Читать книгу Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner - Страница 8

Griselbart, der Meister der Magie

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Nur noch wenige Stunden bis zum Morgengrauen. Es klopfte an der Tür, als Peer mit dem Gegenstand zurückkehrte, den er für seinen Zauberstab auserkoren hatte. Es handelte sich um einen toten Schmetterling, was keine Überraschung darstellte, genauer gesagt um eine Hyphoraia aulica, eine Hofdame, die in Deutschland als ausgerottet galt. Tom wusste, Peer würde diesen Schmetterling nie leichtfertig für Experimente zur Verfügung stellen, er selbst hatte das Exemplar von seinem Großvater vererbt bekommen und war kein Sammler, der Naturbestände gefährdete.

„Je ausgefallener, desto besser“, sagte Griselbart vergnügt, während er ihn hereinließ.

Peer war begeistert von Toms Zauberstab. Er musterte ihn von allen Seiten und fuhr andächtig mit den Fingern über die feinen Maserungen. „Den hast du selber gemacht? Cool. Wann kann ich einen machen?“

Tom wartete im Wohnzimmer, während die anderen in die Kellerräume gingen, um Peers Zauberstab zu fertigen. Irgendwie hatte er das Gefühl, sein Freund musste das alleine machen. Die Couch, auf die er sich setzte, war mottenzerfressen und roch nach Pfeifentabak, Kaffee und nassem Hund. Der Junge sah sich eine Weile um und entdeckte interessante Bücher mit Titeln wie Ein magisches Kochbuch - Rezepte für Gestaltwandlungen und Tiererscheinungen, Nixen im Bayern des 19. Jahrhunderts und Adastia, das Land der Vampire - eine Erlebniserzählung. Auf der hinteren Wand des Wohnzimmers war ein Stammbaum der Griselbarts aufgemalt, der mit Leowulf Griselbart im fünfzehnten Jahrhundert begann. Tom verfolgte die Abzweigungen und Vermählungen mit den Augen, wobei ihn zunehmende Müdigkeit überkam. Immerhin dämmerte es jetzt fast und er hatte noch keine Sekunde geschlafen. Er machte sich einen Spaß daraus, mit dem Zauberstab wahllos auf Dinge zu zeigen, irgendwas zu murmeln und zu warten, was passierte. Insgesamt geschah nicht viel, einmal fügte er dem Bild einer Blumenvase ein Brandloch zu, obwohl er vorgehabt hatte, es drauf regnen zu lassen und er vermutete, dass es an den falschen Wörtern lag.

Das würde ich an deiner Stelle unterlassen“, sagte eine knarzige Stimme hinter ihm.

Der Junge fuhr herum und ließ vor Schreck fast seinen Zauberstab fallen. Er glaubte, Griselbart wäre ins Zimmer zurückgekehrt. „Tut mir leid, ich - wollte nur ein bisschen ausprobieren …“

Meister Griselbart bewahrt einige sehr wertvolle Gegenstände in diesem Raum auf. Außerdem könnten sich manche der Dinge zur Wehr setzen und dir größeren Schaden zufügen, als du ihnen.“

Nervös blickte Tom um sich. Er konnte den Ursprung der Stimme nicht ausmachen, sie schien vom Boden zu kommen. Vorsichtig lugte er über den Beistelltisch. Eine windfarbene Katze mit gelben Augen saß auf dem Teppich und blickte ihn an, erstaunliche Intelligenz sprach aus ihnen.

„Hast du das gesagt?“, flüsterte Tom.

Der Tisch war es sicher nicht.“

Tom atmete tief durch. Er kannte die Katze, sie gehörte Griselbart, seitdem er denken konnte, doch er hatte sie stets als sehr altes, sehr launisches Tier betrachtet und sich nicht die Mühe gemacht, sie näher in Augenschein zu nehmen.

„Ich wusste nicht, dass du sprechen kannst“, sagte er schließlich.

Es gibt viel, was du nicht weißt.“ Die Katze, eigentlich war es ein Kater, bewegte beim Sprechen nicht die Lippen, eher schien sie die Gedanken in seinen Kopf zu übertragen. Überhaupt bewegte sie sich nicht viel, sondern saß reglos da wie eine Statue.

„Und was zum Beispiel?“

Jetzt zuckte der Schwanz des Katers, als hätte er mit einer solch direkten Frage nicht gerechnet. Er musterte Tom ganz genau, ehe er sagte: „Zum Beispiel, dass Meister Griselbart dich nicht aus Sympathie ein Gluthien wählen ließ. Die Sterne sagten für dieses Jahr voraus, dass ein Sterblicher uns helfen würde und dass seine Hilfe bitter benötigt sein würde.“

Tom blinzelte. Das war ihm tatsächlich neu. „Steht in ihnen auch, ob Skelardo besiegt wird?“

Die gelben Augen waren unleserlich. „Das steht nicht in ihnen. Eines jedoch ist sicher: jemand wird auf der Reise verloren gehen und nicht zurückkommen.“

Tom runzelte die Stirn. „Auf welcher Reise? Wen meinst du?“

Der Kater gab keine direkte Antwort. „Für die Wissenden ist es keine große Überraschung.“

„Wen meinst du, Kater?“, fragte Tom drängender und beugte sich vor.

Ein Geräusch aus der Diele ertönte, dann das Schlurfen von zwei Paar Füßen. Die Ohren des Katers zuckten, dann war das Tier verschwunden, schneller, als Tom es für möglich gehalten hätte.

Viel Glück, Tom Winter“, erklang es in seinem Kopf.

„Mist“, fluchte er.

Griselbart kam ins Zimmer, den müde wirkenden Peer im Schlepptau.

„Mit wem hast du gesprochen?“, fragte der Meister stirnrunzelnd.

„Mit Ihrem Kater.“ Tom blickte sich immer noch nach ihm um. „Er hat mich gewarnt, dass … die Sterne irgendwas vorausgesagt haben … und dass auf unserer Reise jemand verloren gehen könnte.“

„Ach, hat er das?“ Griselbart warf einen giftigen Blick aus dem Fenster. „Das ist das Kreuz mit den magischen Katzen der Elfen, sie wissen nie, wann sie sprechen oder schweigen sollten! Oder nicht, Finwa?“

Doch es kam keine Antwort, nur der Wind heulte leise über die Veranda.

„Wen hat er gemeint?“, fragte Tom.

