Читать книгу Notarzt Dr. Winter Box 4 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 6

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»Ah, da sind Sie ja endlich«, sagte Andreas Wingensiefen, der Direktor des Hotels King’s Palace in Berlin, zu seiner attraktiven Assistentin Stefanie Wagner, als sie sein großzügiges Büro an diesem Morgen betrat.

Sie sah wieder einmal hinreißend aus, und er hätte nichts gegen eine kleine Affäre mit ihr gehabt, aber leider biß er bei ihr auf Granit: Von Anfang an hatte sie ihm deutlich seine Grenzen gezeigt. Das imponierte ihm wider Willen.

Außerdem mußte er zugeben, daß es in diesem Fall sicher besser war, wenn sich ihre Beziehungen auf das rein Geschäftliche beschränkten. Sie machte ihre Arbeit nämlich ganz ausgezeichnet, und wer konnte wissen, ob sich eine Affäre zwischen ihnen nicht negativ auf ihre Leistungen ausgewirkt hätte? Er hatte in dieser Hinsicht schon eine Menge Ärger gehabt – mit einer Sekretärin, mit einer jungen Rezeptionistin… Er seufzte, als ihm das wieder einfiel.

»Ja, da bin ich«, erwiderte Stefanie Wagner freundlich, aber zurückhaltend. »Sie hatten es ja sehr dringend gemacht, Herr Wingensiefen. Worum geht’s denn? Entschuldigen Sie, aber ich bin etwas in Eile. Sie wissen ja, daß wir heute diese Delegation aus Japan erwarten…«

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. Natürlich wußte er das, aber es interessierte ihn nicht sonderlich. Stefanie Wagner kümmerte sich um diese Dinge wirklich hervorragend, er sah keinen Sinn darin, sich auch noch einzumischen.

Wohlgefällig blickte er sie an. Sie war schlank, hatte aber dennoch eine sehr weibliche Figur. Die langen blonden Haare fielen in natürlichen Wellen über ihre Schultern, und sie hatte diese wunderschönen, veilchenfarbenen Augen, die er noch an keiner anderen Frau gesehen hatte. Schade, daß sie so eng zusammenarbeiteten. Wirklich schade. Sie wäre eine Sünde wert gewesen.

»Heute kommen nicht nur die Japaner, sondern auch zwei Gäste, die ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehlen möchte«, sagte er. Manchmal drückte er sich so geschraubt aus, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. »Es sind Geschäftsleute, der eine ist Amerikaner, der andere Russe. Sie leiten eine sehr große Elektronik-Firma und sind zum ersten Mal in Berlin, um hier Geschäfte zu machen. Die Stadt ist daran interessiert, daß die Firma hier vielleicht eine Niederlassung eröffnet, verstehen Sie?«

Stefanie nickte mit ausdruckslosem Gesicht. Natürlich verstand sie. Andreas Wingensiefen tanzte auf vielen Hochzeiten, er duzte sich mit den einflußreichsten Persönlichkeiten der Stadt. Irgendein Lokalpolitiker hatte ihm gegenüber in diesem Fall also durchblicken lassen, wie wichtig es für Berlin sei, daß diese Geschäftsleute hier den Himmel auf Erden vorfanden. »Die Herren werden keinen Grund haben, sich zu beschweren«, sagte sie ruhig. »War das alles?«

Er war mit ihrer Antwort nicht zufrieden. »Hören Sie, Frau Wagner«, erwiderte er lebhaft, »es reicht nicht, wenn die beiden sich nicht beschweren. Sie müssen völlig überwältigt sein von dieser Stadt und diesem Hotel. Das ist es, was ich sagen wollte. Geben Sie ihnen eine der Suiten zu einem Vorzugspreis und sorgen Sie dafür, daß ihre Wünsche bereits erfüllt werden, bevor sie sie überhaupt ausgesprochen haben.« Er war sichtlich stolz auf seine Formulierung.

»Wir versuchen, all unsere Gäste so zu behandeln«, gab sie spitz zurück.

Längst war es so, daß Stefanie Wagner von den Angestellten des Hotels als heimliche Chefin angesehen wurde – sie war diejenige, die dafür sorgte, daß alles reibungslos lief, während Andreas Wingensiefen zunehmend daran interessiert war, das Leben zu genießen.

Er schien ihre Spitze nicht wahrgenommen zu haben. Mit strahlendem Lächeln sagte er: »Dann ist ja alles klar, Frau Wagner. Und nun will ich Sie nicht länger von Ihren dringenden Aufgaben abhalten.«

Mit einem knappen Gruß wandte sich Stefanie zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Wie heißen die beiden Geschäftsleute, die so ganz besonders wichtig sind?«

»Wie?« fragte er verwirrt. »Ach, so, warten Sie mal, ich habe mir die Namen hier irgendwo notiert.« Er kramte in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum, während sie insgeheim bis zehn zählte, um ihre Nerven zu beruhigen.

Sie kam meistens gut mit ihm zurecht, weil er sie selbständig arbeiten ließ. Aber wenn er sich einmal einmischte, dann fand sie ihn ausgesprochen lästig. So wie jetzt.

Er schwenkte triumphierend einen Zettel und sagte: »Hier sind sie! Norman Jones und Jewgenij Popov. Sie werden heute abend eintreffen. Ich verlasse mich ganz auf Sie, Frau Wagner.«

»Aber Sie werden die Herren doch sicher begrüßen wollen, nehme ich an?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Leider kann ich heute abend nicht hier sein«, erwiderte er kurz. »Ich habe einen sehr wichtigen Termin außerhalb.«

Sie hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter. Sie war in den letzten Wochen keinen Abend vor elf aus dem Hotel gekommen – unter anderem, weil ihr Chef sie ständig gebeten hatte, ihn zu vertreten. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt deswegen Streit anzufangen – von einer Direktionsassistentin wurde nun einmal besonderer Einsatz verlangt.

Sie begnügte sich mit einem kurzen: »Auf Wiedersehen« und schloß dann etwas heftiger die Tür hinter sich. Auf dem Flur atmete sie erst einmal tief durch, dann rannte sie auf ihren hohen Absätzen zum nächsten Aufzug, um endlich mit den Arbeiten zu beginnen, die sie selbst für wirklich wichtig hielt.

*

Dr. Adrian Winter und Dr. Julia Martensen rangen verzweifelt um das Leben eines höchstens zwölfjährigen Jungen, der ohne Bewußtsein und mit mehreren Schuß­verletzungen in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden war.

»Die Opfer werden immer jünger«, murmelte der junge Chefarzt Dr. Winter, der die Notaufnahme der Klinik seit einiger Zeit leitete. Er war erst fünfunddreißig Jahre alt, hatte sich aber durch sein großes Engagement und seine hervorragenden medizinischen Leistungen schnell die Achtung von Kollegen und Patienten erworben. »Elf, zwölf Jahre – und er hat mindestens fünf Kugeln im Körper, Julia.«

»Sobald er stabil ist, muß er nach oben in den OP«, erwiderte die attraktive Internistin. Sie war mehr als zehn Jahre älter als Dr. Winter und arbeitete sehr gern in der Notaufnahme. Die beiden vertrauten einander und brauchten bei der Arbeit nicht viele Worte zu wechseln, um sich zu verständigen. »Die Bauchverletzung gefällt mir nicht, Adrian. Ich fürchte, die Milz ist verletzt – er wird verbluten, wenn er nicht schnell operiert wird.«

»Ich weiß«, brachte Adrian zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, »aber der Kreislauf spielt nicht mit.«

Der Junge stöhnte gurgelnd und riß die Augen auf. Er stieß ein paar unverständliche Worte aus und schloß sie wieder. »Ein Russe, das dachte ich mir«, meinte Julia.

»Wieso?« fragte Adrian erstaunt.

»Intuition«, antwortete Julia.

Schweigend arbeiteten sie weiter. Monika Ullmann, eine sehr erfahrene Krankenschwester, teilte ihnen mit, daß ein Operationsteam für den Jungen bereitstehe, und schließlich sagte Adrian: »Gut, ich glaube, jetzt können wir es riskieren. Ab nach oben mit ihm. Ich hoffe sie können ihn retten.«

»Ich fahre mit hoch«, erklärte Julia, »dann geht es schneller.«

»Danke«, sagte Adrian. Die Fahrstuhltüren hatten sich noch nicht ganz hinter dem Patienten und der Ärztin geschlossen, als er sich bereits über den nächsten Verletzten beugte: Ein schwerer Unfall hatte sich an einer großen Charlottenburger Kreuzung ereignet, und da die Kurfürsten-Klinik am nächsten lag, hatte man die vier Unfallopfer dorthin gebracht. Obwohl es noch recht früh am Morgen war, stand bereits fest, daß es für das Notaufnahme-Team ein harter Tag werden würde.

*

»Frau Hanson, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« bat Stefanie Wagner die junge Amerikanerin, die erst seit wenigen Monaten im Hotel arbeitete, ihr seitdem aber schon mehrmals positiv aufgefallen war. Linda Hanson war perfekt zweisprachig, und sie war von bezaubernder Liebenswürdigkeit. Viele Gäste wandten sich am liebsten an sie, wenn sie an der Rezeption war, das hatte Stefanie längst festgestellt. Sie beglückwünschte sich selbst dazu, daß es ihr gelungen war, diese außerordentliche junge Frau für das Hotel zu gewinnen.

Gelegentlich half Linda Hanson ihr auch im Büro, und seitdem war Stefanies Leben einfacher, denn die junge Amerikanerin nahm ihr eine Menge unerfreulicher Arbeiten ab. Es hatte sich zum Beispiel herausgestellt, daß sie eine äußerst geschickte Art hatte, mit Beschwerden der Gäste umzugehen. Ihrem Charme konnte nicht einmal der größte Griesgram widerstehen – und zum Glück versagte ihre Wirkung auch bei den weiblichen Gästen nicht.

Linda Hanson war zwar Amerikanerin, aber sie hatte, fand Stefanie, einen leicht asiatischen Einschlag – ein Eindruck, der vermutlich durch ihre etwas schräg stehenden dunklen Augen hervorgerufen wurde.

Einer der Gäste, der sein Herz an Linda verloren hatte, ohne daß es ihm gelungen wäre, ihr näherzukommen, hatte schwärmerisch von ihren »Mandelaugen« gesprochen. Das hatte Stefanie eines Abends zufällig gehört, und sie hatte amüsiert in sich hineingelächelt.

»Ja, natürlich, Frau Wagner. Kann ich etwas für Sie tun?«

Stefanie nickte. »Lassen Sie uns einen Augenblick in Ihr Büro gehen, bitte.«

Linda Hanson ging voran, Stefanie folgte ihr. Sie kam sofort zur Sache. »Wir erwarten zwei Gäste, die offenbar nicht nur für dieses Hotel, sondern auch für die Stadt von großer Wichtigkeit sind. Jedenfalls bittet die Direktion darum, daß die beiden ganz besonders zuvorkommend behandelt werden.«

Sie reichte Linda einen Zettel, auf dem sie die Namen der Gäste und ihre vermutliche Ankunftszeit notiert hatte. »Sie haben ja heute abend ebenfalls Dienst, nicht wahr? Würden Sie mir Bescheid sagen, wenn die beiden hier sind? Und würden Sie Ihre Kollegen bitte ebenfalls vorwarnen? Um den Zimmerservice kümmere ich mich jetzt gleich selbst. Die beiden bekommen die blaue Suite. Über den Preis muß ich noch einmal nachdenken.«

Linda besah sich die Namen auf dem Zettel und staunte. »Ein Amerikaner und ein Russe?« fragte sie.

