Читать книгу Schreiben lehren, Schreiben lernen - Nadja Sennewald - Страница 8

|7|I. Einleitung

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Wie würde die Welt aussehen, wenn es keine Schrift gäbe? Wie, wenn kein Mensch schreiben könnte? Versucht man, sich das auszumalen, gerät man schnell an die Grenzen seiner Vorstellungskraft – so sehr basiert unsere Welt auf Schrift. Weil die Schrift eine Voraussetzung unserer heutigen Kultur ist, wird das Schreiben als ‚Kulturtechnik‘ bezeichnet. Es ist auch deshalb eine Kulturtechnik, weil es keine angeborene Fähigkeit ist, sondern erlernt werden muss. Während Kinder ihre Muttersprache in mündlicher Form meist in ihrer natürlichen sozialen Umgebung intuitiv erwerben, wird der schriftliche Sprachgebrauch systematisch gelehrt und angeleitet; meistens in der Schule. Dieses erste Schreiben steht in enger Verbindung mit dem Lesen Lernen; beides zusammen wird als ‚Schriftspracherwerb‘ bezeichnet.

Doch beherrscht man, wenn man die Schrift ‚erworben‘ hat, automatisch die Kulturtechnik Schreiben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was für eine Textsorte man verfassen möchte. Wenn es darum geht, Einkaufszettel zu schreiben, Unterschriften zu leisten oder sich Notizen zu machen, beherrschen die meisten Menschen nach der Grundschulzeit das Schreiben. Wenn es aber um komplexere Texte geht, wird es schon schwieriger. Steht man vor der Aufgabe, eine (noch) unbekannte Textsorte zu verfassen, stellen sich immer wieder von Neuem die Fragen: Wie fange ich an? Wie gehe ich vor? Und wieso klingt das alles überhaupt nicht so flüssig und elegant wie das, was andere Leute schreiben?

Das Erlernen des Schreibens ist tatsächlich nicht mit dem Schriftspracherwerb abgeschlossen – im Gegenteil: Die Verfeinerung dieser Kulturtechnik ist vermutlich nie abgeschlossen! Es dauert viele Jahre oder sogar Jahrzehnte, bis man das Schreiben virtuos beherrscht. Doch während es den meisten Leuten sofort einleuchtet, dass es jahrelange Übung braucht, bis man ein Musikinstrument meistert, scheinen viele Menschen zu glauben, das sei beim Schreiben anders: Entweder man kann es oder eben nicht. Alles eine Frage der Begabung.

Wie kommt es zu dieser Einschätzung? Zum einen sicherlich, weil Schreiben etwas so Normales ist. Unsere Gesellschaft ist so sehr auf Schrift angewiesen, dass wir nicht mehr darüber nachdenken, was Schreiben – und auch Lesen – eigentlich bedeutet. Wir tun es einfach, so, wie wir nach einer Weile nicht mehr über das Schalten nachdenken, wenn wir Auto fahren gelernt haben. Hinzu kommt, dass das Schreiben nach Abschluss des Schriftspracherwerbs nur noch wenig thematisiert wird. Zwar lernen wir in der Schule, wie die Texte aussehen sollen, die wir schreiben. Wir erfahren z.B., dass ein Aufsatz einen Anfang, einen Hauptteil und einen Schluss haben sollte. Oder wir erfahren, dass eine Textanalyse Beispiele aus dem analysierten Text enthalten muss. Aber nur sehr selten wird in der Schule darüber gesprochen, wie der gewünschte Text entstehen könnte. Wie kommt die Idee aus dem Kopf auf das Blatt Papier? Und was, wenn ich keine Idee habe, oder wenn mir meine Idee dumm vorkommt? Was, wenn meine Idee zwar auf |8|dem Papier landet, aber der Stil des Textes unangemessen ist? Wie kann ich mich als Schreiberin weiterentwickeln?

Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich sowohl die Schreibforschung als auch die Schreibdidaktik. Die Schreibforschung erkundet z.B., welche Prozesse beim Schreiben ablaufen. Ein weiteres wichtiges Ziel der Schreibforschung ist es, zu erfahren, wie sich das Schreiben – insbesondere nachdem der Schriftspracherwerb abgeschlossen ist – besser erlernen lässt. Genau hier findet sich die Schnittstelle zur Schreibdidaktik, denn diese widmet sich dem Lehren und Lernen des Schreibens. In diesem Einführungsband werden sowohl für die Schreibforschung als auch für die Schreibdidaktik historische Anfänge, die daraus folgenden Entwicklungen und aktuelle Konzepte aufgezeigt.