Griselbart lächelte sanft. „Zerbrich dir bitte nicht den Kopf, mein lieber Junge. Es ist ohnehin schon alles verwirrend genug und auf Wahrsagerei ist niemals Verlass, merk dir das.“

Tom gab sich nur widerwillig mit der Antwort zufrieden. Aber er sah ein, dass er viel zu lernen hatte und dass es nach und nach geschehen musste.

Peers Zauberstab bestand aus Eichenholz, in dessen Kern die tote Hofdame zu einem Pulver verarbeitet war. Er hatte sich beim Verzieren an die gängigen Muster gehalten und viele parallele, sich wiederholende Elemente gewählt; es passte zu ihm.

„Nun gut, Jungs, ich würde sagen, dabei belassen wir es fürs Erste.“

Tom und Peer protestierten, aber Griselbart schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. „Schaut mal, wie spät es ist. Ihr habt die ganze Nacht nicht geschlafen. Schlaf ist unabdinglich für die Erholung von Körper und Geist und nur, wenn ihr ruht, seid ihr in der Lage zu lernen und Großes zu vollbringen.“

Die beiden gaben nach und ehe sie sich versahen, standen sie wieder auf Griselbarts vorderer Veranda und die Tür war ins Schloss gefallen. Doch mit einem Unterschied: beide hatten sie jetzt Zauberstäbe in der Hand und unstillbare Abenteuerlust im Herzen.

Erste Sonnenstrahlen krochen über die Häuserdächer und just in diesem Moment fühlte Tom, wie ihn die Müdigkeit mit der Wucht einer Abrissbirne überkam. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Nacht durchgemacht zu haben, außer an Silvester.

„Unglaublich, Tom, wärst du nicht Griselbart zu Hilfe gekommen, als er gegen die Chipera kämpfte, wäre das alles nie passiert!“

„Vielleicht doch. Finwa zufolge passiert alles, was die Sterne voraussagen.“

„Ist das die Katze?“

„Der Kater. Leider hat er nicht mehr verraten.“

Am üblichen Punkt trennten sie sich voneinander.

„Du gehst heute nicht in die Schule, oder?“, fragte Peer mit zweifelndem Blick.

Tom schüttelte den Kopf. „Glas muss die Matheprobe wohl ohne uns schreiben.“

Peer nickte. Vor Müdigkeit schien er sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. „Wann gehst du wieder rüber?“

Mit „rüber“ meinte er Griselbarts Anwesen.

„Sobald ich wach bin“, sagte Tom. „Soll ich dich dann anrufen?“

„Ja.“ Peer grinste breit. „Kann's kaum erwarten.“

Tom wusste, als er aufwachte, im ersten Moment nicht, warum er so glücklich war. Müde, aber glücklich. Dann erinnerte er sich. Das Ritual, Griselbarts Erklärungen, die Magie. Er zog den Ausschnitt seines T-Shirts herunter und da war es, das dunkelblaue Licht, das im Rhythmus seines Herzschlags pulsierte. Er dachte an Astos, dessen Geist er vage am Rande seiner Wahrnehmung spürte, und der wohl nicht weit entfernt im Unterholz über seinen Schlaf wachte. Ohne sein Zutun breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, so ehrlich, wie seit Wochen nicht mehr. Alle Sorgen schienen weit weg und in diesem Moment hätte er in sein Kissen boxen können vor lauter Glück. Da öffnete sich die Tür und Reginald trat ins Zimmer. Seine sonst so offene Miene war umwölkt.

„Die Schule hat angerufen, weil du unentschuldigt gefehlt hast“, sagte er und sah ihn scharf an. „Ich hab natürlich gesagt, ich hätte vergessen anzurufen - nicht dass es die Sekretärinnen überrascht hätte. Als ich in dein Zimmer geschaut habe, hast du so tief und fest geschlafen, dass ich gar nicht probiert habe dich aufzuwecken. Tom, warst du diese Nacht überhaupt zuhause?“ Ernste Sorge sprach aus seinen grauen Augen.

Die Schule. Die Matheprobe. Tom hatte sie komplett vergessen, hatte sogar vergessen seinem Vater zu sagen, er wäre krank. „ Ähm … “, sagte er.

„Du verhältst dich seltsam in letzer Zeit, kommst mitten in der Nacht nach Hause oder gar nicht. Du weißt, du hast bei mir keine Grenzen, weil ich dir vertraue, aber trotzdem musst du mir sagen, wenn du Probleme hast!“

Tom sah ein, dass sein Verhalten mehr als besorgniserregend war. Jetzt galt es zurückzurudern. „Peer und ich sind dem Geheimnis auf der Spur“, sagte er schnell. „Dem Geheimnis von Griselbarts Villa.“

Reginald schaute verblüfft drein, suchte nach Worten. Mit einer solchen Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. „Ich verstehe … Und was habt ihr bisher herausgefunden?“

„Die Wesen, sie wohnen im Wald. Sie besuchen Griselbart. Kobolde sind darunter und auch Hirsche … “ Tom wollte seinem Vater die Wahrheit sagen, aber nicht zu viel.

Reginalds neugieriges Naturell gewann letztendlich die Oberhand. „Hirsche? Ihre Spuren habe ich bereits am Waldrand gefunden und, stell dir vor, sogar bei uns im Garten! Erst heute früh bei Sonnenuntergang. Komm mit in die Küche, Tom, dann kannst du mir mehr erzählen.“

Das Gespräch dauerte den ganzen Morgen und Tom bereitete es einiges an Kopfzerbrechen, Reginalds Neugier zu befriedigen und gleichzeitig nicht zu viel zu verraten. Als er dann endlich doch aus dem Haus rannte, ließ er einen entspannt zurückgelehnten Reginald zurück, der eine Menge Stoff zum Nachdenken hatte.

Tom fragte sich, wo Astos war; es beunruhigte ihn, wenn er ihn lange nicht sah, ein Gefühl, das er so nicht kannte.

Peer wartete vor Griselbarts Tor auf ihn. „Du glaubst nicht, wie meine Eltern sich aufgespielt haben, weil ich nicht in die Schule gegangen bin. Sie haben zum Glück nicht mitbekommen, dass ich in der Nacht nicht zuhause war, sonst hätte ich jetzt bis zu meinem achtzehnten Geburtstag Hausarrest.“

Tom erzählte ihm, wie Reginald seine Geständnisse aufgenommen hatte.