Stefanie nickte. »Ja. Sie sind Geschäftspartner – Elektronik, glaube ich. Angeblich planen sie, hier in Berlin eine Niederlassung ihrer Firma aufzumachen. Das bedeutet Arbeitsplätze und Steuereinnahmen – beides ein Segen für die Stadt.«

»Ich verstehe«, sagte Linda. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Wagner. Wir werden die beiden gebührend empfangen.«

»Aber vergessen Sie mir darüber die Japaner nicht«, mahnte Stefanie besorgt. »Nicht, daß die sich irgendwie zurückgesetzt fühlen, wenn sie merken, daß es Unterschiede in der Behandlung der Gäste gibt. Das will ich auf keinen Fall.«

»Sie können sich auf uns verlassen, Frau Wagner!« versicherte Linda Hanson noch einmal.

Als Stefanie ihr lächelndes Gesicht sah, entspannte sie sich unwillkürlich. »Ja, ich weiß«, sagte sie und lächelte ebenfalls.

Es klopfte leise an der Tür, und ein blonder junger Mann kam herein. Als er Stefanie Wagner sah, errötete er bis unter die Haarwurzeln und wollte den Raum sofort wieder verlassen. »Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, stammelte er. »Ich komme dann später noch einmal wieder.«

Stefanie warf einen raschen Blick zu Linda Hanson hinüber, deren Gesicht ebenfalls von einem rosigen Schimmer überzogen war. Zwischen den beiden bahnte sich offenbar eine Liebesgeschichte an. Das freute sie sehr, denn auch der junge Mann war ihr ausgesprochen sympathisch.

Bevor er sich zurückziehen konnte, sagte sie freundlich: »Bleiben Sie ruhig hier, Herr Simonis. Wir sind schon fertig, Frau Hanson und ich.«

Mit einem leichten Kopfnicken verließ sie das Büro und eilte in die blaue Suite, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß es dort auch wirklich an nichts fehlte, um den beiden wichtigen Herren einen gebührenden Empfang zu bereiten.

*

»Ich mußte dich einfach kurz sehen«, sagte Peter Simonis leise zu Linda Hanson und griff nach ihrer Hand. »Meinst du, Frau Wagner hat etwas gemerkt? Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen, tut mir leid, daß ich hier einfach so hereingeplatzt bin.«

»Frau Wagner ist sehr nett«, erwiderte Linda. »Ich glaube nicht, daß es schlimm wäre, wenn sie etwas gemerkt hätte.«

Er umarmte sie und gab ihr einen schüchternen, zärtlichen Kuß, den sie ebenso zärtlich erwiderte. Einige Sekunden standen sie eng umschlungen da, dann zog er sie fester an sich, sein Kuß wurde leidenschaftlicher.

Doch im selben Augenblick schob sie ihn sanft zurück. »Nicht, Peter«, bat sie. »Jeden Augenblick kann jemand hereinkommen, das wäre mir wirklich unangenehm. Außerdem muß ich wieder nach vorn. Ich will die Kollegen nicht so lange allein lassen.«

Er drängte sie nicht. Liebevoll strich er ihr eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn doch nur alle in diesem Hotel so pflichtbewußt wären wie du!« sagte er.

»Ach, du übertreibst«, meinte sie. »So pflichtbewußt bin ich nun auch wieder nicht.«

»Ich weiß, was ich weiß. Dann geh’ ich eben wieder!« sagte er lächelnd. »Wir wollen den neuen Werbeprospekt noch einmal überarbeiten – ich habe auch schon einige Ideen. Sehen wir uns später noch?«

»Ich habe heute abend Dienst«, sagte sie bedauernd. »Das ist einer von diesen endlos langen Tagen, weißt du.«

»Dann komme ich dich später noch einmal besuchen, wenn ich gehe, und wir sehen uns morgen«, meinte er und gab ihr einen weiteren Kuß, bevor er endlich verschwand.

Sie wartete noch einen Augenblick, strich sich das Kostüm glatt, kontrollierte ihr Make-up in einem kleinen Taschenspiegel und kehrte schließlich, in perfekter Aufmachung wie immer, an die Rezeption zurück.

*

Eine Stunde, bevor das Flugzeug in Berlin landen sollte, orderten Norman Jones und sein russischer Geschäftspartner Jewgenij Popov eine Flasche Champagner bei der attraktiven Flugbegleiterin. Sie vertrugen beide eine Menge Alkohol, und sie tranken beide gern. Nach einigen Wodkas und Martinis würde der Champagner jetzt einen angenehmen Abschluß bilden und sie in genau die richtige Stimmung versetzen für ihren ersten Abend in Berlin. Jede Menge Alkohol und gutes Essen, ein paar hübsche Mädchen, mehr brauchten sie nicht. Morgen würden sie ausschlafen und ab mittags ihren Geschäften nachgehen, von denen sie jetzt schon wußten, daß sie reibungslos laufen würden.

In Deutschland waren manche Politiker so wild auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, daß es gereicht hatte, mit der Gründung einer Firmenniederlassung zu winken, um auf offene Ohren zu stoßen. Das Grundstück würden sie äußerst günstig erwerben können, über die Höhe der Steuern ließ sich verhandeln – und bei den Baufirmen, die man beauftragen würde, war alles eine Frage des Schmiergeldes. Da sie Geld genug hatten, nahmen sie an, daß Ihnen Berlin bald gehören würde, denn mit Geld konnte man alles kaufen, das war die Lektion, die sie beide gelernt hatten.

»Wie heißt das Hotel?« erkundigte sich Jewgenij. Er war jünger als Norman und verfügte über ­weniger Erfahrung im internationalen Geschäftsleben – aber er war­ äußerst gerissen und lernte schnell. Er war mittelgroß, drahtig und blond, mit blauen Augen, die er oft hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verbarg, weil er fand, daß er dann beeindruckender wirkte.

»King’s Palace«, antwortete Norman. »Ist ein deutsches Hotel, trotz des englischen Namens. Soll das beste Haus am Platz sein. Ich bin gespannt.« Norman war ein Riese von einem Meter neunzig, der seine Heimat Texas nicht verleugnen konnte. Sein Gesicht war von der Sonne und Wind gebräunt und mit feinen Falten durchzogen, und er trug spitze Cowboystiefel zu seinem Anzug, was seinem Aussehen etwas Verwegenes verlieh.

Auch er war blond und hatte blaue Augen, aber niemals hätte er sich wie sein russischer Freund eine Sonnenbrille aufgesetzt. Er fand das albern, ließ Jewgenij aber gewähren. Der Junge war noch ein bißchen grün hinter den Ohren, aber er war begabt, da konnte man ihm kleine Geschmacklosigkeiten durchgehen lassen.

Der Champagner war ausgezeichnet, sie genossen ihn schweigend. Es gab ohnehin nicht mehr viel zu bereden. Ihre Ziele waren klar, ihre Termine standen fest – sie mußten jetzt nur noch Nägel mit Köpfen machen.

*

Der Anruf erfolgte, als Dr. Adrian Winter sich gerade bereit machte, nach Hause zu gehen. Der Tag war lang und hart gewesen, er freute sich auf einen ruhigen Abend und ein paar Stunden Schlaf.

»Können Sie noch bleiben, Herr Dr. Winter?« fragte Thomas Laufenberg, der Verwaltungsdirektor, zu dem Adrian noch immer ein ziemlich distanziertes Verhältnis hatte, obwohl er ahnte, daß es gerade Laufenberg gewesen war, der sich für seine Ernennung zum Chefarzt stark gemacht hatte.

Die Stimme des Verwaltungsdirektors klang angespannt, als er weitersprach. »Mich hat soeben ein Anruf erreicht, daß zwei Ihrer Kollegen in einen Unfall verwickelt sind und ihren Dienst in der Notaufnahme auf keinen Fall aufnehmen können. Wir versuchen natürlich, Sie möglichst rasch abzulösen, aber…«

»Sprechen Sie nicht weiter«, bat Adrian ihn ungeduldig. »Sonst riskieren Sie, daß ich Ihnen wieder einen meiner Vorträge über die Personalsituation in der Notaufnahme halte! Natürlich bleibe ich hier, aber ich wäre Ihnen tatsächlich dankbar, wenn mich bald jemand ablösen könnte. Ich bin seit heute morgen um fünf auf den Beinen.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte der Verwaltungsdirektor förmlich und legte ohne ein weiteres Wort auf.

»Was gibt’s?« fragte Julia Martensen.

»Mein Dienst verlängert sich«, antwortete Adrian. »Das war Herr Laufenberg – zwei Ärzte von der nächsten Schicht hatten einen Unfall. Ersatz gibt es offenbar noch nicht, also bleibe ich hier.«

»Ich könnte auch bleiben«, bot sie ihm spontan an.

Er wehrte ab. »So weit kommt es noch, Julia! Die sollen uns endlich ein paar zusätzliche Ärzte bewilligen, damit wir nicht immer wieder in solche Situationen geraten. Aber das wird nie passieren, wenn wir ständig beweisen, daß es auch so geht. Was macht übrigens unser russischer Junge? Ich wollte dich die ganze Zeit schon danach fragen.«

»Er lebt«, antwortete Julia, doch sie kam nicht dazu, ihm mehr über den Jungen mit den Schußverletzungen zu erzählen, denn in diesem Augenblick stürmten zwei Sanitäter mit einem weiteren blutüberströmten Patienten herein.

»Er kriegt keine Luft!« rief einer der Männer. »Schnell, helfen Sie uns!«

»Ich bleibe«, sagte Julia knapp, und diesmal widersprach Adrian ihr nicht. Dann beugten sie sich auch schon gemeinsam über den Patienten.

*

»Frau Wagner?«

Im ersten Augenblick erkannte Stefanie die gedämpfte Stimme überhaupt nicht. Sie saß in ihrem Büro und erledigte alles, was tagsüber liegengeblieben war – und das war leider wieder einmal eine ganze Menge. Selbst wenn sie nicht auf die beiden wichtigen Gäste hätte warten müssen, wäre es ihr nicht möglich gewesen, das Hotel zeitig zu verlassen. Sie hatte einfach zuviel Arbeit!

»Frau Wagner, die Herren sind angekommen.«

Jetzt endlich wußte Stefanie, mit wem sie sprach. »Frau Hanson!« rief sie. »Ich habe Ihre Stimme gar nicht erkannt.«

Immer noch sprach die junge Rezeptionistin gedämpft. »Ich bin ins Büro gegangen. Können Sie gleich kommen? Die beiden – ich weiß nicht, die sind mir irgendwie unheimlich. Die sehen nicht wie seriöse Geschäftsleute aus. Eher wie…« Sie beendete den Satz nicht.

»Wie was?« fragte Stefanie.

»Wie – Gangster. Ich bin im Augenblick allein hier, und die beiden gefallen mir ganz und gar nicht.«

»Ich bin sofort bei Ihnen, Frau Hanson. In einer Minute!«

Eilig verließ Stefanie ihr Büro und betrat den Fahrstuhl.

»Gangster« war ein hartes Wort, und sie war sehr neugierig, was die junge Rezeptionistin wohl veranlaßt haben mochte, sich so auszudrücken.