Warum dieses Buch?

Wie bereits angedeutet, denken wir im Alltag, auch im Universitätsalltag, wenig darüber nach, was das Schreiben eigentlich bedeutet. Das ist erstaunlich, denn ohne das Schreiben würde es gar keine Wissenschaft geben. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht aufgeschrieben werden, dann wird, im Wortsinn von Wissenschaft, kein Wissen geschaffen. Wissenschaft ist ein Gemeinschaftswerk. Sie lebt davon, dass wir an die Erkenntnisse derer anknüpfen, die vor uns geforscht haben. Und damit wir daran anknüpfen können, müssen die Erkenntnisse schriftlich dokumentiert und veröffentlicht werden. Das gilt für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ganz gleich, ob sie in den Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften oder Geisteswissenschaften arbeiten. Zu studieren bedeutet wiederum, die Grundlagen bestimmter Wissenschaften und Disziplinen zu erlernen und sich schreibend mit ihnen auseinanderzusetzen. Studierende verfassen bereits seit rund 200 Jahren während ihres Studiums wissenschaftliche Texte. Und beinahe ebenso lange wurde kaum darüber nachgedacht, wie Studierende das wissenschaftliche Schreiben am besten erlernen können. Das Lernen des Schreibens fand implizit statt, sozusagen ‚nebenbei‘, während man sich die Studieninhalte aneignete. An vielen Universitäten und in vielen Fächern im deutschsprachigen Raum ist das bis heute so.

Doch derzeit sind Veränderungen im Gange! An immer mehr Universitäten werden Schreibzentren eingerichtet und Schreibworkshops angeboten oder das Schreiben wird in regulären Seminaren thematisiert und geübt. Die Entwicklungen, die in diesem Bereich im deutschsprachigen Raum stattfinden, vollziehen sich rasant: Die oben genannten Angebote werden immer selbstverständlicher und vermutlich bald zum Standard gehören. Besonders schön ist, dass an diesen Entwicklungen viele verschiedene Disziplinen beteiligt sind.

Auch die Schreibforschung selbst ist interdisziplinär: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen aus so unterschiedlichen Fächern wie den Sprachwissenschaften, den Literaturwissenschaften, der Psychologie, der Erziehungswissenschaft oder den Neurowissenschaften. Hinzu kommt, dass die Entwicklungen in der Schreibforschung und Schreibdidaktik zwar im deutschsprachigen Raum neu sind, doch im englischsprachigen Raum, und da insbesondere in den USA, sieht es ganz anders aus. Dort gibt es seit über hundert Jahren vielfältige Fachdiskussionen über Schreibforschung und Schreibdidaktik.

|9|Genau hier begründet sich die Notwendigkeit eines Einführungsbandes: Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Schreibforschung und Schreibdidaktik auch im deutschsprachigen Raum immer mehr an Bedeutung gewinnen werden. Gerade weil die Forschung so interdisziplinär ist und weil die Schreibdidaktik alle Studierenden betrifft, wird das Themengebiet in immer mehr Fächern als relevant erkannt.

Der vorliegende Band bietet einen Einstieg in und einen kompakten Überblick über dieses spannende wissenschaftliche Feld. Die Einführung ist sowohl hilfreich für Studierende der oben genannten Fächer als auch für Lehramtsstudierende als auch für Studierende, die sich an ihren Hochschulen im Bereich der Schreibberatung engagieren möchten. Ebenso richtet sich der Band an alle Studierenden und Lehrenden, die wissen möchten, worin das Geheimnis des Schreibens besteht. Gründe, sich mit dem Schreiben zu befassen, gibt es genug. Dieses Buch vermittelt Grundlagenwissen, das nach Belieben selbständig vertieft werden kann – auch in den Bereichen, die im Rahmen dieser Einführung nicht ausgeführt werden. Da der Schwerpunkt auf dem wissenschaftlichen Schreiben liegt, wird zum Beispiel das schulische Schreiben nur am Rande behandelt. Auch auf das Schreiben in einer Fremd- oder Zweitsprache wird in diesem Band nicht eingegangen, obwohl die Forschung sich in dem Bereich derzeit stark entwickelt. Hier wäre eine eigene Einführung notwendig. Außerdem wird die Erforschung der Produkte des Schreibens, also der Texte selbst, nur in Maßen dargestellt, denn hier soll es nicht darum gehen, wie ein guter Text einer bestimmten Textgattung auszusehen hat. Diese so genannten Textmerkmale sagen erwiesenermaßen nichts darüber aus, wie der Text entstanden ist, also wie der Schreibprozess im Einzelnen verlaufen ist. Daher wird diese Art der Schreibforschung nur berücksichtigt, wenn sie in Kombination mit anderen Forschungsfragen prüft, ob in den untersuchten Texten etwas über die Schreibkompetenz oder die Schreibentwicklung des Schreibers zu erkennen ist.

