhand schob ich die Eule in meinen Pullover, ihre Federn kitzelten meine Haut. So fiel mir das Klettern leichter. Oben am Vorsprung angekommen, löste ich die kleinen Krallen von mir und schob das Eulenjunge zu seinen Geschwistern zurück.

Schnell kletterte ich wieder hinunter, weg von den zischenden Eulen. Das niedliche Bild, das wir vor Augen haben, wenn wir an kleine Eulenbabys denken, lässt sich leicht ins Wanken bringen, wenn wir mehr über die Gewohnheiten dieser fauchenden Jungtiere lernen. Direkt nach der Geburt sind Eulenjunge kahl und borstig, sie sind die Sorte hässlicher Babys, die nur eine Mutter lieben kann. Selbst zwei Wochen später, wenn sie zu schneeweißen pudrigen Federknäueln herangewachsen sind, ist ihr Anblick alles andere als süß: Nestkameras zeigen, wie die jungen Raubvögel auf Bergen toter Wühlmäuse thronen, die ihre hingebungsvollen Eltern unaufhörlich erlegen und im Nest für schwere Zeiten sammeln. Damit nicht genug: Um die Überlebenschancen seines Nachwuchses zu vergrößern, hat das Eulenpaar die Eier in Abständen gelegt, sodass die größeren Küken ihre kleineren Geschwister verspeisen können, falls es mal nichts zu essen gibt.

Der September wurde durch kühle Winde und den Abflug der Schwalben angekündigt. Ich sollte bald meine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. Meine Vorlesungen waren fertig geplant, meine Vorträge alle geschrieben. Alles hätte gut sein können, wäre da nicht die nagende Sorge um Benji gewesen. Während ich den Sommer über draußen der Spur der Eulen gefolgt war, war es mit seiner Gesundheit bergab gegangen.

Die Familie saß am Küchentisch. Es war Samstagmittag, und ich hatte Spaghetti gekocht, dazu gab es frischen Parmesan und gehackte Petersilie. Jenny, Benjis kleine Schwester, stellte einen Krug mit Eiswasser auf den Tisch. Benji hielt mir seinen Teller hin, dann setzte er ihn wieder auf dem Tisch ab, bevor ich Zeit hatte, ihn mit Spaghetti zu füllen. Mit der Schöpfkelle in der Hand sah ich zu, wie sein Kopf auf seine Brust sank und sich sein Körper zur Seite krümmte. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Benji hing in seinem Stuhl wie ein Schiff, das Schlagseite hatte. Ich rüttelte an seiner Schulter, aber sein Gesicht wirkte seltsam leblos, so als hätte er jegliche Kontrolle über seine Muskeln verloren. Atmete er noch? Sein Kopf zuckte, aber er atmete normal. Bevor wir etwas tun konnten, rutschte er von seinem Stuhl auf den Boden.

In dem kurzen Moment, den wir Erwachsenen brauchten, um den Ernst der Lage zu begreifen, krachte Jennys Stuhl auf den Boden, und sie floh erschrocken aus dem Zimmer.

Benjis Augen verdrehten sich. Er konnte nicht sprechen, sich nicht bewegen, und aus seinem Mundwinkel hing ein dünner Speichelfaden. Seine Atmung ging unnatürlich langsam. Mit einem Mal erinnerte ich mich an den Erste-Hilfe-Kurs, den wir gemacht hatten, als unser Sohn ein kleines Baby gewesen war. Wie ging noch mal die stabile Seitenlage? Wie sollten wir Benji hinlegen? Als ich den Kurs besucht hatte, war Benji noch so klein und zerbrechlich gewesen, dass ich jede Nacht fürchtete, sein Atem könnte versiegen. Jetzt war sein Körper muskulöse ein Meter achtzig groß und wog fast hundert Kilo.

Irgendwie schafften mein Mann Rick und ich es, Benji in die stabile Seitenlage zu lagern. Dabei bemerkten wir, dass er mit den Lidern blinzelte. Versuchte er, mit uns zu kommunizieren? Wir fokussierten seine Augen. Geht es dir gut? Einmal blinzeln, was offensichtlich »Nein« bedeutete. Brauchst du irgendwas? Zweimal blinzeln: »Ja.« Sollen wir einen Krankenwagen rufen? Erneut zweimal blinzeln.

Als Benji einige Minuten später auf der Krankentrage lag, kehrte langsam seine Bewegungsfähigkeit zurück. Aber jedes Mal wenn er sich aufregte, verfiel er erneut in einen Anfall. War das Epilepsie? Die Anfänge von Narkolepsie? Während wir auf die Testergebnisse warteten, auf MRT-Scans und EEGs, dann Wochen später EEGs, die unter Schlafentzug durchgeführt worden waren, während Benjis Kopf und seine Schultern in einem bunten Wirrwarr aus Drähten steckten, sehnte ich mich nach Halt, nach Sicherheit. Ich wollte etwas Solides, ein Gegengewicht zu meinen ständigen Sorgen.