Wenige Augenblicke später wußte sie es. Der eine war recht klein und trug trotz des fortgeschrittenen Abends eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, so daß man seine Augen nicht sehen konnte, und der andere, der ihn um mindestens zwei Köpfe überragte, sah aus wie aus einem schlechten Film entstiegen mit seinen spitzen ­Cowboystiefeln zum unverkennbar teuren Anzug. Aber nur weil man merkwürdig aussah, war man noch lange kein Gangster. Sie mußte mit Linda Hanson darüber reden. Vielleicht sah die junge Frau zu viele Filme?

Doch als sie sich den beiden Gästen vorstellte, schlug ihr Alkoholgeruch entgegen, und der Kleinere der beiden nahm die Sonnenbrille nur ab, um sie mit Blicken zu taxieren, für die sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Der Größere, der sich als Norman Jones vorstellte, war zwar etwas zurückhaltender, aber viel seriöser als sein Geschäftsfreund wirkte er auch nicht. Er hielt ihre Hand entschieden zu lange fest und schien davon überzeugt zu sein, daß sie sich geschmeichelt fühlen mußte.

Sie verstand Linda Hanson nun besser. Die beiden waren vielleicht keine Gangster, aber sie gehörten auch nicht zu den Gästen, die das King’s Palace normalerweise beherbergte. »Bitte, kommen Sie, damit ich Ihnen Ihre Suite zeigen kann«, sagte sie höflich auf Englisch.

»Aber sicher, Schätzchen«, erwiderte Jewgenij Popov grinsend. »Sie können uns auch gern noch mehr zeigen, wir hätten nichts dagegen.« Sein Englisch war fehlerlos, aber er sprach mit starkem Akzent.

Stefanie tat, als habe sie seine Bemerkung nicht gehört. Verflixt, dachte sie, warum muß ich das jetzt machen? Bei Herrn Wingensiefen hätten diese Typen sich wirklich niemals getraut, sich so zu benehmen – so etwas wagen sie nur, wenn sie es mit einer Frau zu tun haben.

Es war ihr unangenehm, mit den beiden im Aufzug zu fahren, aber außer einigen anzüglichen Blicken ließen sie sich nichts zuschulden kommen. Sie beeilte sich, ihnen die Suite zu zeigen, erklärte ihnen alles, was sie wissen mußten, und wollte sich wieder verabschieden.

»Einen Augenblick noch«, sagte Herr Popov. »Wo gibt’s denn hier Mädchen?«

Sie gab vor, ihn nicht zu verstehen. »Mädchen?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Na ja, wir wollen ein bißchen Spaß haben, Sie verstehen schon! Können Sie uns nicht ein paar herschicken?«

»Tut mir leid«, sagte Stefanie mit ausdruckslosem Gesicht. »Ich fürchte, das kann ich nicht. Aber ich bin sicher, wenn Sie sich ein Taxi nehmen, wird man Ihnen gern alles zeigen, was Sie sehen möchten.«

Sie ging mit schnellen Schritten zur Tür und verließ das Zimmer.

»Warum haben wir nicht gleich die genommen?« murrte Jewgenij. »Die und die Kleine an der Rezeption – die sind doch beide erste Sahne. Und wenn sie sich ein bißchen sträuben, dann macht es noch mehr Spaß. Hinterher geben wir ihnen zweitausend Dollar, dann halten sie garantiert den Mund.«

Sein amerikanischer Kollege nickte.

»Vielleicht später«, murmelte er. »Jetzt baden wir erst einmal, lassen uns noch ein paar kräftige Drinks und was Ordentliches zu essen kommen – dann sehen wir weiter.«

*

Es war bereits nach einundzwanzig Uhr, als Dr. Adrian Winter sich schweren Herzens entschloß, seine Nachbarin Carola Senftleben anzurufen. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen, was sie oft tat. Diese Abendessen in Frau Senftlebens großzügiger und sehr gemütlicher Küche waren in seinem, aber auch in ihrem Leben zu einem festen Bestandteil geworden, den sie beide nicht mehr hätten missen wollen.

Obwohl Frau Senftleben mehr als dreißig Jahre älter war als ihr junger Nachbar, verbanden sie viele gemeinsame Interessen, und sie hatten sich noch nie miteinander gelangweilt. Heute abend aber mußte er ihr absagen, obwohl sie ein ganz besonderes Essen vorbereitet hatte.

Er wählte ihre Nummer. Wenig später klang, leicht atemlos, ihre vertraute Stimme an sein Ohr: »Senftleben.«

»Frau Senftleben, Sie müssen allein essen«, sagte er, ohne auch nur seinen Namen genannt zu haben. Sie würde sowieso sofort wissen, wer am Apparat war.

»Adrian, was ist passiert? Stecken Sie etwa immer noch in der Klinik?«

»Ja, leider.« Er berichtete ihr, wieso sich sein Dienst verlängert hatte. »Und bis jetzt ist noch keine Ablösung in Sicht, ich muß also bleiben. Tut mir wirklich leid, Sie wissen ja, wie sehr ich von Ihren Kochkünsten begeistert bin.«

Sie lachte vergnügt. »Mal sehen, ob ich Ihnen etwas davon aufheben kann.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es ist ein Jammer – das ist kein Essen, das man gern allein zu sich nimmt. Außerdem finde ich es unverantwortlich, daß man Sie so lange arbeiten läßt. Sie müssen doch schon fast umfallen vor Müdigkeit!«

»Ja, das tue ich auch, aber was soll ich machen? Zu Ihrer Beruhigung: Beim Anblick eines Patienten werde ich jedesmal sofort hellwach, Sie müssen sich also keine Sorgen um die Menschen machen, die mir anvertraut werden.«

»Hauptsächlich mache ich mir Sorgen um Sie!« sagte sie energisch. Im nächsten Augenblick hörte er einen spitzen Aufschrei, gefolgt von einem hastigen Ausruf: »Mein Essen!« – dann war die Verbindung unterbrochen.

Adrian lachte vor sich hin. Er konnte nur hoffen, daß ihr wegen seines Anrufs nichts angebrannt war. Das hätte sie ihm sicher nie verziehen.

*

»Alles in Ordnung?« fragte Stefanie Wagner, als sie etwa anderthalb Stunden nach Ankunft von Norman Jones und Jewgenij Popov das Hotel verlassen wollte.

Linda Hanson nickte. »Tut mir leid, ich habe wohl ein bißchen übertrieben vorhin«, sagte sie verlegen. »Aber als ich diese Sonnenbrille sah und diese aufdringlichen Blicke…«

»Ich dachte zuerst auch, Sie hätten übertrieben«, erwiderte Stefanie offen. »Aber jetzt bin ich gar nicht mehr so sicher. Ich finde die beiden auch sehr unangenehm.«

Das Telefon klingelte, und Linda meldete sich liebenswürdig. Im nächsten Augenblick verzog sie das Gesicht und sagte dann höflich: »Frau Wagner ist hier. Sie haben Glück, daß Sie sie noch erreichen, Herr Jones.« Sie reichte Stefanie den Hörer.

»Herr Jones?«

»Könnten Sie noch einmal kommen, Frau Wagner? Dies soll doch angeblich eine Suite sein, nicht wahr? Ich weiß ja nicht, was für Personal Sie beschäftigen, aber das Bad ist nicht einwandfrei, eines der Handtücher hatte einen Fleck, und nun entdecken wir auch noch, daß eines der Fernsehprogramme nur sehr schlecht empfangen werden kann…«

»Ich komme sofort und sehe mir das an, Herr Jones«, erklärte Stefanie mit erzwungener Ruhe. Dann legte sie langsam den Hörer auf.

»Was ist los?« fragte Linda Hanson beunruhigt.

»Ach, es ist die Sorte Gäste, die durch Reklamationen versucht, den Zimmerpreis zu drücken«, antwortete Stefanie grimmig. »Sie wollen, daß ich mir das noch einmal persönlich ansehe: Bad nicht sauber, Flecken in den Handtüchern…«

»Das ist meine Aufgabe!« sagte Linda sofort. »Um Reklamationen kümmere ich mich.« Sie drehte sich um, gab ihrem Kollegen Bescheid und verließ die Rezeption.

»Na, schön«, sagte Stefanie lächelnd, »dann machen wir es in diesem Fall eben gemeinsam. Zu zweit ist es auch nicht ganz so unangenehm.«

Linda nickte, die Erleichterung war ihr anzusehen. »Danke«, sagte sie. »Ein bißchen unbehaglich fühle ich mich wirklich bei dem Gedanken an diese beiden, die angeblich so besonders wichtig sein sollen.«

»Sie haben nun einmal viel Geld«, meinte Stefanie. Sie nahmen den Fahrstuhl, der sie geräuschlos direkt bis vor die blaue Suite brachte. Stefanie klopfte.

»Kommen Sie herein, die Tür ist offen!« rief Norman Jones.

Zögernd traten sie ein, und schon wurde die Tür wieder hinter ihnen geschlossen – es war Jewgenij Popov, der das übernommen hatte. Er trug einen Bademantel und grinste breit. Die Sonnenbrille trug er immer noch. Auch Norman Jones, der am Fenster stand, trug einen Bademantel.

Im selben Moment wußte Stefanie, daß es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Linda und bemerkte, daß diese sehr blaß geworden war und angefangen hatte zu zittern.

»Und sie sind sogar beide auf einmal gekommen!« freute sich Jewgenij Popov. »Da müssen wir uns ja gar nichts mehr ausdenken, um die andere auch noch hierherzulocken. Hört zu, wir geben jeder von euch zweitausend Dollar – dafür werdet ihr ja wohl bereit sein, uns ein bißchen zu verwöhnen!«

»Fall doch nicht immer gleich mit der Tür ins Haus, Jewgenij!« rügte Norman Jones. »Du hast die Damen erschreckt. Wir sollten ihnen erst einmal etwas zu trinken anbieten.«

»Sie hatten Reklamationen, deshalb sind wir hier«, sagte Stefanie kalt. »Würden Sie uns jetzt bitte zeigen, was nicht in Ordnung ist?«

Die beiden Männer lachten. Sie waren offenbar mittlerweile ziemlich betrunken und schienen alles für einen Witz zu halten. Norman näherte sich Linda, die einen Schritt zurückwich und sich dabei an Stefanie festkrallte.

»Na, na«, murmelte er. »Nun stell dich mal nicht so an, Süße.« Grob griff er nach ihr und riß sie an sich. Sie fing an zu schreien.

Im nächsten Augenblick war Stefanie bei ihm und begann auf ihn einzuschlagen. »Lassen Sie sie los!« rief sie. »Lassen Sie sie sofort los – oder Sie können was erleben!«

Doch sie erreichte nur, daß Norman Jones noch lauter lachte. Er hob Linda auf, als sei sie eine Puppe, und warf sie aufs Bett. Linda fing an zu wimmern wie ein kleines Kind.

Nun ging Jones’ russischer Kollege zum Angriff über, aber Stefanie hatte sich mittlerweile daran erinnert, daß sie einmal einen Selbstverteidigungskurs mitgemacht hatte. Sie rammte ihm ihr Knie in den Unterleib und war so schnell am Telefon, daß keiner der beiden sie daran hindern konnte, eine Nummer zu wählen. »Blaue Suite – Hilfe!« keuchte sie.