Inhalt dieses Buchs

Nachdem geklärt ist, was dieser Band nicht leisten kann und will, soll nun der Inhalt vorgestellt werden:

In Kapitel II werden zunächst die Anfänge der Schreibprozessforschung in den USA und in Kanada und die weitere Geschichte bis heute nachgezeichnet.

Kapitel III stellt grundlegende Schreibprozessmodelle vor sowie Schreibentwicklungsmodelle, die nicht nur für den Schriftspracherwerb, sondern auch für das professionelle Schreiben relevant sind. Es folgen Modelle, die versuchen die Frage zu beantworten, was Schreibkompetenz ausmacht. Dann werden die Funktionen des Schreibens vorgestellt. Eine solche Funktion, die hedonistische, zeigt, dass produktives Schreiben auch Spaß machen darf!

Die Methoden der Schreib(prozess)forschung sind sehr vielfältig, da sich Experten ganz verschiedener Disziplinen zur Aufgabe gemacht haben, das Schreiben zu erforschen. Ein erster Überblick über die Methodenvielfalt wird in Kapitel IV geschaffen.

In Kapitel V wird eine Auswahl wichtiger Schreibforschungsprojekte von den 1970er Jahren bis heute vorgestellt. Die Studien befassen sich z.B. mit den Fragestellungen: Worin besteht professionelle Schreibkompetenz? Wie entwickelt sie sich und mit welchen schreibdidaktischen Interventionen |10|kann man sie fördern? Was für Schwierigkeiten treten beim Erlernen des akademischen Schreibens auf?

In Kapitel VI findet ein Perspektivwechsel hin zur Schreibdidaktik statt: Das Kapitel beginnt mit der Geschichte der schulischen Schreibvermittlung im europäischen Mittelalter, dann folgt eine Exkursion in die amerikanische Schreibdidaktik, die viele wichtige Impulse bereitstellt. Zuletzt werden aktuelle schreibdidaktische Konzepte in der Hochschullehre angerissen.

Diese Konzepte werden in Kapitel VII ausgeführt. Hier geht es zum Beispiel um Schreibzentren, Peer Tutoring, Schreibworkshops, Schreibgruppen, schreibintensive Seminare und Portfolioarbeit.

Das letzte und VIII. Kapitel dient schließlich dazu, ganz konkrete Tipps und Methoden aufzuzeigen, die das Schreiben erleichtern. So werden z.B. Arbeitsschritte für das Schreiben akademischer Texte vorgestellt. Beschrieben werden Brainstormingtechniken und Ideensammlungsmethoden wie Freewriting, Clustering oder die Journalarbeit. Außerdem werden Tipps gegeben zur Erschließung von Aufbau und Funktionsweise verschiedener akademischer Textsorten. Es folgen eine Anleitung für hilfreiches und wirkungsvolles Textfeedback und ein Plädoyer für selbst organisierte Schreibgruppen. Zum Schluss besteht die Möglichkeit, einen kleinen Schreibtypentest durchzuführen und sich Methoden zum Umgang mit Schreibschwierigkeiten und Schreibblockaden anzueignen.

Wie in diesem Band immer wieder deutlich werden wird, sind Theorie und Praxis der Schreibforschung eng miteinander verknüpft. Es wäre schön, wenn die Lektüre dazu beitragen kann, einige der vorgestellten Theorien und Methoden in die eigene Schreibpraxis zu integrieren!

Anmerkung zur Sprache

Bevor es losgeht, noch eine Anmerkung zur Sprache: Es werden abwechselnd männliche und weibliche Formen verwendet, um weder Frauen noch Männer sprachlich zu benachteiligen. Wenn im Text also ‚Schreiber‘ steht, können auch ‚Schreiberinnen‘ gemeint sein, wenn von ‚Didaktikerinnen‘ die Rede ist, können sich auch die ‚Didaktiker‘ angesprochen fühlen. Außerdem werden, wenn es möglich ist, neutrale Formen wie ‚Forschende‘ statt ‚Forscherinnen‘ oder ‚Forscher‘ genutzt.

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