An guten Tagen versuchten wir, ganz normal weiterzumachen. Wenn wir unterwegs waren, hatte ich immer eine Aluminiumdecke für den Notfall dabei, die ich um Benji wickeln konnte. Im Krankenhaus hatte man uns gesagt, dass es keine Epilepsie war, auch wenn es so aussah. Benjis Leben veränderte sich; er konnte seinen Führerschein nicht zu Ende machen, das Studium pausierte.

Was wir immer noch konnten, war, gemeinsam die Eulen zu beobachten. Manchmal, wenn wir gleich zwei erblickten, versuchten wir, sie auseinanderzuhalten. Aus unseren Vogelbüchern wussten wir, dass die Weibchen oft eine dunklere Zeichnung haben, aber das trifft nicht immer zu – man kann diese Kreaturen nicht auf solche Details festnageln. Aus einzelnen Beobachtungen werden sonst nur falsche Tatsachen. Früher gab es beispielsweise viele Spekulationen über die Ernährungsgewohnheiten der Eulen, insbesondere unter Wildhütern und Bauern, die den Vogel als Bedrohung ansahen. Schließlich wurden Eulen abgeschossen, die vielen Debatten hatten zu falschen Schlüssen geführt. Erst als später die Speiballen von Eulen analysiert wurden, stellte man diese Praxis ein, da sich herausstellte, dass die Raubvögel der Landwirtschaft nützlich waren. Ihre Gewölle waren voll von Nagetierknochen, was sie zu effektiven Schädlingsbekämpfern machte.

Während Benji den Winter zu Hause verbrachte, unterrichtete ich an der Universität und versuchte, zu einem Gefühl der Normalität zurückzufinden, aber vor mir hatte sich ein Abgrund aufgetan, der immer tiefer wurde. Benji unterzog sich verschiedenen Behandlungen, aber seine Pläne fürs Architekturstudium hatte er endgültig aufgeben müssen. Ein Gerüst war kein sicherer Ort mehr für ihn, und auch die Benutzung von Elektrowerkzeugen war zu gefährlich.

In den Monaten, die auf Benjis ersten Anfall folgten, wurden wir als Familie achtsamer, um nicht zu sagen ängstlicher. Im Schlaf überkamen mich Panikattacken; ich schreckte hoch und lag in einer Lache aus kaltem Schweiß. Mein Schlaf wurde immer leichter, und dann hörte ich vollends mit dem Schlafen auf: Ich verwandelte mich in eine Eule.

Benji hatte jetzt jeden Tag Anfälle. Während wir uns den Kopf zerbrachen, was wir tun sollten, ging es ihm immer schlechter. Schon die kleinste Kleinigkeit warf ihn um. Wir befanden uns in ständiger Alarmbereitschaft. In einem Moment war alles normal, und dann bemerkten wir die Stille aus Benjis Richtung oder das Geräusch, wenn er auf den Boden knallte. Bei alldem mussten wir immer die Ruhe bewahren, während keiner von uns wirklich verstand, was eigentlich vor sich ging. In meinem Magen wuchs ein Bündel aus Stacheldraht, das immer größer wurde.

Das Gehör der Schleiereule ist so genau, dass man es »Ohrensicht« nennen sollte. Die Eule hat, was die Wissenschaft als »erweitertes akustisch-räumliches Bewusstsein« bezeichnet – das bedeutet, dass einige der Bereiche ihres Gehirns, in denen Schall verarbeitet wird, direkt mit jenen Teilen verbunden sind, die für die Aufnahme und Verarbeitung visueller Informationen zuständig sind. Die topografischen Fähigkeiten der Schleiereule überragen damit die aller anderen untersuchten Arten. Indem sie ihren Kopf auf bestimmte Art und Weise hin- und herbewegt, sodass sie mit ihrem Gesichtsschleier Schallwellen einfangen und selbst das leiseste Flüstern an ihren Hörapparat – die asymmetrischen Ohren – weiterleiten kann, holt die Supereule das Maximum aus ihrer »Ohrensicht« heraus. Niedliche YouTube-Videos von kleinen Eulen, die putzige Tänze aufführen, zeigen die Jungtiere eigentlich dabei, wie sie lernen, ihr erstaunliches Gehör zu benutzen. Durch das Wippen ihres Kopfes entsteht im Gehirn der Eule ein genaues Bild ihres Umfelds, und sie kann über ihre nächsten Schritte entscheiden.

Um dem Hörvermögen von Eulen tiefer auf den Grund zu gehen, haben Menschen verschiedene Experimente mit den Vögeln durchgeführt. Dabei haben sie herausgefunden, dass Eulen die steifen Federn ihres Gesichtsschleiers bewegen und exakt auf die Geräuschquelle richten können. Selbst bei vollkommener Dunkelheit kann der Raubvogel so seine Beute genau lokalisieren. Wie der Mensch hat auch die Eule einen Hautlappen vor dem Gehöreingang, das Operculum, aber im Gegensatz zu uns können Eulen diesen Hautlappen nach Belieben bewegen und auf Geräusche ausrichten. Noch beeindruckender ist, dass die äußere Ohrmuschel der Schleiereule von der Oberseite des Schädels bis hinunter zum Unterkiefer reicht. Die Haare im Inneren der Hörschnecke, die den Schall empfangen, sind länger als bei anderen Vögeln und wachsen immer wieder nach – anders als beim Menschen, der im Alter durch die Abnutzung der Haarzellen allmählich taub wird. Außerdem verfügen Eulen noch über eine besondere Geheimwaffe: Sie können Schallwellen im höheren Frequenzbereich, die durch Bewegungen ihrer Beutetiere ausgelöst werden, besser aufnehmen als die tieferen Töne von deren Stimmen. Experimente haben gezeigt, dass zu diesen hochfrequenten Geräuschen, die Nagetiere neben dem Quietschen von sich geben, das Rascheln auf dem Grund und Kaugeräusche zählen – eine Maus kann also unschuldig vor sich hin knabbern, ohne einen Mucks zu machen, und entgeht der Eule trotzdem nicht.