„Manchmal beneid ich dich echt, dass dein Vater so verrückt ist“, seufzte Peer.

Griselbart öffnete, ehe sie die Klingel betätigt hatten. Er wirkte erfrischt und voller Tatendrang und seine Augen zwinkerten freundlich.

„Habt ihr eure erste Nacht als Zauberer gut überstanden?“

Die Jungen bejahten und schauten ihn gespannt an.

„Hier war auch einiges los. Das Ergebnis der Diskussion ist zufriedenstellend. Die Wesen der ersten Pforte sind bereit, euch eine Chance zu geben.“

„Was, wenn sie nicht bereit gewesen wären?“, fragte Peer.

Griselbart warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Sind wir einfach froh, dass sie es sind.“

Es war jetzt früher Vormittag und der alte Zauberer hielt das für eine gute Zeit, um mit dem Zauberunterricht zu beginnen. „Gehen wir nach oben in den ersten Stock. In den Räumen ist es nicht so schlimm, wenn ihr etwas kaputtmacht.“

Tom und Peer folgten bereitwillig, gespannt, den Rest des Hauses zu sehen. Griselbart nahm dieselbe mit Teppichen ausgelegte Treppe, die zum Käfig des Wolfshundes führte. Der Flur, den sie betraten, führte an rund ein Dutzend Zimmern vorbei. Die Wände waren getäfelt und rote samtene Vorhänge waren in regelmäßigen Abständen angebracht. Ahnenbilder schauten auf die Besucher herab und je eine Ritterrüstung daneben schien sie mit erhobener Lanze zu bewachen. Griselbart nahm gleich die erste Tür auf der rechten Seite. Der Raum dahinter war größer, als man von außen vermutete, und angelegt wie ein Tanzsaal; Dielenbretter bedeckten den Boden und bogenförmige, mannshohe Fenster tauchten den Raum in helles Licht. Alle bis auf eins, das geöffnet war, waren von zerschlissenen grauen Vorhängen bedeckt. Hinter dem Lehrerpult war eine Tafel in der Wand eingelassen, altmodisch mit Kreide und Lineal auf ihren Ablageflächen, und versetzt dahinter stand ein großer Spiegel mit Bronzefassung an der Wand. Kalte Morgenluft wehte durchs offene Fenster und Tom schauderte.

„Willkommen im Studierzimmer!“ Griselbart wies auf zwei Tische und Stühle in der ersten Reihe. „Setzt euch, ich muss euch viel beibringen. Wir haben leider nicht viel Zeit, ehe ihr nach Bruckwalde aufbrechen müsst.“

„Unterrichten Sie hier auch andere Schüler?“, fragte Tom. Sein Stuhl verursachte ein lautes Schaben, als er ihn zurechtrückte.

„Nicht regelmäßig, ich bin Lehrer im Ruhestand. Früher gingen hier viele Schüler ein und aus, aber diese Zeiten sind vorbei … Trotzdem helfe ich, wenn Not am Mann ist, wie jetzt. Das Haus eignet sich ausgezeichnet für Versammlungen und Gruppenkurse. Manchmal übernehmen sie auch ein paar meiner fortgeschrittenen Schüler, später werdet ihr, glaube ich, noch einen zu Gesicht bekommen … Aber alles der Reihe nach. Zunächst ein paar Worte zu meiner eigenen Wenigkeit. Ich möchte euch ein bisschen von mir erzählen, ehe wir mit den Geheimnissen der Magie beginnen. Mein Name lautet Oswald Ladislaus Balderich Amon Griselbart. Ich bin der letzte Nachfahre einer Linie, die seit vielen Generationen die Sicherheit der ersten Pforte bestellt. Die Aufgabe des Hüters wird in direkter Linie von Vater zu Sohn weitergegeben. Ich bin fast hundertunddreiundzwanzig Jahre alt. “

Hier machte er eine Pause. Zurecht, denn die beiden Jungen schnappten nach Luft.

„Hundertdreiundzwanzig!“, rief Peer aus.

„Sind Zauberer unsterblich?“, wollte Tom sofort wissen. Er hatte Griselbart immer für Ende sechzig, höchstens Anfang siebzig gehalten.

„Nein. Aber die Magie verlangsamt den Alterungsprozess. Körperlich gesehen bin ich knapp sechzig Jahre alt. Man könnte also sagen, dass das Leben der Zauberer verzweifacht wird.“

Tom und Peer schauten sich mit großen Augen an. Als Dreizehnjähriger konnte man sich die Tragweite dieser Erkenntnis unter Umständen noch nicht vollständig ausmalen, aber dass sie von großer Bedeutung war, wussten sie instinktiv.

„Gut“, sagte der Meister ruhig. „Nachdem ihr diesen Schock verdaut habt, geht es nun weiter mit der ersten Lektion. Wenn ihr Fragen habt, fragt.“

Tom sausten hunderte Fragen durch den Kopf, doch war er außerstande sie zu formulieren.

„Was ich euch als erstes beibringen möchte, ist das richtige Empfangen und Verschicken einer Nachricht. Die Raben, die wir für diesen Zweck benutzen, wurden geschult, nur kundigen Empfängern ihre Post auszuhändigen. Sie stammen aus einer Zucht in Nürnberg, wo sie von klein auf an den Umgang mit Magiern gewöhnt werden.“

In diesem Moment ertönte ein lautes Krächzen, so dass Tom und Peer zusammenfuhren, und ein Rabe kam durchs offene Fenster geflogen, auf dessen Sims er sich niederließ. Er war schlichtweg riesig, hatte ein glänzendes schwarzes Federkleid und ebenso schwarze Augen, mit denen er die Jungen misstrauisch musterte.

„Das ist kein normaler Rabe, oder?“, fragte Peer.

„Ein Kolkrabe“, war die Antwort. „Personen, die nicht die Befugnis haben, ihre Nachrichten zu erhalten und diese zu stehlen versuchen, hacken sie die Augen aus.“

Toms Respekt vor dem Vogel wuchs. Er musste eine Spannweite von mindestens einem Meter haben.

Griselbart winkte ihn zu sich. „Tom, willst du anfangen?“

Der Junge kam zögerlich ein paar Schritte näher, den Zauberstab fest in der rechten Hand. Der Rabe beobachtete ihn scharf ohne zu blinzeln.