Weiter kam sie nicht. Ein furchtbarer Schlag auf den Hinterkopf traf sie. Während sie das Bewußtsein verlor, hörte sie Linda Hansons Schreie, die immer durchdringender zu werden schienen.

*

»Sie hat offenbar einen schweren Schock, es ist kein Wort aus ihr herauszubringen!« sagte einer der Sanitäter zu Julia Martensen und Adrian Winter, als er zusammen mit einem Kollegen eine hübsche, dunkelhaarige, junge Frau mit völlig verstörtem Blick in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik brachte. Sie hatte beide Arme um ihren Körper geschlungen und wiegte sich langsam hin und her, wobei sie eine merkwürdige, fremdartige Melodie summte. Sie schien völlig geistesabwesend zu sein.

»Wir haben sie auf der Straße gefunden – in der Nähe hat es einen merkwürdigen Überfall gegeben. Aber wir wissen nicht, ob sie etwas damit zu tun hat. Sie ist völlig verstört herumgelaufen und hat geweint und geschrien, aber sie sagt nichts. Wir wissen nicht, wie sie heißt, wo sie wohnt, gar nichts. Tut mir leid, daß wir keine weiteren Informationen für Sie haben.«

»Trotzdem vielen Dank«, sagte Adrian, und die Sanitäter verabschiedeten sich.

Behutsam führten sie die junge Frau zu einer Untersuchnungsliege, lagerten ihre Beine ein wenig erhöht, hüllten sie in warme Decken und legten ihr eine Infusion an. Außerdem setzte Julia ihr eine Sauerstoffmaske auf, während sie die ganze Zeit beruhigend mit ihr sprach.

Adrian war es schließlich, dem auffiel, daß die Patientin ihm gegenüber ängstlich darauf bedacht war, Abstand zu wahren.

»Mir scheint, ihre Angst richtet sich hauptsächlich gegen Männer«, sagte er leise zu Julia. »Willst du es von jetzt an allein versuchen? Vielleicht hat jemand versucht, sie zu vergewaltigen.«

Julia Martensen nickte. Adrian zog sich zurück.

»Sie müssen keine Angst mehr haben«, sagte Julia freundlich zu der jungen Frau, deren Blick ganz leer war. »Ich werde Sie jetzt untersuchen, damit ich Ihnen helfen kann.«

Die Patientin schüttelte wild den Kopf und fing erneut an zu wimmern. »Nein, nein, nein, nein«, sagte sie mit monotoner Stimme.

»Ist ja gut«, sagte Julia ruhig. »Ich tue nichts, was Sie nicht wollen. Ich setze mich nur hier neben Sie und halte Ihre Hand. In Ordnung? Hier kann Ihnen nichts passieren, niemand wird Ihnen etwas tun.«

Sie wußte nicht, wie lange sie so mit der jungen Frau sprechen mußte, bis diese sich endlich so weit beruhigt hatte, daß Julia ihr eine Spritze geben konnte. Kurz darauf schlief die Patientin ein.

Julia stand auf und rief leise: »Adrian?«

Er kam sofort. »Schläft Sie?«

»Ich habe ihr noch eine Spritze gegeben, aber ich habe leider kein Wort aus ihr herausbekommen, und sie wollte sich auch nicht untersuchen lassen.«

Adrian schüttelte ratlos den Kopf. »Ich habe mir das noch einmal überlegt mit der Vergewaltigung: Dann müßte ihre Kleidung anders aussehen. Nichts ist zerrissen oder zerknittert oder verschmutzt. Aber die Frau hat panische Angst, das ist unübersehbar, also muß ihr etwas Schreckliches zugestoßen sein.«

»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte sie nachdenklich. »Der Sanitäter hat doch vorhin etwas von einem Überfall gesagt? Hat er erzählt, wo sich dieser Überfall abgespielt hat? Vielleicht hatte unsere Patientin ja doch etwas damit zu tun.«

»Wir hätten gleich danach fragen sollen«, meinte Adrian. »Du hast natürlich recht. Wir müssen uns erkundigen, was für ein Überfall das war. Ich mache das, geh’ du wieder zurück zu ihr, Julia.«

Sie nickte und verschwand, doch Adrian kam nicht dazu, sich zu informieren, denn es kamen bereits weitere Patienten, die dringend behandelt werden mußten. Und die Kollegen, die ihn endlich ablösen sollten, waren auch noch immer nicht in Sicht. Er war schließlich so müde, daß er die Sache mit dem Überfall einfach vergaß.

*

Als Stefanie Wagner aufwachte, war sie ganz sicher, daß sie träumte. In ihrer Wirklichkeit gab es keine strahlend weißen Wände. Und dieses Gesicht, das sich besorgt über sie beugte, gab es auch nicht. Sie hatte es noch nie gesehen.

»Jetzt bleiben Sie mir bloß wach«, sagte die Stimme, die zu diesem Gesicht gehörte. Es war eine freundliche, weibliche Stimme, die echt besorgt klang. »Sie waren schon ein paarmal wach, sind aber jedesmal sofort wieder bewußtlos geworden. Ich bin übrigens Dr. Kleinfeld.«

»Angenehm«, murmelte Stefanie. »Sind Sie sicher, daß ich wach bin?«

Das freundliche, nicht mehr junge Gesicht über ihr verzog sich zu einem Lächeln. »Ganz sicher – schließlich reden wir ja miteinander.«

Stefanie wollte nicken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Mein Kopf!« stöhnte sie.

»Am besten wäre es, wenn Sie sich möglichst wenig bewegen«, sagte Frau Dr. Kleinfeld. »Jemand hat Ihnen heftig eins übergebraten.«

Stefanie verstand sie nicht, und die Ärztin lächelte reumütig. »Entschuldigen Sie, wir reden hier manchmal so, damit wir das, was wir jeden Tag zu sehen bekommen, besser ertragen können. Jemand hat Sie niedergeschlagen, wollte ich zum Ausdruck bringen. Mit einem ziemlich heftigen Schlag auf den Kopf – Sie können von Glück sagen, daß die zwei Herren so beherzt eingegriffen und den Räuber in die Flucht geschlagen haben. Die beiden sind auch verletzt worden, konnten aber vor Ort behandelt werden – einer hatte ein blaues Auge, der andere eine geplatzte Oberlippe, mehr ist ihnen nicht passiert.«

»Zwei Herren?« fragte Stefanie mühsam. »Was denn für Herren?« Du liebe Zeit, wie fühlte sie sich elend. Dann fiel ihr etwas ein. »Ist Frau Hanson auch hier?«

Die Ärztin warf ihr einen forschenden Blick zu und entschied sich dann, die Fragen der Patientin nicht zu beantworten – zumal sie von einer Frau Hanson nichts wußte.

»Ich erzähle Ihnen später, was passiert ist«, erklärte sie rasch. »Vielleicht erinnern Sie sich ja auch bis dahin wieder an alles. Ich werde Ihnen noch etwas gegen die Schmerzen geben, und dann schlafen Sie am besten, Frau Wagner.«

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

»Von Ihren Kollegen im Hotel«, erklärte die Ärztin.

»Wo bin ich eigentlich?«

»Auf der Inneren Station der Charité. Die Notaufnahme hat Sie zu uns geschickt – Sie werden ein bißchen bleiben müssen, wegen Ihres Kopfes.«

»Charité«, murmelte Stefanie, und die Ärztin glaubte, so etwas wie Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören.

»Wären Sie lieber woanders?« fragte sie behutsam.

»Ach«, murmelte Stefanie, »ich kenne einen Arzt in der Kurfürsten-Klinik – Notaufnahme…« Mit diesen Worten schlief sie wieder ein.

Frau Dr. Kleinfeld mußte nicht lange nachdenken, bis ihr ihre Kollegin Esther Berger einfiel.

Sie arbeitete auf der Kinderstation und hatte einen Zwillingsbruder, der die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik leitete. Vielleicht würde es nicht schaden, sie zu fragen, ob sie Frau Wagner zufällig kannte.

Sie verließ leise das Patientenzimmer und ging zu einem Telefon. Doch Dr. Berger hatte in dieser Nacht keinen Dienst und auch an den folgenden Tagen nicht.

Sie hatte eine Woche Urlaub genommen.

Nun ja, dachte Dr. Kleinfeld, wahrscheinlich hatte die Patientin sowieso nicht Frau Bergers Bruder gemeint – die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik war schließlich sehr groß, dort arbeiteten viele Ärzte.

Sie setzte ihre Runde durch die Patientenzimmer fort – auf der Inneren war in dieser Nacht eine Menge los, sie hatte noch keine freie Minute gehabt, und es zeigte sich bald, daß es noch eine Weile so bleiben würde.

*

»Und wieso hatten Sie Bademäntel an?« erkundigte sich der Kriminalkommissar.

Norman Jones übernahm es zu antworten. Er hatte dafür gesorgt, daß Jewgenij seine Sonnenbrille in der Tasche ließ, und so machten sie beide, fand er, einen seriösen Eindruck, wenn man von den Verletzungen absah, die sie sich gegenseitig noch schnell verpaßt hatten, bevor einige Hotelbedienstete in die Suite gestürzt waren.

Diesen hatten sie erklärt, man habe sie überfallen und Stefanie Wagner niedergeschlagen – von der anderen jungen Frau fehlte merkwürdigerweise jede Spur, aber um die machte er sich keine Gedanken. Sie war ja so hysterisch gewesen, daß es leicht sein würde, alles zu entkräften, was sie sagte.

Dennoch: Jewgenijs und seine Geschichte war nicht unbedingt hieb- und stichfest, aber es gab, zumindest im Augenblick, niemanden, der sie hätte widerlegen können. Und bis die beiden Frauen wieder auftauchten, würden sie das Hotel längst verlassen haben. Bis dahin würden sie die Geschichte von den beiden großen Unbekannten aufrechterhalten.

»Wir hatten einige Dinge, über die wir uns beschweren wollten«, antwortete er nun auf die Frage des Kriminalbeamten, und er achtete darauf, daß er völlig ruhig und gelassen wirkte. Das war das Wichtigste, wie er aus Erfahrung wußte. Zum Glück hatte die Aufregung ihn schlagartig wieder nüchtern werden lassen. »Also haben wir angerufen – eigentlich wollten wir nämlich duschen und uns frischmachen, aber das Bad war nicht einwandfrei. Nun, bevor wir uns wieder anziehen konnten, kam die junge Frau auch schon, um sich das Bad anzusehen – und diese Gelegenheit haben die zwei Männer benutzt, um ebenfalls in unsere Suite zu gelangen.«

»Hm.« Das Gesicht des Kriminalbeamten ließ keine Rückschlüsse darauf zu, ob er ihm glaubte oder nicht.

Jewgenij wurde unruhig, und Norman wußte, daß er ihn daran hindern mußte, etwas zu sagen. Der Junge hatte noch zu wenig Erfahrung mit solchen Dingen – er würde das Falsche sagen, da war er ganz sicher.

In diesem Augenblick gab es einige Unruhe in der Nähe der Tür, dann betrat Andreas Wingensiefen, der Direktor des Hotels, die Suite. »Meine Herren!« rief er und lief auf die beiden Gäste zu. »Ich bedauere außerordentlich, daß es ausgerechnet in unserem Hause zu diesem bedauerlichen Zwischenfall gekommen ist – ich versichere Ihnen, es ist das erste Mal, daß es bei uns einen Überfall gegeben hat.«

Norman unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Der Direktor zumindest schien keinen Zweifel an der Richtigkeit der Geschichte zu haben, die sie der Polizei erzählt hatten. Das war großartig – besser hätte es gar nicht sein können. Nach einem schnellen Blick auf den Kriminalbeamten wußte er, daß die Haltung des Hoteldirektors ihn beeindruckte – auch wenn er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen.