Der Superhörsinn der Schleiereule erreicht seine unglaubliche Präzision außerdem dadurch, dass ihre Ohren asymmetrisch hinter ihrem Gesichtsschleier angeordnet sind. Ein Ohr des Vogels ist größer und nach unten gerichtet, das andere ist kleiner und sitzt weiter oben auf dem Schädel, sodass der Schall beide Ohren zu völlig unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht. Die Eule kann so die Schallquelle exakt orten. Wissenschaftler haben in Experimenten ein Ohr der Eule blockiert und festgestellt, dass sie so – kaum verwunderlich – keine Beute im Dunkeln aufspüren kann. Kein Wunder, dass der Eule früher eine dunkle Seite zugeschrieben wurde; ihre Fähigkeiten haben uns Menschen erschaudern lassen. Heutzutage assoziieren wir die Vögel zum Glück nicht mehr mit dem Teufel, sondern erforschen ihre beachtlichen Talente mit mehr Wohlwollen aus einer wissenschaftlichen Perspektive – nach und nach gelangen wir so zu mehr Wissen und räumen mit alten Vorurteilen über das Raubtier auf.

Wenn mich die Neugier packt, kenne ich kein Halten mehr. Und so entschied ich nach einem langen, nassen Winter, als die Tage endlich wieder länger wurden, The Barn Owl Trust zu kontaktieren und mich dort als freiwillige Helferin zu melden.

Luke, der bei der Organisation für die Überwachung der Eulenpopulation zuständig war, hatte rein gar nichts gegen meinen Plan einzuwenden. Im Gegenteil: Er freute sich, denn das Timing war perfekt. In diesem Jahr fand die alle zehn Jahre vollzogene Zählung der Schleiereulenpopulation im Südwesten Englands statt, und der 1988 ins Leben gerufene Barn Owl Trust war über jede Hilfe bei diesem Vorhaben dankbar.

Nistende Schleiereulen zu zählen, ist ein heikles Unterfangen, bei dem man oft auf sehr hohen Leitern, auf den Dächern alter Scheunen und an anderen unzugänglichen Orten herumklettern muss. Luke brauchte für dieses Projekt jemanden, der ihm das Equipment reichte, die Landkarte las und vor allem die wacklige Leiter sicherte, von der aus er die Nester erreichte. Dieser Posten fiel mir zu. Mit dem organisationseigenen »Eulenmobil« machten wir uns an die Arbeit.

Bevor es losging, zeigte mir Luke, wie man die Leiter auf dem Dach des kleinen Transporters befestigte und wieder löste. Ich war dafür zuständig, sie hinter ihm herzutragen, während er mit den Landbesitzern sprach. Ein großer Teil der Arbeit von The Barn Owl Trust besteht darin, Landwirte und Grundeigentümer dazu zu motivieren, sich um die Schleiereulen auf ihrem Land zu kümmern und deren Lebensraum zu schützen. Einige Landbesitzer könnten eventuell mürrisch auf unseren Besuch reagieren, warnte Luke mich vor; sie liebten ihre Eulen und waren nicht unbedingt scharf darauf, dass die Tiere durch eine Zählung von uns gestört wurden.

Nachdem ich die Leiter unter Ächzen und Stöhnen – mit meinen ein Meter siebzig waren meine Beine für dieses Vorhaben eindeutig zu kurz – auf dem Dach des Eulenmobils befestigt hatte, kletterten Luke und ich endlich in den Transporter. Luke reichte mir die Karte, der wir heute folgen würden, sowie das Klemmbrett mit der Liste all der Orte, an denen The Barn Owl Trust Nistkästen für Eulen installiert hatte. Vor lauter Aufregung darüber, dass ich bald jeder Menge Schleiereulen begegnen würde, vergaß ich für einen entscheidenden Teil der Fahrt, dass ich für das Lesen der Karte zuständig war. Munter tuckerten wir vor uns hin, während niemand navigierte. Als Luke mich fragte, wo wir uns gerade befänden, und ich nach langem Suchen endlich unseren Standort auf der Karte bestimmt hatte, musste er mir nur den ganzen Prozess noch einmal erklären, und schon waren wir auf dem richtigen Weg! Wir ließen die Hauptstraße hinter uns und bogen unter der prallen Junisonne in die Tiefen der Grafschaft Devon ein.

Als wir ein üppiges Tal erreichten und das Eulenmobil sich langsam eine extrem steile Straße hinunterschlängelte, riskierte ich es, einen Moment lang meine Augen von der Karte zu lösen, um hinauszuspähen.