„Es gibt drei Schritte, die es zu beachten gilt. Erstens, du musst beweisen, dass du Mitglied der ersten Pforte bist. Dazu musst du das Zeichen in die Luft malen.“ Griselbart nahm ein Stück Kreide und malte etwas an die Tafel. Es waren zwei überkreuzte Bajonette über einem Totenkopf-Nachtschwärmer. (Das wusste Tom nur, weil es Peers Lieblingsschmetterlingsart war). Dann zeigte Griselbart Tom, wie man das Zeichen mit dem Zauberstab in möglichst wenigen Ansätzen in die Luft malen konnte. Tom wiederholte die Bewegungen und zu seiner Überraschung erschien der Schmetterling mit den Schwertern in der Luft und fing an, in blauem Licht zu erstrahlen. Das machte er ein paar Sekunden lang, ehe er verschwand. Auch Peer schaffte es beim ersten Mal, bei ihm erstrahlte das Insekt rot.

„Das Zeichen ist eins der wichtigsten Dinge, die ihr zu lernen habt. Auf diese Weise könnt ihr Freunde von Feinden unterscheiden. Nur die, die es von einem Meister gezeigt bekommen, kennen die genaue Schreibweise.“

Als Nächstes zeigte ihnen Griselbart, wie man seinen Arm ausstrecken sollte, damit der Rabe darauf landete. Wenn man bei diesem Schritt Furcht zeigte, wurde der Rabe zornig und hackte einem die Augen aus. Der letzte Schritt bestand darin, dass man an nur einer der vielen Schnüre zog, um den befestigten Brief loszumachen. Tom schaffte es prompt, einen Knoten derartigen Ausmaßes hineinzubringen, dass Griselbart ihn nur mithilfe eines Zaubers lösen konnte. Dann sollten sie es allein probieren. Tom kam sich vor wie ein Volltrottel, als er mit erhobenem Arm dastand und wartete, der Rabe aber partout nicht von seinem Fenstersims heruntersteigen wollte, und bedrohlich mit dem Schnabel klackerte, wenn er sich ihm näherte.

„Raben sind eigenwillige Tiere und sie nähern sich nur dem, vor dem sie auch Respekt haben“, erklärte Griselbart. „Karak hier weiß, dass ihr Lerner seid, deshalb treibt er Späßchen mit euch. Aber in einem Ernstfall kann man sich auf sie verlassen. Es ist wichtig, dass wir miteinander kommunizieren können, wenn ihr nach Bruckwalde und dann weiter zu den zwei Pforten reist.“

Die letzten Worte vernahm Tom kaum, er blickte sich verstohlen um. Er hatte das eigentümliche Gefühl, dass jemand im Raum war, der ihn beobachtete. Seine Nackenhaare sträubten sich, als das Gefühl stärker wurde. Immer wieder fiel sein Blick auf den Spiegel an der Wand, bis Griselbart ihn fragte, was los sei. Tom erzählte es ihm.

Der Meister nahm ihn scharf ins Visier. „Rein theoretisch möglich, aber unwahrscheinlich. Bis vor einem Tag warst du für die magische Welt nicht existent und ich denke nicht, dass der Feind so schnell von dir Wind bekommen hat, es sei denn …“

„Karak“, sprach er den Raben mit schneidender Stimme an. „Wann hast du den feindlichen Raben vertrieben?“

Der Rabe krächzte einmal. Er streckte einen seiner Flügel aus und Tom sah, dass er arg lädiert war und ein paar Federn gegen den Wuchs abstanden. Zeichen eines Kampfes?

Anscheinend sagten Griselbart die Laute des Raben etwas, denn er nickte langsam. „Gestern“, sagte er nachdenklich. „Aber aus der dritten Pforte? Ich hatte angenommen, er käme aus der Peripherie des Landes.“ Der Meister richtete sich an die beiden Jungen, die aufmerksam lauschten. „Ihr müsst wissen, es ist im Prinzip möglich, Menschen oder Zauberwesen von entfernten Orten aus zu beobachten. Grundsätzlich nimmt man dafür eine spiegelnde Oberfläche her, wie zum Beispiel Wasser oder einen Spiegel aus Glas, einfach, weil es leichter ist, das Bild dorthin zu projizieren als in die Luft.“

Tom schaute erneut zum Spiegel an der Wand.

Griselbart nickte. „Damit würde es klappen. Kommt, seht hinein.“

Die beiden Jungen gehorchten und stellten sich nebeneinander vor den Spiegel. Zwei erschrockene und ein unleserliches Gesicht schauten zurück. „Um euch wurden noch keine schützenden Zauber herumgelegt, weil ich dachte, es sei nicht vonnöten. Ich vergaß es schlichtweg. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden oder ein Kribbeln im Nacken deutet meist darauf hin, dass man in jemandes Visier steht.“

„Kann ich es versuchen?“, fragte Tom. „Skelardo im Spiegel zu sehen?“ Die Idee war ihm just in diesem Moment gekommen und er spürte eine wachsende Erregung. Peer schaute ihn erschrocken an, als hätte er ihm solchen Wagemut nicht zugetraut.

Zu seinem Erstaunen nickte der Meister. „Du kannst es gerne versuchen. Es wird nicht klappen, weil Skelardo im Gegensatz zu dir hunderte abblockende Zauber verwendet.“

„Was muss ich tun?“

„Berühre den Spiegel mit der Handinnenfläche und sag Graf Skelardo, Vampir, Adastia. Meist genügen einfachste Informationen wie Name, Wesensart und Herkunft. Sei nicht enttäuscht, wenn nichts passiert.“

Tom gehorchte und wiederholte die Worte. Doch mit dem, was als nächstes passierte, rechnete niemand. Der Spiegel gewann plötzlich an Tiefe, der Mann und die Jungen auf seiner Oberfläche verschwanden und ein nächtliches Verlies trat an ihre Stelle, das mit schwarzen Pflastersteinen ausgelegt war. An den Wänden hingen Fackeln, deren schwacher Lichtschein gerade bis an den der nächsten heranreichte. In der Mitte des Raumes vor einer Stange, die als Sitzplatz für einen großen wild aussehenden Raben diente, stand ein Mann. Er war groß und schlank, in einen dunklen Umhang gehüllt, und stand im Halbprofil zu den Zuschauern. Sein Gesicht war weiß wie Papier, das Haar blond, aber merkwürdig farblos. Es war unmöglich, das Alter in seinem zeitlosen Gesicht abzulesen, er hätte dreißig sein können oder fünfundsechzig oder hundert.