Andreas Wingensiefen schüttelte Norman Jones und Jewgenij Popov die Hand, dann erst begrüßte er den Kriminalbeamten. »Ist es denn wirklich nötig, die Herren noch länger zu belästigen?« fragte er leise. »Sie sind in Berlin, weil sie hier außerordentlich wichtige Geschäfte – für die Stadt wichtig, meine ich – in die Wege leiten wollen. Schlimm genug, daß es einen solchen Auftakt für ihre Verhandlungen gegeben hat. Aber das muß man doch nicht noch schlimmer machen, indem man sie stundenlangen Befragungen aussetzt. Sie sind ja heute abend erst angekommen.«

Das war die falsche Art, mit dem Kriminalbeamten zu reden, der sich sofort über die herablassende Art des anderen und seine Versuche, ihn zu bevormunden, ärgerte. »Sie müssen es schon uns überlassen zu beurteilen, was nötig ist und was nicht. Hier ist ein Verbrechen verübt worden – immerhin wurde eine Ihrer Angestellten durch einen Schlag auf den Hinterkopf schwer verletzt.«

»Was?« fragte Andreas Wingensiefen entgeistert. »Davon weiß ich ja gar nichts. Um wen handelt es sich?«

»Um Frau Wagner, Ihre Assistentin«, erklärte der Kriminalbeamte ruhig. »Sie ist in die Charité gebracht worden.«

»Schwer verletzt, sagen Sie?« Der Direktor war blaß geworden. »Um Himmels willen, wieso hat mir das denn keiner gesagt?«

»Das weiß ich nicht. Sie war jedenfalls bewußtlos«, erklärte der Kriminalbeamte, »man befürchtete sogar einen Schädelbruch. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick dazu leider noch nicht sagen.«

»Ich… ich muß sofort telefonieren. Das ist ja furchtbar! Oder brauchen Sie mich hier noch?«

»Nein, vielen Dank.« Der Beamte war jetzt außerordentlich liebenswürdig. »Wir sind hier sowieso bald fertig.«

Sichtlich durcheinander verließ der Hoteldirektor die Suite – selbst seine so besonders wichtigen Gäste hatte er für den Moment vergessen.

*

Es war fast Mitternacht, als Julia Martensen und Adrian Winter endlich abgelöst wurden von ihren Kollegen. Sie hatten beide zwanzig Stunden Dienst hinter sich und hätten eigentlich todmüde sein müssen. Doch sie waren statt dessen eher etwas überdreht. Aber diesen Zustand kannten sie: Sobald sie zur Ruhe kamen, würde bleierne Müdigkeit sie überfallen.

»Es ist mir gar nicht recht, die junge Frau alleinzulassen«, sagte Julia nachdenklich. »Sie sollte nicht in der Notaufnahme bleiben, Adrian. Hier hat niemand Zeit für sie, und entlassen können wir sie auch nicht. Wenn wir wenigstens wüßten, wie sie heißt – oder wo sie arbeitet, dann könnten wir jemanden benachrichtigen, der sich um sie kümmert. Hast du übrigens herausgefunden, was das für ein Überfall war?«

Er schüttelte den Kopf. »Es war zuviel zu tun, ich konnte mich nicht darum kümmern. Und dann hab’ ich’s einfach vergessen. Jetzt ist es leider zu spät, das muß bis morgen warten.«

»Dann werde ich sie auf die Innere einweisen«, sagte Julia. »Da habe ich auch am ehesten die Möglichkeit, mich weiterhin um sie zu kümmern. Ihr muß etwas Schreckliches geschehen sein, hast du ihre Augen gesehen?«

Er nickte nachdenklich. »Ja, das habe ich. Und sie hat ganz offensichtlich Angst vor Männern. Aber eine Vergewaltigung halte ich nach wie vor für unwahrscheinlich. Oder siehst du das anders?«

Julia schüttelte den Kopf. »Ihre Kleidung war völlig in Ordnung. Eher könnte ich mir vorstellen, daß jemand sie bedroht hat. Aber sie ist überhaupt nicht ansprechbar, deshalb können wir nur Vermutungen anstellen. Vielleicht gelingt es uns morgen herauszufinden, wer sie ist – dann kommen wir vielleicht auch irgendwie weiter.«

Adrian zögerte, stellte seine Frage dann aber doch: »Und du bist sicher, daß sie nicht in eine psychiatrische Klinik gehört?«

»Ich bin nicht sicher, nein. Aber ich würde lieber versuchen, ihr hier zu helfen.«

»Ja, du hast recht. Also gut, Julia, wir legen sie auf die Innere, und morgen sehen wir weiter. Auf jeden Fall sollten wir aber die Polizei benachrichtigen, daß sie hier ist – mit einer Personenbeschreibung und dem Ort, an dem die Sanitäter sie gefunden haben. Vielleicht meldet sich ja jemand, der sie vermißt.«

»Ruf du die Polizei an, ich kümmere mich um die Innere«, schlug Julia vor. »Dann haben wir vielleicht eine Chance, in einer halben Stunde endlich nach Hause gehen zu können.«

Er nickte und eilte zum Telefon. Während er einem völlig übermüdeten Polizeibeamten die Situation zu erklären versuchte, verständigte Julia die Innere Station und brachte ihre Patientin selbst dorthin. Außerdem bat sie eine der Schwestern, regelmäßig nach der jungen Frau zu sehen.

Auf diese Weise dauerte es doch noch recht lange, bis sie die Kurfürsten-Klinik gemeinsam verlassen konnten.

»Bis später, Julia«, sagte Adrian, der in tiefen Zügen die klare Nachtluft einsog. Sie standen vor dem Haupteingang der Klinik. Berlin war, trotz der späten Stunde, noch immer nicht zur Ruhe gekommen, von fern brauste der Verkehr.

Julia blickte auf ihre Uhr und seufzte. »Es lohnt sich kaum noch, ins Bett zu gehen«, meinte sie. »Trotzdem: Gute Nacht, Adrian.«

Sie verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung voneinander, dann gingen sie in unterschiedlichen Richtungen davon.

*

»Herr Direktor«, sagte der Rezeptionist mit schüchternem Lächeln, als er die Tür zum Büro von Andreas Wingensiefen nach kurzem Klopfen öffnete, »könnte ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist wirklich dringend.«

Es war gegen halb eins in der Nacht. Die Angestellten des Hotels, die noch Dienst hatten, waren wegen des Überfalls begreiflicherweise in heller Aufregung.

Andreas Wingensiefen hatte gerade mit der Charité gesprochen und die Auskunft erhalten, daß Stefanie Wagner dort auf die Innere Station verlegt worden war. Sie schlafe jetzt und könne nicht mehr gestört werden, hatte ihm eine sehr energische Nachtschwester mitgeteilt.

Er würde seine tüchtige Assistentin also erst am kommenden Tag besuchen können. Hoffentlich konnte sie ein wenig Licht in diese Angelegenheit bringen. Eine rundherum unerfreuliche Geschichte war das – und ausgerechnet in seinem Hotel!

»Muß das jetzt noch sein?« fragte er unwillig. »Es ist nach Mitternacht – das hat doch sicher Zeit bis morgen.«

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete der junge Mann, und diese Hartnäckigkeit verblüffte den Hoteldirektor.

»Also, bitte«, knurrte er unfreundlich. »Was wollen Sie denn?«

»Linda Hanson ist verschwunden – meine Kollegin an der Rezeption.«

»Wie bitte?« fragte Andreas Wingensiefen. »Verschwunden? was wollen Sie denn damit sagen?«

»Sie hat mir gesagt, daß die beiden Herren in der blauen Suite einige Reklamationen hätten und sie deshalb mit Frau Wagner nach oben ginge, um sich das anzuschauen. Und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Moment, Moment. Sie wollen also sagen – Frau Wagner war gar nicht allein da oben? Sie ist mit Frau Hanson nach oben gegangen?«

Der junge Mann nickte.

»Aber niemand hat sie erwähnt. Keiner scheint sie gesehen zu haben. Wieso erzählen Sie mir das überhaupt erst jetzt?«

»Weil ich dachte, daß sie noch oben ist. Aber dann habe ich nachgefragt und gehört, daß Frau Wagner niedergeschlagen und ins Krankenhaus gebracht wurde. Zuerst dachte ich, Frau Hanson sei das Gleiche passiert – aber niemand weiß etwas von ihr. Es ist ein bißchen unheimlich, denn keiner scheint sie mehr gesehen zu haben. Sie hat sich von mir verabschiedet, ist mit Frau Wagner nach oben gegangen – und seitdem ist sie verschwunden.«

»Herr Jones und Herr Popov haben sie nicht erwähnt«, stellte Andreas Wingensiefen kopfschüttelnd fest. »Das ist ja eine höchst merkwürdige Geschichte, die Sie mir da erzählen.«

»Ich dachte, Sie sollten das wissen«, erwiderte der Rezeptionist. »Ich mache mir Sorgen um Linda.«

»Haben Sie das der Polizei gesagt?«

»Die Polizei hat mich gar nicht danach gefragt – die wollten nur wissen, ob jemand in die Hotelhalle gekommen ist, der sich irgendwie auffällig benommen hat. Aber da war niemand. Und zu dem Zeitpunkt dachte ich ja auch, sie sei noch oben und werde dort zu dem Überfall befragt.«

Sein Chef lehnte sich in seinem ledernen Bürosessel zurück.

»Das Ganze wird ja immer merkwürdiger«, murmelte er vor sich hin.

»Eine außerordentlich verrückte Geschichte.«

Dann richtete er sich wieder auf und sagte mit energischer Stimme: »Ich werde gleich morgen in die Charité fahren und sehen, daß ich mit Frau Wagner sprechen kann. Vielleicht kann sie Licht in diese rätselhafte Angelegenheit bringen.«

Er machte eine kurze Pause und sah den jungen Mann nachdenklich an.

»Danke, daß Sie mir Bescheid gegeben haben.«

»Ich wäre froh, wenn ich wüßte, wo Linda ist«, erwiderte dieser, verabschiedete sich höflich und verließ das Zimmer.

Nach kurzem Zögern entschloß sich der Hoteldirektor, die Polizei sofort darüber zu informieren, daß eine seiner Angestellten seit jenem rätselhaften Überfall vermißt werde.