»Ist es diese Einfahrt oder die nächste?«, fragte Luke geduldig.

»Ähm … Hier!«, sagte ich. Immerhin bestand eine Fifty-fifty-Chance, dass ich recht hatte.

Ich weiß nicht, wie er das anstellte, aber Luke verlor angesichts meiner nicht vorhandenen Kartenlesefähigkeiten nie die Fassung. Während unserer gesamten gemeinsamen Zeit – und das waren viele Stunden und Tage – blieb er immer professionell.

Schließlich erreichten wir eine sich immer mehr verengende Einfahrt, die sich durch einen Wald aus Farnen, Fingerhüten, Weißdornen, Geißblattgewächsen und Haselnusssträuchern schlängelte. Ich kurbelte mein Fenster herunter: Die Luft vibrierte geradezu von dem Gesang von Vögeln: Saatkrähen, Mauersegler, Drosseln, Finken, Rotkehlchen, Zaunkönige und Grasmücken. Schließlich gaben die Hecken einen breiten, gepflasterten Hof frei, der zu einem strohgedeckten Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert gehörte. Der Duft von Heu lag in der Luft, und ich fühlte mich, als wären wir in einer anderen Dimension gelandet.

Als wir aus dem Auto stiegen, kamen die Besitzer aus dem Haus, pünktlich zu unserem Rendezvous. Während ich die Leiter vom Dach holte, unterhielt Luke sich kurz mit ihnen. Sie verschwanden wieder im Haus; er blieb zurück und studierte stirnrunzelnd die Karte. Der Nistplatz, den wir ansteuerten, befand sich in einer Scheune neben einem Feld ganz am Rand der Karte, dazwischen lagen mehrere andere Felder, ein Hügel und ein Tal.

»Das ist ein ganz schön langer Weg, um die Leiter zu tragen«, meinte Luke. »Lass es uns Stück für Stück angehen. Wir kriegen das schon hin.«

Wir setzten unsere Helme auf und packten Taschenlampen, Handschuhe und Werkzeug für den Fall ein, dass der Nistkasten repariert werden müsste. Wir waren startklar.

»Du hast deinen Helm falsch rum auf«, sagte Luke.

Gemeinsam packten wir die Leiter an, Luke vorn, ich hinten. Der Schweiß lief mir über das Gesicht, aber ich war fest entschlossen, mit Luke Schritt zu halten. Als wir uns einem Wäldchen näherten, hielt Luke an, stellte die Leiter ab und erinnerte mich daran, leise zu sein. Ab jetzt war Plaudern verboten.

»Die Eulen wissen wahrscheinlich schon, dass wir da sind«, flüsterte er. »Wenn sie gerade nisten, sind sie eventuell besonders empfindlich. Die Besitzer haben mir erzählt, dass sie das Eulenpaar regelmäßig zu Gesicht bekommen. Das Letzte, was wir tun wollen, ist, die Eulen zu verscheuchen, wenn sie gerade Nachwuchs haben. Sie stehen hierzulande unter Schutz, und man kann eine saftige Strafe bekommen, wenn man sie beim Nisten stört.«

Ich versuchte, mich mucksmäuschenstill fortzubewegen und dabei so wenig wie möglich zu atmen – eine ziemliche Herausforderung nach all dem Leiterschleppen in der Hitze. Schließlich stießen wir in einen regelrechten Dschungel aus Brombeeren und Weißdornbüschen vor. Luke wies mich durch eine Handbewegung an, leise zu sein, dann hielt er den Daumen hoch, um zu signalisieren, dass wir da waren. Ich bemerkte fasziniert, dass er kein bisschen verschwitzt war. Ich hingegen fühlte mich unter meinem Helm wie eine leuchtend rote Tomate.

Die Eulen hatten sich einen guten Nistplatz ausgesucht. Unter dem Rand meines Visiers hindurch konnte ich sehen, dass die Scheune von einer bedrohlichen Barrikade aus Brennnesseln umgeben war. Vielleicht waren da unter den Sträuchern noch Wände und ein Dach, aber sicher konnte man sich nicht sein.

»Es wird schwer, da hineinzukommen, ohne sie zu stören«, sagte Luke.

Wir stellten die Leiter ab und spähten ins Unterholz. Vor uns lag ein scheinbar undurchdringliches Dickicht. Würden alle Nistplätze so aussehen? Nach diesem hier mussten wir heute noch zu vier weiteren.

»Ich glaube, ich sehe einen Weg«, sagte Luke. »Du bist kleiner als ich – kommst du da durch? Wenn du es um diesen Busch herumschaffst, müsste da die Tür sein.«

Ich kämpfte mich so leise wie möglich durch die Brennnesseln hindurch. Ein paar Augenblicke später erspähte ich ein Stück Mauerwerk. Die Scheune wirkte eher so, als habe sie sich aus dem Schlamm erhoben, als dass sie von Menschenhand gebaut worden wäre. Auf einer Schicht aus kräftigen Steinen saßen aus Lehm gefertigte Wände, die Tür wurde von alten Eichenbalken umrahmt. Über der ganzen Konstruktion thronte ein Dach, das alles andere als zuverlässig aussah. Ich duckte mich unter Zweigen hindurch, stieg über Äste und wischte Brombeerranken von meinen Beinen. Luke folgte mir, die Leiter mühelos auf seine Schulter gestützt, den Arm lässig zwischen ihren Sprossen.