„Was zum-?“, entfuhr es Griselbart. Echte Angst verzerrte seine Stimme.

Der Mann – Vampir, wie Tom schmerzhaft bewusst wurde – wandte den Kopf, als hätte er ihn gehört. Seine Augen und sein Mund waren von blutroter Farbe. Dann ging alles ganz schnell. Eins seiner Augen schien größer zu werden und immer größer, ein schrilles Pfeifen, das den ganzen Raum erfüllte, ertönte, das Auge raste auf sie zu, bis es die gesamte Oberfläche des Spiegels eingenommen hatte. Das Weiß des Augapfels lag wie ein Ring um den sichtbaren Kern, tausend verästelte Äderchen rankten sich darum, was ihm einen wahnsinnigen Ausdruck verlieh. Aus der Mitte der roten Iris schien etwas auf sie zuzukommen, klein, schwarz, ein Wesen mit hunderten von Zähnen an der Stelle, wo sein Mund sein sollte. Toms Herz raste. War das eine Chipera? Griselbart sprang vor, wobei er die beiden Jungen unsanft zur Seite schubste. Sein Zauberstab blitzte auf und helles Licht brach hervor, es kollidierte mit dem Auge und der grässlich kreischenden Fledermaus. Blitze zuckten über die Spiegeloberfläche. Mit einem enormen Kraftaufwand schaffte es Griselbart, das Auge Zentimeter für Zentimeter zurück in den Spiegel zu drängen. Es begann zu pulsieren und die Adern zeichneten sich rot leuchtend ab. Tom stand da, unfähig sich zu rühren, sein Atem ging keuchend. Dann erstarb das Pfeifen. Noch bevor es ganz verschwunden war, rollte Griselbart ein schwarzes Tuch herab, das in einer Vorrichtung über dem Spiegel angebracht war. Erst als alles schwarz war und die Falten des Stoffes sich nicht mehr regten, konnte Tom aufatmen.

Griselbart ließ sich gegen die Wand sinken, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Das hätte nicht passieren dürfen! Ich weiß nicht, warum du ihn so einfach sehen hast können, Tom. Es muss daran liegen, dass er dich gerade beobachtet hat und die Verbindung noch offen war.“

„Warum interessiert er sich für mich? Er weiß nicht, dass ich helfen will, den Trank zu brauen!“, rief Tom außer sich.

„Sch, sch! Bist du wahnsinnig, sag das doch nicht so laut! “ Griselbart warf einen gehetzten Blick zum Spiegel, dann sagte er mit leiser Stimme: „Das liegt einzig und allein daran, dass du ein Reiter bist. Reiter haben in der Vergangenheit Großes bewirkt und je nach dem, welcher Seite sie angehörten, veränderten sie schon oft den Lauf der Geschichte. Himmel, er muss genauso erschrocken sein wie wir!“

Tom bezweifelte das. Immerhin war Skelardo ein mächtiger Vampir, der schon seit vielen Jahren (oder waren es Jahrhunderte?) Zauberkunst lernte und viele seiner Gegner beseitigt hatte. Tom dagegen war ein niemand und vollkommen hilflos.

„Wartet, ihr zwei.“ Griselbart stellte die beiden nebeneinander, dass ihre Ellbogen sich berührten. Dann hob er den Zauberstab und murmelte einige Worte, bis sie beinahe Sätze waren. Tom spürte ein warmes Kribbeln seinen ganzen Körper durchströmen und er meinte etwas zu hören, das wie „Pling!“ klang. Danach fühlte er sich nicht anders als zuvor und auch seine Finger, die er prüfend betrachtete, sahen noch genauso aus.

Griselbart erklärte: „Skelardo kann euch nun nicht mehr sehen. An anderen Orten, wo euer Bewusstsein angreifbar ist, in Träumen zum Beispiel, könnte er euch aber noch gefährlich werden. Seid auf der Hut!“

Tom und Peer waren stiller geworden; sie verstanden, dass das, was Griselbart ihnen zeigte, über Leben und Tod entscheiden konnte. Der Meister zog aus einem Regal an der Wand ein sehr abgegriffenes Buch und produzierte von irgendwoher noch ein weiteres für Peer. Der Titel verkündete: Elementare Zauber und ihre zahlreichen Erweiterungen. Griselbart ließ sie die zehnte Seite aufschlagen und jeder für sich lesen. Ein Federrascheln vom offenen Fenster verkündete, dass Karak genug davon hatte, ihren Unterricht zu beobachten.

„Wo fliegt er jetzt hin?“, fragte Peer und schaute dem davonfliegenden schwarzen Schatten nach.

„In den Rabenhorst auf dem Dachstuhl. Dort warten seine Artgenossen und eine freie Sitzstange auf ihn.“

Tom hob überrascht die Brauen. Es gab einen Rabenhorst in Griselbarts Dachstuhl? Das erklärte natürlich die Unmengen schwarzer Vögel, die überall in der Umgebung zu entdecken waren. Er musste lächeln. Griselbart war wirklich der einzige Mensch, von dem er je gehört hatte, Raben in oder auch nur über seinem Haus zu halten.

„Für gewöhnlich sollte man nicht mehr als einen neuen Zauber pro Tag lernen, aber da wir uns in einer besonderen Situation befinden, werden wir uns an diese Regel nicht halten können.“

Und so geschah es. Sie lernten Anzieh- und Abstoßzauber, die, wie der Name schon sagte, Dinge heran- und wegfliegen ließen. Besonders hilfreich fand Tom einen Lichtzauber, der eine große wabernde Kugel in der Farbe ihres Gluthiens erzeugte, die neben ihnen herschwebte. (Der Zauberspruch lautete: „Anaphaino!“) Das ersparte ihm in Zukunft das Mitschleppen einer Taschenlampe. Peer fiel eine Formel, die Dinge entzweibrechen ließ, am leichtesten, er zerbrach Stifte, Kreidestücke, Stühle und sogar im Tisch hinterließ er einen faustgroßen Sprung. Bei Tom dagegen tat sich gar nichts. Auch wenn er sich sicher war, die Worte richtig auszusprechen („Diorusso pagis!“) und die Bewegung richtig auszuführen, blieb sein Spielzeugauto, das er zum Üben hernahm, ganz.