*

»Die Geschichte stinkt zum Himmel«, knurrte Kriminalkommissar Hummel. Er sprach zu den beiden Kollegen, mit denen er zusammen den Überfall im King’s Palace untersuchte. »Die hatten das Badezimmer doch schon benutzt! Wie wollten sie sich dann noch darüber beschweren? Und dazu auch die Geschichte mit den Bademänteln! Daß sie nicht mehr die Zeit gehabt haben, sich anzuziehen, bevor die Assistentin des Direktors kam – da ist was faul, wenn ihr mich fragt.«

»Aber der Hoteldirektor schien den beiden sofort zu glauben. Und seine Andeutungen, daß die hier große Geschäfte machen wollen…«

»Ja, ja, und deshalb können sie sich alles erlauben, wie? Ich traue den beiden nicht über den Weg. Und ich will nicht, daß sie die Stadt verlassen. Habt ihr dafür gesorgt, daß das Hotel bewacht wird?«

»Jawohl, Chef. Wir haben an jedem Ausgang einen Mann postiert. Aber was für einen Verdacht haben Sie eigentlich?«

»Noch keinen bestimmten«, gab Hummel zu. Er war ein kleiner, gemütlich aussehender Mann. Sein äußeres Erscheinen hatte ihm schon oft geholfen, denn seine Gegner neigten dazu, ihn zu unterschätzen. »Aber ich rieche, daß da etwas nicht stimmt!«

»Und was machen wir mit der Presse? Die haben schon Wind von der Sache bekommen und wollen wissen, was sie schreiben können.«

»Die sollen sich gefälligst zurückhalten«, sagte der Kommissar. »Macht ihnen klar, daß sie uns helfen müssen. Keine Spekulationen, keine großen Aufmacher. Von mir aus sollen sie schreiben, daß es einen Überfall in einem Hotel gegeben hat, bei dem eine Angestellte niedergeschlagen wurde – mehr nicht. Und wehe, es schert einer aus. Dem könnt ihr ankündigen, daß er die nächsten zwei Jahre keinerlei Informationen mehr von uns bekommt! Am liebsten wäre mir, sie würden jetzt noch gar nichts schreiben. Vielleicht könnt ihr sie ja überreden, ausnahmsweise ein bißchen Geduld zu üben.«

Seine beiden Mitarbeiter nickten und ließen ihn allein. Erneut versenkte sich der Kommissar in die Aussagen der beiden Geschäftsleute. Etwas war faul an der Sache, das stand für ihn fest. Aber was hatte sich tatsächlich in der edlen Suite abgespielt? Das mußte er herausbekommen.

Wenn ihn sein Instinkt nicht täuschte, dann mußte er zuallererst mit dieser Frau Wagner reden, die jetzt in der Charité lag. Aber die behandelnde Ärztin hatte gemeint, er werde sich noch gedulden müssen. Außerdem erinnere sich Frau Wagner gar nicht an den Überfall.

Er seufzte, dann beschloß er, ein paar Stunden zu schlafen. Der nächste Tag würde hart werden.

*

»Hallo«, sagte eine freundliche Schwester zu Linda. »Können Sie nicht schlafen? Soll ich Ihnen etwas geben?«

Linda schüttelte heftig den Kopf. Wenn sie schlief, konnte sie nicht auf sich achtgeben, dann konnten Leute in ihr Zimmer eindringen, und… Sie stieß einen gequälten Laut aus.

Die Schwester setzte sich an ihr Bett und griff behutsam nach ihrer Hand. »Sie müssen keine Angst haben, wirklich nicht. Hierher kommt niemand, das garantiere ich Ihnen. Niemand wird Ihnen etwas tun.«

Linda antwortete nicht.

Es war zwecklos, der Schwester zu sagen, daß sie sich auch im Hotel völlig sicher gefühlt hatte. Niemals wäre sie vorher auf die Idee gekommen, Gäste, die im King’s Palace abstiegen, würden es wagen, sich an den weiblichen Angestellten zu vergreifen.

Das Hotel war wie eine Burg gewesen, eine sichere Burg. Und jetzt?

Peter fiel ihr ein. Peter Simonis, der nicht einmal wußte, daß sie hier lag. Was würde er sagen, wenn er hörte, was passiert war? Und Frau Wagner? Wo war Frau Wagner?

»Wo ist Frau Wagner?« fragte sie.

Die Schwester machte ein ratloses Gesicht. »Frau Wagner?« fragte sie. »Wer ist Frau Wagner?«

»Aber wir waren doch zusammen«, stammelte Linda. »Als sie uns überfallen haben – sie haben sie niedergeschlagen, das weiß ich ganz genau.« Sie begann zu zittern, und die Schwester überlegte bereits, ob sie den Arzt holen sollte. Soviel sie wußte, war die junge Fremde mit den schönen dunklen Augen ganz allein gewesen, als man sie gefunden hatte. »Aber Frau Wagner war nicht bei Ihnen«, sagte sie sanft. »Sie waren ganz allein.«

»Allein?« fragte Linda. »Aber das ist nicht möglich. Und die Männer – waren sie auch nicht da?«

»Welche Männer denn?«

Fast hätte Linda laut gelacht. Und diese Schwester wollte sie beruhigen? Sie wollte ihr erzählen, daß sie keine Angst haben mußte? Dabei hatte sie doch überhaupt keine Ahnung! Sie wußte ja gar nicht, was passiert war.

»Wie heißen Sie?« fragte die Schwester jetzt. »Bitte, nennen Sir mir Ihren Namen, damit wir Ihre Angehörigen informieren können. Es weiß ja niemand, wo Sie sind.«

Aber Linda war mißtrauisch geworden. Die Schwester wußte nichts von Frau Wagner, sie wußte nichts von den Männern, und jetzt fragte sie nach ihrem Namen – da stimmte etwas nicht! Vielleicht steckten sogar die zwei Männer dahinter, die nur herausfinden wollten, ob sie sich an alles erinnerte.

Sie schauderte vor Angst und Entsetzen, aber sie preßte ihre Lippen ganz fest aufeinander.

Kein Wort würde sie mehr sagen. Kein einziges Wort.

*

Als Dr. Adrian Winter von seinem Wecker aus tiefstem Schlaf gerissen wurde, hatte er das Gefühl, erst wenige Minuten zuvor eingeschlafen zu sein. In Wirklichkeit hatte er fünf Stunden geschlafen, erfrischt fühlte er sich nicht. Dennoch sprang er sofort aus dem Bett, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es immer schwerer wurde aufzustehen, je länger man damit wartete.

Die Dusche und der anschließende starke Kaffee machten ihn endgültig wach, und schon eine halbe Stunde später betrat er die Innere Station der Kurfürsten-Klinik. Das Schicksal der unbekannten jungen Frau ließ ihm keine Ruhe.

Zu seiner großen Überraschung war auch Julia Martensen schon da.

Sie begrüßte ihn lächelnd. »Dir ist es also wie mir ergangen«, stellte sie fest. »Du fragst dich auch, was es mit unserer Patientin auf sich hat.«

»Gibt es etwas Neues?«

»Nicht viel. Eine der Schwestern hatte ein eigenartiges Gespräch mit ihr, in dem sie immer nach einer Frau Wagner und zwei Männern gefragt hat. Aber als sie merkte, daß die Schwester ihr keine Antwort geben konnte, hat sie aufgehört zu reden. Auch ihren Namen wollte sie nicht sagen. Ich war eben bei ihr, aber jetzt schläft sie.«

Adrian war bei dem Namen »Wagner« zusammengezuckt, denn die schöne Stefanie Wagner, die er bei einem Unfall kennengelernt und seitdem mehrmals getroffen hatte, beschäftigte ihn nach wie vor. Er fand sie wunderschön und außerordentlich anziehend, hatte sie aber einmal zusammen mit einem Mann gesehen, der ihr offenbar ziemlich nahestand. Deshalb war er ihr gegenüber auf Distanz geblieben, obwohl es ihm äußerst schwergefallen war.

Wie albern, dachte er, bei dem Namen »Wagner« zusammenzuzucken. Wahrscheinlich gibt es allein in Berlin mindestens fünfhundert Frauen, die so heißen. Er zwang sich, seine Gedanken von der schönen Hotelangestellten loszureißen, und konzentrierte sich wieder auf das, was Julia ihm erzählte.

»Wir sollten noch einmal versuchen herauszufinden, was das für ein Überfall war gestern abend, von dem die Sanitäter gesprochen haben. Vielleicht hat unsere Patientin ja doch etwas damit zu tun. Hast du zufällig heute morgen Zeitung gelesen?«

»Nein«, gab Adrian zu. »Ich hatte es eilig, aus dem Haus zu kommen. Aber das ist eine gute Idee – vielleicht berichten sie darüber, und wir finden einen ersten Anhaltspunkt.«

»Im Ärztezimmer liegt eine«, meinte Julia. »Bevor wir nach unten in die Notaufnahme gehen, könnten wir schnell nachschauen.«

Das taten sie, aber obwohl sie die Zeitung aufmerksam durchsahen, konnten sie nichts entdecken, das auf jenen Überfall zu passen schien, von dem die Sanitäter in der Nacht zuvor gesprochen hatten.

*

»Guten Morgen, Frau Wagner«, sagte Kriminalkommissar Hummel freundlich. Die Frau, die vor ihm in dem Krankenhausbett lag, war bemerkenswert schön – vor allem ihre Augen waren faszinierend. Noch nie hatte er eine solche Farbe gesehen. Wie Veilchen, dachte er, fast lila.

»Ich bin Kriminalkommissar Hummel und habe darum kämpfen müssen, ein paar Worte mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen, denn ich weiß ja, daß es Ihnen nicht gutgeht. Aber ich brauche Ihre Hilfe, um herauszufinden, was sich gestern abend genau abgespielt hat. Können Sie sich daran erinnern?«

»Und ob!« antwortete sie mit überraschend kräftiger Stimme. »Mir ist alles wieder eingefallen. Ich hoffe, Sie brummen den beiden kräftige Strafen auf – aber vermutlich kaufen sie sich teure Anwälte, und dann passiert ihnen überhaupt nichts.«

»Von wem sprechen Sie?« fragte er neugierig.

»Na, von den Herren Jones und Popov, die mich unter einem Vorwand in die Suite gelockt haben. Zum Glück war Frau Hanson dabei, deshalb…«

»Moment, Moment!« unterbrach sie der Kriminalkommissar. »Bitte, ganz langsam, Frau Wagner, denn das, was Sie mir da erzählen, ist hochinteressant für mich. Es gab also gar keine zwei Männer, die unbefugt in die Suite eingedrungen sind und Sie alle überfallen haben?«

»Zwei Männer? Sie meinen, außer Jones und Popov?«

Der Kommissar nickte.

»Aber da waren keine anderen Männer!«

Der Kommissar beugte sich vor. »Und wer hat Sie überfallen?«

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, was seine Frage zu bedeuten hatte. »Ach, so«, sagte sie langsam. »Die beiden haben erzählt, es hätte einen Überfall gegeben?«

Wieder nickte der Kommissar. Er ließ sie nicht aus den Augen.

»Dann werde ich Ihnen jetzt mal in aller Ruhe erzählen, was sich tatsächlich abgespielt hat«, sagte Stefanie grimmig. »Aber sorgen Sie dafür, daß die beiden sich nicht verdrücken. Ich möchte nämlich wetten, daß die nicht freiwillig im King’s Palace bleiben. Schließlich wissen sie ja, was passiert, wenn ich anfange zu reden.«

Der Kommissar stimmte ihr zu, obwohl er seine Zweifel hatte. Die Männer waren zu zweit, Stefanie Wagner jedoch war allein. Es gab, soweit er das beurteilen konnte, niemanden, der ihre Version des Tathergangs bezeugen würde.

»Also«, begann Stefanie Wagner, »Norman Jones hatte angerufen und gesagt, sie hätten ein paar Beschwerden. Ich war gerade an der Rezeption bei Linda Hanson, und als sie hörte, was Herr Jones gesagt hatte, wollte sie nach oben gehen und sich um die Sache kümmern. Sie hat mir, seit sie bei uns ist, die Reklamationen weitgehend abgenommen. Aber weil ich so einen merkwürdigen Eindruck von den beiden hatte, beschloß ich, sie zu begleiten. Wir sind also zusammen in die Suite gefahren…«

»Sie waren also zu zweit?« fragte der Kommissar hoffnungsfroh.