Wir traten in die gedämpfte Dunkelheit der Scheune und hatten sofort das Gefühl, dass uns etwas beobachtete. Luke stellte vorsichtig die Leiter ab und lehnte sie gegen die Wand. In der alten Scheune war es still wie in einer Gruft, überall lag Stroh herum, es roch nach alter Schafwolle, Heu und Dung. Ich konnte verstehen, warum es einer Eule hier drin gefiel: Der Raum war von der Außenwelt abgeschnitten und windgeschützt. Als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, deutete Luke nach oben in Richtung der Dachbalken. Lautlos leuchteten wir mit unseren Taschenlampen herum. Einer der Balken wies verräterische weiße Sprenkel auf. Eulenkot! Luke schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden. Speiballen, und zwar Hunderte! Das hier war eindeutig der Schlafplatz der Eulen.

Dann blieb mein Blick an etwas Hellem in der Dunkelheit hängen. Den Körper aufgerichtet, die Augen fest zusammengekniffen, hockte sie in der Ecke, nahe dem Scheitelpunkt des Daches: unsere erste Schleiereule. Gleich daneben befand sich der Nistkasten, den The Barn Owl Trust zwei Jahre zuvor hier aufgestellt hatte. Luke hatte die Eule noch nicht entdeckt; er war damit beschäftigt, den Nistkasten zu inspizieren, um eventuelle reparaturbedürftige Schäden zu entdecken.

Ich ging leise einen Schritt auf ihn zu und berührte seine Schulter. Als er sich umdrehte, veränderte der Vogel seine Position. Hatten wir ihn erschreckt? Regungslos standen wir da und blickten zu dem scheuen Geschöpf hinauf, das nun versuchte, sich so schmal und unauffällig wie möglich zu machen. Alle drei verhielten wir uns wie Statuen und versuchten, ja keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Natürlich waren wir Menschen dabei trotz aller Bemühungen der Elefant im Porzellanladen – mit unseren glänzenden Helmen und unseren Taschenlampen waren wir in das Heiligtum dieser scheuen Kreatur eingedrungen. Unsere Anwesenheit muss der Eule wie eine furchtbare Bedrohung vorgekommen sein.

Ich war überzeugt, dass die Eule so tat, als ob sie schliefe. Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen; in der Dunkelheit konnte ich durch einen Schlitz ihren Augapfel ausmachen, der diskret unter den blassen Wimpern hervorlugte. Unter dem Nistkasten lag ein weiterer Berg mit Gewöllen, und Luke gab mir durch einen Schwenker mit seiner Taschenlampe zu verstehen, dass ich einige davon aufsammeln sollte, damit wir sie später untersuchen könnten.

Während wir beide nach unten schauten, ergriff die Schleiereule plötzlich die Flucht. Lautlos flog sie in der kühlen Luft der Scheune auf und ab, ihr weißer Körper setzte sich wie auf einem Negativfoto vor dem schwarzen Hintergrund ab, er wirkte elegant und verletzlich. Zu verängstigt, um über unsere Köpfe hinweg hinaus in den Sonnenschein zu fliegen, flatterte der Vogel panisch hin und her. Luke und ich ließen uns auf den Grund hinab, um weniger aufzufallen, woraufhin die Eule ihre Chance ergriff und aus der Scheune glitt.

»Mist«, sagte Luke. »Das war nicht der Plan.«

Ich hatte einen Kloß im Hals.

»Keine Sorge, das ist nicht so tragisch«, beruhigte er mich. »Wenigstens ist es heute warm und trocken. Die Eule ist in Sicherheit. Sie wird sich einen Platz in der Nähe suchen und in ein paar Minuten zurückkommen, also müssen wir uns beeilen.« Er richtete die Leiter auf. »Wenn es regnen würde oder windig wäre, würde ich mir mehr Sorgen machen. Schleiereulen kommen mit schlechtem Wetter nicht so gut klar, aber heute ist es okay.«

Wir lauschten; ein zischendes Geräusch würde uns verraten, dass die Eulen brüteten und sich Junge im Nistkasten befanden. Aber da war nichts. Kleine Schleiereulen verlangen nach Nahrung, indem sie ein Zischen ähnlich einer Klapperschlange von sich geben. Ich fragte mich, ob dieses Geräusch ein evolutionäres Überbleibsel aus einer Zeit war, in der die Eule noch an wärmeren Orten lebte. In trockenen Bergen und Wüsten, wo es echte Klapperschlangen gab, könnte dieser Ruf als bedrohliche Mimikry gedient haben, um Raubtiere abzuschrecken, die den Eulenjungen gefährlich werden konnten.