„Das liegt an deiner inneren Einstellung“, erklärte Griselbart ihm. „Du machst Dinge nicht gern kaputt, sondern schaust lieber zu, dass sie ganz werden. Der Reparierzauber dürfte dir leicht fallen, aber der ist fortgeschritten, genau wie der heutige Tag, und ich würde sagen, für heute belassen wir es dabei.“

Tatsächlich war die Sonne bereits untergegangen und die ersten Schatten der Abenddämmerung senkten sich über Glöckerlstadt. Draußen hörte man ein paar Raben krächzen, ansonsten war alles still. Dann konnte Tom noch etwas ausmachen, Rufe und Laute, wie man sie im Kampf äußerte, ein Ächzen, das Klacken von aufeinanderschlagenden Gliedmaßen, Schreie. Er und Peer stürzten zum Fenster; einige Dutzend Meter entfernt, neben dem See und hinter dem chinesischen Pavillon hatte sich eine Gruppe von Leuten versammelt. Sie standen auf dem quadratischen Sandplatz, der, wie Tom jetzt klar wurde, kein Volleybaldfeld, sondern ein Übungsfeld für Kampfpraktiken war. Jungen und Mädchen in ihrem Alter traten nacheinander vor und kämpften gegen die Person in der Mitte, die ihnen, was die Leistung betraf, eindeutig überlegen war. Tom kannte nur eine Person, die lange rotbraune Haare hatte, die stets zu einem Pferdeschwanz gebunden waren; bei jeder Bewegung und jeder Drehung tanzte er um ihren Körper, als würde er eine ganz eigene Choreographie aufführen. Er hatte auch noch nie jemanden gesehen, der sich so geschmeidig und fließend bewegen konnte und gleichzeitig so viel Kraft in die Tritte und Schläge steckte, da war kein einziger Fehler in ihrer Vorstellung.

„Ist das-?“, fragte Peer.

Tom nickte nur. Ja, das war Charlie.

„Ich wusste nicht, dass sie Karate kann.“

„Ich auch nicht“, sagte Tom.

„Ja, sie ist der einzige Schwarzgürtel mit dreizehn Jahren im ganzen Landkreis“, sagte Griselbart mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.

„Schwarzgürtel?“, wiederholte Tom entgeistert.

„Ihr Vater hat sehr früh begonnen sie selbst zu trainieren. Er war schon immer höchst besorgt um ihre Sicherheit. Kein Wunder nach dem, was mit ihrer Mutter passiert ist.“

Tom wusste, dass Charlies Mutter wie seine eigene nicht mehr am Leben war, wusste aber nicht, was genau mit ihr geschehen war und fragte auch jetzt nicht.

„Geht hinunter, schaut zu!“, forderte der Meister sie auf. „Karatestunden stehen bald auch auf eurem Stundenplan, es gibt kein besseres Mittel sich selbst zu verteidigen.“

Tom und Peer dankten ihm für den Unterricht und wünschten ihm gute Nacht. Als Tom die Tür schloss, sah er, dass Griselbart die Hand ausstreckte und Karak auf seinem Arm landete. Er bezweifelte, dass der alte Zauberer einen sorgenfreien Abend verbringen würde - dass er überhaupt irgendeinen sorgenfreien Abend in den letzten Wochen gehabt hatte.

Die beiden Jungen spurteten die lange Treppe hinunter und liefen durchs Wohnzimmer über die Veranda hinaus in den Garten. Als sie zu der Gruppe stießen, folgten nur noch wenige Durchgänge. Aus den Schlag- und Trittabfolgen wurde Tom nur wenig schlau, auch wenn er sich bemühte zu folgen. Er konnte nicht mal genau sagen, wer einen Treffer landete und wer abblockte, doch es ging fast immer gleich aus, wenn Charlie es schaffte, hinter ihren Gegner zu treten und ihn mit einem Wurf zu Boden beförderte. Als die Kirchturmuhr acht Uhr schlug, war der Unterricht beendet. Die Schüler verneigten sich vor Charlie und sie tat es ihnen gleich. Tom kannte ein paar von ihnen, er kannte sie aus der Schule und zwei der Jungen gingen sogar in seine Klasse. Zauberer, von denen er es nie für möglich gehalten hätte.

Als die Gruppe sich langsam auflöste, wandte Charlie sich ihnen grinsend zu.

„Jetzt kennt ihr bald alle meine Geheimnisse“, sagte sie. Wie üblich trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Hosen, die einen leichten Pulverfilm aufwiesen von den wenigen Malen, in denen sie im Sand gelandet war.

„Das ist unglaublich!“, rief Peer. „All die Nachmittage, die wir zusammen rumgehangen sind, und nie hast du auch nur angedeutet, dass du Karate kannst!“

Charlie zuckte die Schultern. „Es ist besser, wenn man mit seinen Stärken nicht hausiert. Dann hat man das Überraschungsmoment auf seiner Seite, weißt du.“

Tom beobachtete das schwarz glühende Licht über ihrem Herzen, das sich in der hereinbrechenden Dunkelheit zusehends abzeichnete. Er fragte sich, was es damit auf sich hatte.

„Soll ich euch noch etwas zeigen?“, fragte Charlie. „Früher oder später müsst ihr sowieso damit anfangen, dann können wir es auch jetzt gleich machen. Ein paar elementare Stellungen zu Beginn.“

Peer blickte sich erschrocken nach der Kirchturmuhr um. „Verdammt, ich hab meinen Eltern gesagt, ich bin um acht zum Essen zuhause! Ein ander Mal, Charlie!“ Er spurtete davon.

„Glaubst du, das war eine Ausrede?“, grinste Charlie Tom an.

„Ich glaub nicht. Seine Eltern merken langsam, dass was im Busch ist.“

„Und Reginald?“

Sie sprachen eine Weile über Toms verrückten Vater und wie es ihm mit den ersten Magiestunden ergangen war. Charlie ließ ihn die verschiedenen Zauber vormachen, berichtigte seine Handbewegungen und seine Zauberformeln. Sie schien zufrieden mit seinen Fortschritten. Dann zeigte sie ihm tatsächlich noch ein wenig Karate, aber weiter als bis zur gebeugten-Knie-Stellung und ein paar Faustdrehungen kamen sie nicht, weil Tom vor Müdigkeit zu taumeln begann.

„Ich muss auch heim“, sagte Charlie, nachdem sie ihn prüfend angeschaut hatte. „Sonst schickt mein Dad einen ganzen Suchtrupp los, inklusive Spürhunde.“

Tom grinste. Er unterdrückte ein weiteres Gähnen. „Bist du morgen bei Griselbart? Dann sehen wir uns da.“

„Klar“, sagte Charlie und lächelte.