»Aber ja! Ich weiß nur nicht, wo Frau Hanson jetzt ist. Haben Sie noch nicht mit ihr gesprochen?«

»Nein«, antwortete Kriminalkommissar Hummel zurückhaltend. »Bitte, erzählen Sie weiter, Frau Wagner.«

Das tat Stefanie. Sie berichtete alles, was ihr einfiel, und der Beamte blieb sehr viel länger bei ihr, als man es ihm erlaubt hatte. Da aber die Patientin keine Ermüdungserscheinungen zeigte, sondern im Gegenteil mehrmals versicherte, es mache ihr überhaupt nichts aus, alle Fragen zu beantworten, griff niemand ein.

Kriminalkommissar Hummel erlebte eine der erfreulichsten Befragungen seiner Laufbahn: Die Zeugin war glaubwürdig, außerordentlich schön, und sie erinnerte sich an alles Wesentliche. Außerdem lieferte sie ihm die Lösung des Falles gewissermaßen auf dem Silbertablett. Eine sehr einfache Angelegenheit also, die ihm außerdem wieder einmal bestätigte, daß er sich auf seine Nase hundertprozentig verlassen konnte.

Es gab eigentlich nur einen Wermutstropfen bei der ganzen Geschichte: Ihre Kollegin Linda Hanson war verschwunden, und niemand schien zu wissen, wo sie war. Sie war nicht in dem Hotelzimmer gewesen, als die Angestellten es gestürmt hatten – und sie war auch sonst nirgends aufgetaucht. Herr Wingensiefen, der Direktor des Hotels, hatte sie noch in der Nacht als vermißt gemeldet, aber niemand hatte bisher eine Spur von ihr gefunden. In ihrer Wohnung war sie ebenfalls nicht. Das also war der Teil des Falles, der noch geklärt werden mußte.

»Ich danke Ihnen, Frau Wagner«, sagte er aufrichtig. »Sie haben uns wirklich sehr geholfen.«

»Aber was ist mit Frau Hanson?« fragte sie ängstlich. Es war ihr nicht entgangen, daß er ihren Fragen nach der Rezeptionistin jedesmal ausgewichen war.

»Machen Sie sich keine Gedanken um Ihre Kollegin«, erwiderte er freundlich. »Ich werde mich jetzt sofort um alles kümmern, Sie können sich darauf verlassen, Frau Wagner. Und sobald ich Neuigkeiten habe, komme ich wieder und berichte Ihnen. Einverstanden?«

Sie nickte. Jetzt erst merkte sie, daß sie das Gespräch mit dem netten Kriminalkommissar doch sehr angestrengt hatte. Als er gegangen war, schloß sie die Augen. Eigentlich wollte sie noch einmal in Ruhe über seine Worte nachdenken – aber sie kam nicht sehr weit mit ihren Überlegungen. Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.

*

Es zahlte sich wieder einmal aus, daß Norman Jones sich ausführlich mit den Fluchtwegen des Hotels auseinandergesetzt hatte. Es war nicht das erste Mal, daß er eine Unterkunft schneller verlassen mußte als geplant, und so wußte er auch diesmal genau, auf welchen Wegen sie zu einem der Ausgänge gelangen würden, ohne daß die überall unauffällig postierten Polizisten davon etwas bemerken würden. Und natürlich konnten sie nur sehr wenig Gepäck mitnehmen, denn sie mußten beweglich und schnell sein, wenn sie das Hotel durch eine der Hintertüren verließen.

»Was?« murrte Jewgenij. »Ich soll meine teuren Klamotten hierlassen? Weißt du überhaupt, daß die ein Vermögen gekostet haben?«

»Was nutzen dir deine Klamotten, wenn du im Knast sitzt?« Norman war bereits dabei, eine kleine Tasche mit dem Notwendigsten zu packen. »Ich sage dir, wir müssen weg hier – und zwar sehr schnell. Und wir müssen auch weg aus Berlin. Wir werden der Hoteldirektion einen höflichen Brief schreiben, daß wir uns hier leider nicht mehr sicher gefühlt haben – und dann sehen wir uns aus sicherer Entfernung an, was aus der Geschichte wird. Wenn die Blonde ihren Mund aufmacht und sie ihr glauben und wenn die andere sie unterstützt, haben wir nichts zu lachen. Also, halt die Klappe, pack deine Sachen und laß uns machen, daß wir hier wegkommen! Glaub mir, die Sache eilt!«

Jewgenij hatte sich von seinem ernsten Ton beeindrucken lassen und ohne weiteren Widerspruch ebenfalls seine Sachen gepackt. Und dann verließen sie das Hotel auf einem abenteuerlichen Weg durch den Heizungskeller. Jewgenij gab es auf, sich zu fragen, wann Norman sich darum gekümmert hatte, diesen Weg ausfindig zu machen – er kannte ihn, und das rettete sie. Sie gelangten unbehelligt auf die Straße und mischten sich unter die Fußgänger.

Jewgenij hatte damit gerechnet, daß sie ein Taxi nehmen würden, aber Norman hatte ihn nur mitleidig angesehen.

»Sie werden jeden Taxifahrer fragen, ob er zwei Leute, die so aussehen wie wir, zum Flughafen gefahren hat. Wir nehmen die U-Bahn, mein Freund – und danach reisen wir mit dem Zug. Manchmal ist es klüger, wenn man sich etwas langsamer fortbewegt.«

Jewgenij hatte ihm nicht widersprochen. Sie befanden sich noch in unmittelbarer Nähe des Hotels, und in diesem Augenblick sahen sie, wie mehrere Polizeiautos vor dem großzügigen Eingang vorfuhren.

»Siehst du! Da sind sie schon! Es war noch eiliger, als ich befürchtet hatte«, knurrte Norman. »Und nun rate mal, wen sie suchen!«

Jewgenij erwiderte nichts mehr. Schweigend folgte er Norman in die Tiefe, und drei Minuten später entfernten sie sich in einer Untergrundbahn mit großer Geschwindigkeit vom Hotel King’s Palace.

*

»Aber höchstens fünf Minuten!« sagte Frau Dr. Kleinfeld auf der Innere Station der Charité zu Andreas Wingensiefen. »Die Polizei war nämlich auch schon da, und der Kommissar ist viel länger geblieben, als er wollte. Frau Wagner war hinterher völlig erschöpft.«

»Schon gut, ich will ihr ja nur ›Guten Tag‹ sagen und ein paar Blumen bringen«, erklärte der Hoteldirektor und probierte sein charmantes Lächeln an der Ärztin aus.

Doch sie reagierte nicht, bedachte ihn lediglich mit einem kühlen Blick und wiederholte warnend: »Fünf Minuten, danach gehen Sie!«

Er nickte und klopfte leise an Stefanie Wagners Tür.

Als sie ihn mit den Blumen sah, lächelte sie. Er brachte ihr gelegentlich Blumen mit zu besonderen Gelegenheiten, aber noch nie war der Strauß so groß und üppig ausgefallen.

»Guten Tag, Frau Wagner – man muß sich ja richtig anstrengen, um zu Ihnen vorgelassen zu werden. Wie geht es Ihnen? Antworten Sie mir schnell, denn gleich kommt die Ärztin und wirft mich hinaus.«

»Danke, ganz gut«, antwortete Stefanie. »Sind die Blumen etwa für mich?«

»Sicher – für wen sonst?« erwiderte er. Er legte den Strauß auf den Tisch und setzte sich zu ihr. »Eine furchtbare Geschichte ist das«, fuhr er fort. »Ich kann es immer noch nicht glauben, daß es zwei Männern gelungen ist, einfach so in die Suite einzudringen, ohne daß irgend jemand vom Personal etwas mitbekommen hat. Und daß ausgerechnet Sie das Opfer sein müssen!«

Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. »Hat die Polizei noch nicht mit Ihnen gesprochen?«

»Heute nacht, sicher.«

»Nein, ich meine, danach«, erklärte sie. »Nachdem der Kommissar hier war.«

»Ich bin noch gar nicht im Hotel gewesen«, sagte er. »Ich bin sofort hierhergekommen. Warum fragen Sie? Gibt es etwas Neues?«

»Ich denke schon.« In wenigen Worten berichtete sie ihm, was sie auch Kriminalkommissar Hummel gesagt hatte, und je länger sie sprach, desto fassungsloser wurde ihr Chef.

Als sie schwieg, rief er aus: »Aber Sie müssen sich irren, Frau Wagner! Das ist völlig ausgeschlossen, daß ausgerechnet Herr Jones und Popov…«

»Ich irre mich nicht!« entgegnete sie mit fester Stimme.

Er hörte ihr gar nicht zu und dachte auch nicht mehr an das, was die Ärztin ihm zuvor gesagt hatte. Er vergaß völlig, daß er in einem Krankenhaus war und daß seine Assistentin von einem heftigen Schlag auf den Kopf niedergeschlagen worden war. Er sprang auf und rief: »Wie können Sie zwei Gäste unseres Hauses eines solchen Verbrechens beschuldigen! Das ist doch wirklich unerhört! Ich muß mich ernstlich fragen, ob Sie…«

»Unerhört ist das richtige Wort!« wurde er von einer scharfen Stimme unterbrochen. Frau Dr. Kleinfeld stand in der Tür des Zimmers und funkelte ihn wütend an, während sie seine letzten Worte wiederholte. »Ich muß mich ernstlich fragen, ob Sie noch bei Verstand sind! Wie kommen Sie dazu, hier so herumzuschreien? Verlassen Sie augenblicklich das Zimmer – und kommen Sie nicht so bald wieder, wenn’s geht! Frau Wagner ist in der vergangenen Nacht niedergeschlagen worden, falls Sie das schon vergessen haben sollten!«

Andreas Wingensiefen sah sie grenzenlos erstaunt an.

Normalerweise wagte niemand, in diesem Ton mit ihm zu reden. Aber natürlich war er hier nicht der Chef, und man kannte ihn in diesem Krankenhaus nicht. Dennoch fand er, daß die Ärztin kein Recht dazu hatte, so mit ihm zu reden.

Doch er hatte sich gut in der Gewalt. Er lächelte charmant und sagte: »Ich glaube, Sie mißverstehen die Situation, Frau Doktor! Ich habe nicht herumgeschrien, sondern Frau Wagner nur etwas erklärt, und dabei ist vielleicht mein Temperament mit mir…«

»Ihr Temperament interessiert mich nicht!« unterbrach sie ihn kurz angebunden. »Mich interessiert einzig und allein das Wohl der Patientin. Also, bitte! Gehen Sie jetzt endlich.«

»Tja, Frau Wagner«, sagte Andreas Wingensiefen mühsam lächelnd zu seiner Assistentin, »Sie sehen ja, ich muß mich wieder verabschieden. Bis bald.«

»Bis bald«, erwiderte Stefanie leise, während Frau Dr. Kleinfeld laut und deutlich erklärte: »Hoffentlich nicht!«

Sie sah dem Hoteldirektor noch einen Augenblick nach, als fürchte sie, er könne zurückkommen, dann schloß sie energisch die Tür hinter sich. Sie eilte zum Bett, legte Stefanie eine Hand auf die Stirn und fragte besorgt: »Hat er Sie aufgeregt?«

»Nicht mehr als üblich. Er ist mein Chef, wissen Sie? Ich kenne ihn, so ist er nun einmal, und er wird sich bestimmt nicht mehr ändern, dazu ist er schon zu alt.«

»Auch wenn er ihr Chef ist, sollte er wissen, daß man Rücksicht zu nehmen hat, wenn jemand krank ist.« Die Ärztin schüttelte noch immer ärgerlich den Kopf.