Luke legte sich seine Kletterausrüstung an und stieg die Leiter hinauf. Er war so weit über mir, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Ich hielt die Leiter fest und sicherte gleichzeitig mit einer langen, extra dafür angefertigten Stange den Nistkasten, sodass seine Öffnung verschlossen war. Sollte sich ein brütendes Weibchen darin befinden, mussten wir verhindern, dass es floh und seine Eier im Stich ließ. Als Luke das Ende der Leiter erreicht hatte, tat mir vom Hochschauen der Nacken weh. Mit etwas Mühe und einem Schraubenzieher schaffte er es, den Nistkasten zu öffnen. Ich beobachtete ihn dabei und hielt den Atem an, als er hineinspähte. Würde eine Eule herausfliegen? Oder was befand sich im Inneren?

»Ein totes Eulenjunges«, berichtete Luke. »Und ein faules Ei. Halt dir die Nase zu!« Er entfernte die Überreste aus dem Nistkasten, die in einem Kreis um mich herum auf den Boden regneten, setzte den Deckel wieder auf die viereckige Box und trat den Rückweg an. Auf halber Strecke entdeckte er auf einem Vorsprung eine Ansammlung von Federn und Knochen. Eine tote Eule. Er fegte sie zu Boden, und wir betrachteten den Kadaver mit den hängenden Flügeln. Die Beine waren überraschend lang, an ihrem Ende befanden sich die Greifzehen mit den gewaltigen Krallen, die zum Tauchen ins lange Gras entwickelt wurden. Der Körper der Eule war die perfekte Jagdwaffe, und zum ersten Mal konnte ich ihn jetzt aus nächster Nähe studieren. Der raue Gesichtsschleier des Vogels war steifer, als ich ihn mir vorgestellt hatte – er erinnerte mich an den gestärkten Kragen eines Chorknaben. Ich teilte das Federkleid, um die asymmetrischen Ohren zu finden, und bereute es sofort. Die Ohröffnungen, die sich unter den Federn versteckten, waren abgrundtief, mit einem borstigen rosafarbenen Hautlappen davor – kein besonders schöner Anblick, um ehrlich zu sein. Warum oder wie diese Eule gestorben war, wussten Luke und ich nicht, aber es lag mit Sicherheit nicht daran, dass sie nicht gut hören konnte.

»Vielleicht ist sie verhungert«, meinte Luke. Er hob den Eulenkadaver hoch. »Diese Tiere sind sehr anfällig«, erklärte er. »Nicht wie Wanderfalken.«

Ich wusste, dass Luke bald bei The Barn Owl Trust aufhören würde, um seine Zeit der Erforschung von Wanderfalken zu widmen. Er würde an der Universität Naturschutz studieren, und auch ich würde wieder Vollzeit arbeiten. Bevor ich Zeit hatte, darüber traurig zu sein, reichte er mir die tote Eule, damit ich sie für meine Recherche mit nach Hause nehmen konnte. Sie sah aus, als hielte sie nur ein Nickerchen, wie ich sie so in meinen Händen hielt, die Augen waren halb geschlossen, darunter schimmerte der Schatten ihrer Pupille. Die Federn um ihren Gesichtsschleier waren in Herzform angeordnet, und ihr Körper war so leicht, als sei sie an Hunger zugrunde gegangen. Vorsichtig legten wir den Kadaver auf die Waage, die wir mitgebracht hatten, und tatsächlich: 214 Gramm – das war weit unter Normalgewicht. Ein gesundes Schleiereulenmännchen wiegt um die 330 Gramm, ein Weibchen etwas mehr, bis zu 360 Gramm.

»Wahrscheinlich war sie noch unerfahren«, sagte Luke. »Oft wissen Jungtiere nicht, wie sie an genug Nahrung kommen können – sie können eventuell noch nicht gut genug jagen. Viele junge Eulen, die gerade erst flügge geworden sind, sterben, weil ihre Fähigkeiten noch nicht trainiert sind. Schau dir die mittlere Kralle an – das ist ein Hinweis auf ihr Alter. Wenn da keine Einkerbung ist, war die Eule wahrscheinlich noch nicht mal ein Jahr alt.«

Ausgewachsene Schleiereulen haben an der mittleren Kralle eine gezackte Einkerbung, wahrscheinlich zur Körperpflege, und die war bei dieser Eule noch nicht vorhanden. Wahrscheinlich war sie erst im Vorjahr geboren worden, ein Jungvogel, der vor nicht allzu langer Zeit selbstständig geworden war.

Ich fragte mich laut, ob die tote Eule wohl männlich oder weiblich war. Luke erklärte mir, dass er sich nicht sicher sei, aber vermute, dass es sich um ein Weibchen handelte. Das dunkle Gefieder, die Sprenkel auf der Brust, die dunkle Zeichnung auf den Schwanzfedern und die goldbraunen Federn an der Kehle deuteten in Lukes Augen darauf hin. Ich verpackte mein trauriges Geschenk sorgfältig in einer Tüte, um es mit nach Hause zu nehmen.

Dort angekommen, zeigte ich dem Rest der Familie meinen Fund. Jenny betrachtete eine lange Zeit konzentriert das Gesicht des Tieres. Sie hielt den toten Eulenkörper in beiden Händen und untersuchte das Federkleid des Vogels. Als sie die Flügel vor dem Fenster in die Länge zog, schien das Licht hindurch, und es sah aus, als seien es Engelsflügel.