Tom fand seinen Vater – wie könnte es anders sein? – im Keller, über eine seltsame Apparatur geneigt, die, wie er sagte, magische Bewegungen wahrnehmen konnte. Im Moment zeigte sie pfeilgerade auf Tom, was Reginald als Fehler deutete.

„Da muss ein Fehler bei der Kalibrierung vorliegen“, schimpfte er und hantierte an den vielen Rädchen herum. „Bis gerade zeigte es auf Oswald Griselbarts Haus und schlug so heftig aus, dass ich dachte, der Zeiger springt aus dem Gehäuse.“

„Dad, ich muss dir was sagen“, begann Tom.

„Die Elektroden scheinen keinem natürlichen Gesetz mehr zu gehorchen … “, schimpfte Reginald.

„Dad, hör mir mal zu.“

Sein Vater schaute von der Apparatur auf, verunsichert ob des ernsten Tonfalls.

„Wir ähm … wir waren heute wieder bei Meister Griselbart und wir ähm …“ Es war nicht leicht, alles in Worte zu fassen, was geschehen war. Schon beim Versuch begann Toms Kopf wehzutun. Aber Reginald verdiente die Wahrheit. Schon allein aus dem Grund, dass er aufhörte, diese fantastischen Apparate zu bauen.

„Wir müssen für eine Weile weg. Charlie, Peer und ich. Es hat mit diesen Vorkommnissen zu tun, mit den … Wesen … den Kobolden zum Beispiel.“

Reginald fuhr sich mit einer Hand über seine ergrauten Bartstoppeln. Er runzelte die Stirn. „Ihr wollt danach suchen?“, fragte er. „Nach der Magie? Dabei kann ich euch doch helfen. Du weißt, wie gern ich das tue. Aber in letzter Zeit scheinst du nicht mehr viel Lust auf unsere Ausflüge zu haben …“ Ein trauriger Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen.

An Tom nagte das schlechte Gewissen. Er würde schon etwas weiter ausholen müssen, um sich verständlich zu machen.

„Nein, Dad. Ich meine … Die Wesen, Griselbart … sie sprechen mit uns und …“

Reginald blickte ihn verwirrt an. Sorgte mischte sich in seinen Blick und Tom merkte, dass sein Verhalten ihm Angst machte. Vielleicht zweifelte nun er bald an seinem Verstand, nicht andersherum. Da sah er ein, dass es leichter war, wenn er es seinem Vater einfach zeigte.

Tom zog den Zauberstab aus der hinteren Hosentasche. Er richtete ihn irgendwohin und murmelte: „Anaphaino!“ Die große, wabernde Kugel brach aus der Spitze des Zauberstabs hervor und manifestierte sich vor ihnen in der Luft.

Reginald stolperte ein paar Schritte zurück und wäre fast über eine Kiste mit gefrorenen Hühnerkrallen (angeblich die Leibspeise von Hippogreifen) gefallen. „Das ist – aber – wie-“, stammelte er.

Tom zog den Kragen seines T-Shirts herunter und zeigte ihm das blau glühende Gluthien über seinem Herzen.

Reginald starrte darauf, das Gesicht eine Maske der Entgeisterung. Dann schrie er, so laut, dass Tom zusammenzuckte. „ICH HABS GEWUSST! Ich hab immer gesagt, dass es mit dem Lichtbehälter zu tun hat! Es ist der Sitz ihrer Zauberkraft!“

Tom musste ein wenig lachen angesichts seiner Freude. „Ja, Dad, ja, das stimmt, du hattest mit allem recht.“

Reginalds Lächeln verblasste ein wenig. „Dir ist gelungen, was ich versuche, seitdem ich fünf Jahre alt bin. Du hast einen Zugang zur Anderswelt erlangt und bist sogar ein Teil von ihr geworden.“

„Ohne dich hätte ich es nie geschafft. Ich hab nur daran geglaubt, weil du mir alles gezeigt hast, die Beweise, die Unstimmigkeiten. Nur dein Sohn hätte einen Zugang in die Anderswelt finden können.“

Ein kleines Lächeln umspielte Reginalds Lippen. „Du hast Recht. Außerdem bin ich schlichtweg zu alt, um zaubern zu lernen und mit Einhörnern zu rennen und mit Drachen zu fliegen … Aber warum willst du weggehen, Tom?“

„Das sag ich dir auf dem Weg nach draußen. Vorher will ich dir Astos zeigen.“

Sie stiegen die Treppen hoch und Reginald stellte pausenlos Fragen, ohne eine Antwort abzuwarten: „Gibt es Einhörner überhaupt? Die habe sogar ich für eine Erfindung der Menschen gehalten, zu rein, zu unschuldig … Wo kam der tote Kobold her und was hat ihn getötet, Tom? … Wie hast du den Lichtbehälter bekommen? Hast du ihn verschluckt? Aber nein, das wäre absurd …“

Tom antwortete, so gut er konnte, bemühte sich aber gleichzeitig, nicht zu viel zu verraten. Griselbart kannte Reginald und wusste, er würde ihre Geheimnisse so gut wie seine eigenen hüten - Kuru dagegen wäre von seiner Redseligkeit bestimmt nicht begeistert.

Im Garten hinter dem Haus hielt Tom die Finger an die Lippen und pfiff. Ohne dass er sich je besonders darin geübt hätte, kam ihm eine aus drei Tönen bestehende Melodie in den Sinn.

„Was kommt jetzt?“, fragte Reginald. „Ein Kobold?“

Eine Weile standen sie stumm da und warteten, bis ein schwaches Schimmern zwischen den Bäumen des Waldes auszumachen war. Es wurde schnell kräftiger und schließlich trat der schneeweiße Hirsch unter einer Tanne hervor. Er verharrte wachsam, ehe er sich in Bewegung setzte, den Blick ausschließlich auf Tom gerichtet. Durch eine Lücke im Zaun betrat er ihren Garten. Toms Herz begann schneller zu schlagen.

Reginald stieß ein andächtiges Seufzen aus. „Wie wunderschön.“

Tom stimmte ihm im Stillen zu. Dass dieses stolze und sanfte Tier ausgerechnet auf sein Pfeifen hörte und ihn zum Gefährten wollte, ließ seine Brust vor Stolz anschwellen.