Ich verstaute die Eule in der Gefriertruhe. Ein paar Tage später stellte ich fest, dass Jenny die Schubladen des Gefrierschranks mit handgeschriebenen Warnhinweisen versehen hatte: »Essen«, »Essen«, »Tote Eule« usw. Auch Rick wusste diesen Teil meiner Eulenrecherche wenig zu schätzen, denn für ihn bedeutete es, dass wir nicht mehr so viel Platz für seine leckeren, frisch gekochten Currys hatten und sie deswegen schneller aufessen mussten.

Ich holte den Eulenkörper erst wieder aus seinem Gefrierfach, als ein paar Wochen später niemand mehr seine Anwesenheit ertragen konnte. Auf dem Tisch ließ ich die Eule auftauen und begann dann damit, sie zu untersuchen. Bei voller Streckung betrug die Flügelspannweite knapp 107 Zentimeter. Die Flügel verfügten über zehn Primärfedern, und auf ihrer Oberseite hob sich deutlich ein schokoladenbraunes Muster von ihrer braungelben Grundfarbe ab. An der Vorderkante waren sie goldbraun, und die spitz zulaufenden Hinterkanten gingen in ein weiches Cremeweiß über. Die Unterseite war blasser – das diente wohl als Schutz, damit potenzielle Beutetiere sie vom Grund aus nicht so leicht entdecken konnten. Die Außenfahnen der vorderen Schwungfedern waren steif und fransig. Genau diesen Federn hat es die Schleiereule zu verdanken, dass ihr Flug so lautlos ist, denn die dichten, kammartigen Federn zerstreuen die Fluggeräusche des Vogels optimal. Von allen Eulen ist die Schleiereule die leiseste, und bei genauem Hinschauen konnte ich sehen, warum das so war.

Mithilfe einer Handlupe untersuchte ich den Rest der Primärfedern und begann, ein System in ihnen zu erkennen. Alle Flugfedern hatten auf der dem Wind zugerichteten Seite einen leichten, samtigen Saum, die Innenfahne ging ins Nichts über und war so weich, dass ich beim Berühren nicht erkennen konnte, wo die Feder endete und die Luft begann. Luftfahrtingenieure beneiden die Eule um ihren lautlosen Flug und versuchen schon lange, das Design ihrer Flügel in Kampfjets nachzuahmen.

Je länger ich jede einzelne Feder betrachtete, desto faszinierter war ich. Der Federkiel aus Keratin ist wie ein Stamm, an den sich die Äste der Feder reihen. Diese wiederum sind von Nebenästen besetzt, die mithilfe von Widerhaken in einer erstaunlichen Regelmäßigkeit ineinandergreifen. Diese komplexe Anordnung ist stark, aber gleichzeitig flexibel genug, um sich mit absoluter Präzision an die Strömung der Luft anzupassen. Die Flügel der Eule erschienen mir in meinen Händen wie ein Wunder der Schöpfung.

Das britische Ackerland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark verändert. Man geht davon aus, dass der Verlust von alten Weiden und Magerrasen durch die intensivere Bestellung der Böden die Population der Schleiereulen um bis zu siebzig Prozent reduziert hat. Der Bau von immer mehr Schnellstraßen hat die Tiere dann erneut schwer getroffen: Tieffliegende Eulen können schnellen Autos nicht ausweichen. Der verstärkte Einsatz von Rattengift könnte für einige Eulenarten der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Beim Verzehr von vergifteten Nagetieren können sich Giftstoffe im Körper eines Vogels anreichern, die ihn schwächen und möglicherweise sogar töten können. Wir wissen nicht genau, wie und ob diese Tatsache die Eulen beeinträchtigt, aber die Forschung legt nahe, dass Gifte dieser Art beim Verzehr zu Übelkeit, Schwäche, Appetitlosigkeit, Koordinationsproblemen und einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten führen können. Nahezu neunzig Prozent aller tot aufgefundenen Schleiereulen, deren Überreste auf Rodentizide untersucht wurden, wiesen sehr hohe Werte an Giftstoffen auf. Wurden sie durch das Gift getötet? Wir wissen es nicht genau, aber es ist wahrscheinlich, dass Rattengift die eh schon zerbrechlichen Tiere weiter schwächt.

Die gute Nachricht ist, dass viele Bauern Schleiereulen auf ihrem Land mittlerweile mit offenen Armen begrüßen. Der alte Aberglaube von der bösen Eule wurde in ländlichen Gegenden längst durch Sympathie für den Raubvogel ersetzt, und nun werden die speziellen Nistkästen, die The Barn Owl Trust in diesem Teil des Landes in alten Scheunen und an anderen Orten aufbaut, oft liebevoll von den Landbesitzern bewacht. Wenn eine Eule sich auf dem Land eines Bauern zum Nisten niederlässt, kann das für ihn so was wie ein Ehrenabzeichen sein.

Nachdem Luke The Barn Owl Trust verlassen hatte, um sein Fachwissen durch ein Studium an der Universität zu vertiefen, blieb ich als Helferin zurück. Von jetzt an arbeitete ich mit Tim, dem Naturschutzbeauftragten der Organisation, zusammen, der sich genauso über mein Interesse an den Schleiereulen freute wie Luke und auch ebenso tolerant wie sein Vorgänger war, was meine Fähigkeiten im Kartenlesen betraf.

Tim und ich waren zum ersten Mal gemeinsam unterwegs, und der Landwirt an unserem ersten Zielort stellte sofort seine Arbeit ein, als er das Eulenmobil heranfahren sah. Er kam zu uns herüber, um mit uns zu plaudern. Als wir ihm erzählten, dass wir die Vögel kennzeichnen würden, rief er seinen Sohn auf dem Handy an, und bald darauf versammelte sich die ganze Familie um uns, alle mit Gummistiefeln an den Füßen. Sie hatten eine Nestkamera in dem Nistkasten auf ihrem Gelände angebracht und wussten daher bereits, dass sich Eulenkinder in der Holzbox befanden. Nun wollten sie die Chance ergreifen, die Kleinen aus nächster Nähe zu betrachten.

Alle gemeinsam beobachteten wir Tim dabei, wie er die Leiter hinaufstieg und die Eulenjungen eins nach dem anderen aus dem Nest hob, um jedes einzelne anschließend sanft in einen kleinen weißen Baumwollbeutel zu stecken und es mir an den Fuß der Leiter hinunterzureichen. Jedes warme, zappelnde Päckchen wurde untersucht und dann gewogen, indem es auf höchst unelegante Weise kopfüber in ein eulensicheres transparentes Plastikröhrchen gesteckt wurde. Unter den wachsamen Augen des Bauern und seiner Familie wurde jedes kleine Eulchen in Windeseile vermessen und mit einem Ring am Fuß versehen. Das Ziel dieser Prozedur war, so viele Daten wie möglich über die Eulen zu sammeln. Mithilfe der Ringe konnte The Barn Owl Trust die Eulen verfolgen und aufzeichnen, wie weit sie sich ausbreiteten und wo und wann sie starben – vorausgesetzt, jemand fand den Eulenkadaver und übergab ihn der Organisation.

Nachdem ich vier Eulenkinder vermessen hatte – an jeder meiner Hände baumelten zwei Tragesäckchen –, starrte ich erwartungsvoll zu Tim hinauf, der plötzlich ausrief: »Aha! Dich habe ich da in der Ecke fast nicht gesehen!«

Behutsam hob er ein letztes widerwilliges Eulenbaby aus dem Nistkasten und sagte in einer Singsangstimme: »Na, du Kleiner! Was hast du denn für ein dickes Bäuchlein! Damit bist du aber zu fett zum Fliegen.« Eulchen Nummer fünf war das dickste Eulenbaby, das ich je gesehen hatte – es wog fast vierhundert Gramm. »Du musst eine Diät machen, sonst schaffst du es nie aus dem Nest!«, ermahnte Tim es scherzhaft.

Er notierte die Details aller vier Eulenjungen inklusive des kleinen Wonneproppens, der bei der letzten Fütterung wohl eine überdurchschnittlich große Wühlmaus gefressen haben musste. Flügellänge, Körpergewicht, Bauchumfang und die Kennzeichnung auf dem Ring – alles wurde akribisch genau in Tims Notizbuch festgehalten. Diese Informationen waren wichtig, denn nur so konnten wir auch in Zukunft überwachen, wie es den Eulen ging. Kein Detail durfte vergessen werden, denn sonst könnte sich der Zustand der Eulen verschlechtern, ohne dass wir Menschen es merkten.

Meine Zeit als Freiwillige bei The Barn Owl Trust war beinahe vorbei. Es kam mir fast so vor, als hätte diese Zeitperiode außerhalb der Zeitrechnung meines normalen Lebens stattgefunden – es war eine Erfahrung, die mich tief im Herzen berührte und die ich mit einigen der hingebungsvollsten, klügsten, großzügigsten und fröhlichsten Menschen teilen durfte, die ich je kennengelernt habe. Die Freude am Lernen, das Gefühl der Zufriedenheit, wenn ich mit Luke und Tim unterwegs war, um die Eulen in ihren Nistkästen zählen – es ist schwer zu erklären, wie inspirierend und wahrhaftig sich diese Arbeit anfühlen kann. The Barn Owl Trust hat es weit gebracht: Es nahm als Hobby in den 1980er-Jahren seinen Anfang, wurde dann im Jahr 1988 von seinen Gründern in eine offizielle Wohltätigkeitsorganisation umgewandelt und leistet heute, im 21. Jahrhundert, nicht nur einen enormen Beitrag zum Erhalt der nationalen Schleiereulenpopulation, sondern unterrichtet auch Kinder in Schulen und berät Experten und Naturschützer auf der ganzen Welt. Ich habe das Gefühl, dass wir Menschen, trotz aller Höhen und Tiefen, die unserer gemeinsamen Geschichte auf diesem Planeten eigen sind, zumindest in diesem spezifischen kleinen Bereich Fortschritte machen. Wenn wir uns richtig reinhängen und gemeinsam mit der Natur arbeiten statt gegen sie, können wir die außergewöhnlichsten Dinge erreichen.

Die Magie der Eulen

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