Astos blieb vor ihnen stehen und sah in der Nacht fast unwirklich aus, wie die Traumgestalt, derer er sich so lange bedient hatte.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte Tom leise. Er wartete darauf, eine Antwort in seinem Kopf zu hören, aber die ersehnte Stimme blieb aus.

Zur Abwechslung fehlten Reginald die Worte. Fast andächtig strich er dem Hirsch über die weiche Nase, was dieser mit einem Schnauben quittierte. Tom erzählte vom Ritual der Gluthien und wie die Wesen reagiert hatten, als Astos sich ihm unterstellte.

„Und er gehört dir?“, fragte sein Vater.

„Er gehört zu mir“, berichtigte Tom.

„Ein Reiter“, wiederholte Reginald. „Darüber habe ich nie etwas in Erfahrung bringen können. Ich dachte, nur die Waldmenschen oder die Nomaden leben in Symbiose mit Tieren.“

Tom musste seinem Vater noch die anderen Dinge zeigen, die er von Griselbart gelernt hatte, was nicht besonders viel war, aber Reginald war so begeistert, als hätte er die Zaubererwelt bereits gerettet. Immer wieder musste er einen Gartenzwerg vor sich her schieben und wieder zurückholen. Als er versuchte, ihn entzweizubrechen, geschah nicht das Geringste, aber sein Vater merkte es nicht. Für ihn war es genug, wenn Tom mit einem Zauberstab fuchtelte und Formeln aufsagte. Obwohl er ihm mit leuchtenden Augen zusah, bemerkte Tom die Traurigkeit in Reginalds Blick. Er trat an Astos' Seite und murmelte ihm etwas ins Ohr. Der Hirsch sah ihn mit intelligenten Augen an und senkte den Kopf, als hätte er ihn verstanden. Leichtfüßig trabte er davon in Richtung Wald.

Reginald nahm Tom bei der Schulter. „Zuerst hab ich deine Mutter verloren und jetzt dich. Vielleicht bin ich dazu verdammt, allein zu sein.“

Das schlechte Gewissen brannte in Toms Magengrube. „Dad, ich komm zurück, wenn der König in Bruckwalde wieder gesund ist. Ich versprech's.“

Sein Vater bedachte ihn mit einem sorgenvollen Blick. „Da wird einiges auf dich zukommen. Viel kann ich dir nicht auf den Weg mitgeben … Ich habe zugegebenermaßen nicht viel herausgefunden über die Anderswelt …“

„So ein Quatsch. Mit dem, was du in diesem Keller hortest, könnte man ganze Bücher füllen. Und ich wette, mehr als die Hälfte ist absolut zutreffend.“

In diesem Moment kam Astos zurück, im Schein seines silbernen Lichts flatterte ein Kobold und ihm hinterdrein - wie es auch Tom noch nie gesehen hatte - ein Koboldbaby. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Katzenbaby, kleine verquollene Augen und wenn es mit seinem Vater sprach, fiepte es herzzerreißend hoch. Beide hatten fuchsrotes Fell und gelbe Gluthien.

„Danke“, sagte Tom zu Astos.

Der Koboldvater richtete den Blick seiner grünen Augen auf ihn. „Du bist also der neue Reiter“, sagte er und musterte ihn. „Ich wusste, dass einer aus eurer Familie den Sprung erneut schaffen würde. So hartnäckig sind die wenigsten.“

Tom lächelte. „Ich heiße Tom“, sagte er.

„Ich bin Ruwyn und mein Sohn heißt Kryk. Astos sagte, wir sollten uns bei deinem Vater vorstellen.“

Reginald, dem die Kobolde immer am besten gefallen hatten (Tom vermutete, dass es daran lag, dass sie den ersten tatsächlichen Beweis für die Anderswelt geliefert hatten), schien sprachlos. Mit den Augen verschlang er jede Kontur ihrer Erscheinung, machte sich gedanklich Notizen ihrer Besonderheiten wie Färbung und Fellstruktur. Er war ganz in die Rolle des Wissenschaftlers gefallen.

Verstehen konnte er sie nicht; Tom übersetzte die hellen Laute, die die Kobolde von sich gaben. Er hatte Astos gebeten, seinem Vater ein magisches Wesen vorzustellen, das Glöckerlstadt und den Wald in absehbarer Zeit nicht verlassen würde; so konnte Reginald sich ihre Untersuchung zur Aufgabe machen, wenn Tom nicht mehr da war.

„Wir mögen deinen Vater“, sagte Ruwyn, der etwa fünf Handbreit vom Boden entfernt auf der Stelle flatterte und die Augen nicht von seinem Baby ließ. „Er hat Nahrungsmittel und Medizin, welche wir im Wald nicht bekommen können. Aber die meisten Waldbewohner haben Angst vor Menschen und viele meinten auch, er wäre an Piurs Tod schuld, weil er ihn mitnahm.“

„Was das betrifft …“, sagte Tom. „Wie ist der Kobold gestorben?“

„Es war ein Späher aus der dritten Pforte. Piur hatte seinen Wachtposten für kurze Zeit verlassen. Da traf ihn der Fluch zwischen die Schulterblätter.“ Ein Schatten legte sich auf das Ruwyns Gesicht. „Dein Vater war zufällig der erste, der ihn fand. Er hat mit seinem Tod nichts zu tun.“

„Weißt du, was ich mir überlegt habe, Tom?“, fragte Reginald in diesem Moment aufgeregt. Er hatte einen Notizblock gezückt und fertigte gerade eine grobe Skizzierung des Koboldbabys an. „Ich werde ein Buch über die magischen Wesen schreiben. Mit Zeichnungen, Steckbrief, allem drum und dran.“

„Du meinst wie ein Naturkundeführer?“ Tom konnte sich in etwa vorstellen, was der Großteil der magischen Wesen dazu sagen würde, wenn all ihre Geheimnisse auf ein paar Seiten für jeden nachzulesen geschrieben ständen.

„Das erste seiner Art.“ Reginald sah beinahe besessen aus. „Ich werde noch besser auf die verschiedenen Fährten im Wald Acht geben und vielleicht zeigen sich mir noch mehr der Wesen.“

„Du musst aber gut auf die Notizen aufpassen, Dad. Lass sie am besten keinen sehen. Sonst könnten ein paar der größeren Wesen ziemlich sauer auf dich werden.“

„Ich werde sie hüten wie meinen Augapfel“, sagte Reginald.

Tom Winter und der weiße Hirsch

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