»Er hat mir nicht geglaubt«, murmelte Stefanie. »Deshalb hat er sich so aufgeregt.«

»Das ist mir gleichgültig«, erwiderte Frau Dr. Kleinfeld kurz angebunden. »Von mir aus kann er sich aufregen, soviel er will. Aber er soll Sie dabei in Ruhe lassen.«

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Stefanie. »Offen gestanden, ich bin ganz froh, daß Sie ihn hinausgeworfen haben. Normalerweise kommen wir ganz gut miteinander aus, aber heute konnte ich ihn nicht so gut wie sonst ertragen.«

»Mit dem würde ich jeden Tag aneinander geraten!« behauptete die Ärztin. Dann entspannte sie sich und lächelte. »So, und nun sagen Sie mir bitte, ob ich jemanden benachrichtigen soll für Sie. Sie erwähnten gestern einen Arzt an der Kurfürsten-Klinik, den Sie kennen. Ich meine, Sie hätten gesagt, daß er in der Notaufnahme arbeitet. Möchten Sie, daß wir ihn verständigen?« Mit Interesse stellte sie fest, wie sich die blassen Wangen der Patientin rosa färbten.

»Ach, nein, nicht nötig«, nuschelte Stefanie. »Sie müssen niemanden verständigen, wirklich nicht. So lange werde ich doch wohl nicht hier bleiben müssen – oder?«

»Mal sehen«, antwortete die Ärztin ausweichend. »Kann ich denn sonst etwas für Sie tun?«

»Was ich wirklich wissen möchte, ist, was mit Linda Hanson passiert ist«, sagte Stefanie. »Die war nämlich gestern bei mir, als wir zu diesen Gangstern ins Zimmer gegangen sind. Aber angeblich ist sie verschwunden, und ich mache mir große Sorgen um sie.«

»Aber die Polizei wird Sie doch sicher informieren, sobald sie etwas herausgefunden haben?«

»Das hoffe ich«, erwiderte Stefanie und gähnte.

Die Ärztin lächelte. »Schlafen Sie noch ein bißchen und ruhen Sie sich von dem Besuch Ihres Chefs aus!«

»Mach’ ich«, sagte Stefanie. Als sie allein war, fragte sie sich, wie Dr. Adrian Winter wohl reagieren würde, wenn er hörte, was ihr passiert war. Schade, daß sie nicht in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden war. Dann hätte sie ihn endlich einmal wiedergesehen. Über diesem Gedanken schlief sie ein, und das war wohl auch der Grund, warum sie im Schlaf lächelte.

*

»Könnten Sie kurz in mein Büro kommen, Herr Dr. Winter?« fragte der Verwaltungsdirektor Thomas Laufenberg höflich.

Adrian dachte nicht daran, seinen Ärger über diesen Anruf zu unterdrücken. »Soll ich heute wieder bis Mitternacht bleiben?« rief er. »Ich hatte in der letzten Nacht fünf Stunden Schlaf, falls ich Sie daran erinnern darf, weil nämlich die versprochene Ablösung so lange auf sich warten ließ, und…«

»Es handelt sich um eine Bitte der Polizei, ihr bei der Suche nach einer jungen Frau zu helfen«, unterbrach ihn Thomas Laufenberg. »Vielleicht ist sie in einem der Berliner Krankenhäuser.«

»Wie heißt sie denn?« fragte Adrian, jetzt ganz sachlich.

»Linda Hanson, eine Hotelangestellte. Es hat etwas mit diesem Überfall im King’s Palace zu tun – aber behalten Sie das bitte für sich. Die Polizei will nicht, daß darüber berichtet wird, um die Gangster in Sicherheit zu wiegen…«

»King’s Palace?« fragte Adrian, und seine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. »Was denn für ein Überfall im King’s Palace?«

»Bitte, kommen Sie doch kurz in mein Büro – dann zeige ich Ihnen das Bild der vermißten jungen Frau und erzähle Ihnen, was ich weiß.« Mit diesen Worten legte der Verwaltungsdirektor auf.

»Was ist los?« erkundigte sich Julia Martensen. »Ist dir ein Gespenst begegnet?«

»So was Ähnliches. Die Polizei sucht im Zusammenhang mit einem Überfall nach einer jungen Frau, die vermißt wird. Und jetzt rate mal, wo dieser Überfall stattgefunden hat? Im King’s Palace!«

»In diesem Edel-Hotel? Ist das der Überfall, von dem der Sanitäter gesprochen hat?«

»Ich nehme es an, Julia. Die Polizei sucht nach einer jungen Frau, die im King’s Palace arbeitet. Sie heißt Linda Hanson. Das ist bisher alles, was ich weiß.«

»Linda Hanson«, meinte Julia nachdenklich. »Aber unsere Patientin war doch nicht im Hotel, als sie sie gefunden haben, oder?«

»Nein, aber in der Nähe – und völlig durcheinander. Kann ja sein, daß es ihr gelungen ist zu flüchten.«

Plötzlich hielt er inne. »Sag mal, hast du mir nicht erzählt, daß sie nach einer Frau Wagner gefragt hat?«

»Ja, das stimmt. Sie hat eine der Schwestern gefragt.«

»Ich kenne eine Frau Wagner, die im King’s Palace arbeitet.« Adrians Stimme klang jetzt gepreßt, und auf einmal hatte er es sehr eilig. »Ich gehe schnell in die Verwaltungsdirektion und sehe mir dort das Foto an, das sie haben, ja? Bin gleich zurück, Julia!«

Er rannte davon, und sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Er benahm sich ja fast so, als ginge es um einen Menschen, der ihm sehr nahe stand!

*

»Schön, daß Sie so schnell kommen konnten«, sagte Thomas Laufenberg höflich, als der Notaufnahmechef nach kurzem Klopfen sein Büro betrat. Er hielt sich nicht mit weiteren Vorreden auf, sondern schob ein Foto über den Tisch. »Das ist gerade angekommen – diese junge Frau wird vermißt.«

»Das ist unsere Patientin!« sagte Adrian aufgeregt. »Die völlig verwirrte Frau, die heute nacht bei uns eingeliefert wurde.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig, ja. Sie hat uns nicht gesagt, wie sie heißt. Sie war überhaupt nicht ansprechbar – Schockzustand. Aber wir haben nicht feststellen können, daß sie irgendwelche Verletzungen hatte. Allerdings hat sie sich geweigert, sich untersuchen zu lassen. Außerdem ist uns aufgefallen, daß sie offenbar Angst vor Männern hat. Deshalb hat sich meine Kollegin Dr. Martensen um sie gekümmert.«

»Könnte sie vergewaltigt worden sein?«

»Das haben wir uns auch gefragt, aber es gibt keinerlei Spuren, die darauf hinweisen.«

»Ich muß sofort die Polizei anrufen und mitteilen, daß wir die Frau gefunden haben. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick – oder müssen Sie sofort zurück?«

»Bald, ja. Aber ich habe noch ein paar Fragen zu dieser Sache – falls Sie etwas darüber wissen.«

Der andere nickte, griff zum Telefon und wählte. Gleich darauf meldete er sich und erklärte den Grund seines Anrufes. Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, bis er wieder auflegte und sich Adrian zuwandte. »Was wollten Sie wissen, Herr Dr. Winter?«

»Sie heißt Linda Hanson, sagten Sie?«

Thomas Laufenberg nickte. »Ja, sie arbeitet hauptsächlich an der Rezeption des King’s Palace, aber sie scheint auch in anderen Bereichen tätig gewesen zu sein. Reklamationen hat sie wohl auch bearbeitet.«

»Und was ist bei diesem Überfall nun eigentlich passiert?« erkundigte sich Adrian. »Sie hat offenbar heute nacht nach einer Frau Wagner gefragt…«

»Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht viel mehr sagen kann. Es hat einen Überfall im King’s Palace gegeben – mehr Informationen wollte die Polizei auch uns zu diesem Thema nicht geben, obwohl sie auf unsere Hilfe hofft. Jedenfalls: Im Zusammenhang mit diesem Überfall haben sie nach Frau Hanson gesucht, die plötzlich vermißt wurde.«

»Einer der Sanitäter erzählte, sie hätten sie in der Nähe des Hotels gefunden – völlig außer sich. Sie wußten nicht, ob sie zum Hotel gehörte oder nicht, weil sie nicht sagen wollte oder konnte, wie sie heißt und wo sie arbeitet.«

»Eine rätselhafte Geschichte«, meinte Thomas Laufenberg nachdenklich. »Ich vermute, wir werden bald die Polizei im Haus haben. Bereiten sie die junge Frau schonend darauf vor.«

Adrian schüttelte ablehnend den Kopf. »Sie liegt jetzt auf der Inneren, ich bin gar nicht mehr für sie zuständig. Aber eines weiß ich ganz sicher. Wenn man einen männlichen Polizisten auf sie losläßt, der es vielleicht zu allem Unglück auch noch am nötigen Zartgefühl fehlen läßt – dann wird man nichts aus ihr herausbringen, man würde sie nur noch mehr ängstigen. Das ist vom ärztlichen Standpunkt aus nicht zu vertreten. Meine Kollegen auf der Inneren werden Ihnen nichts anderes sagen.«

Thomas Laufenberg ließ sich das noch einmal durch den Kopf gehen, dann erklärte er: »Der zuständige Kommissar scheint ein vernünftiger Mann zu sein, ich werde versuchen, noch einmal mit ihm zu reden und ihm Ihre Bedenken mitzuteilen.«

Adrian verabschiedete sich wortlos und eilte zurück in die Notaufnahme. Dort sagte er zu Julia Martensen: »Ich müßte ganz dringend telefonieren, Julia. Kannst du noch fünf Minuten auf mich verzichten?«

»Auch zehn Minuten, wenn’s sein muß, es ist ruhig im Augenblick. Ist unsere Patientin die Frau, die sie suchen?«

»Ja, es ist Linda Hanson, und sie hat irgend etwas mit dem Unfall im King’s Palace zu tun. Die Frage ist nur: Was?«

*

Als Peter Simonis an diesem Morgen im Hotel eintraf, kam ihm die Atmosphäre schon im ersten Augenblick merkwürdig verändert vor, aber er hätte nicht auf Anhieb sagen können, warum. Er suchte Linda an der Rezeption. Als er sie nicht entdecken konnte, fragte er ihren Kollegen Roland Meeser, ­einen ziemlich schüchternen jungen Mann: »Ist Linda hinten im Büro?«

Roland Meeser zuckte zusammen, dann wurde er blaß. »Nein«, antwortete er. »Sie… sie ist gar nicht da.«

»Was heißt das?« fragte Peter mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte sich bei seinem Dienstschluß von ihr verabschiedet und seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen. »Hat sie sich krank gemeldet? Aber sie war doch gestern völlig in Ordnung.«

Der andere sah sich um, ob auch niemand in der Nähe war, der seine Worte mithören konnte, dann flüsterte er: »Wir hatten einen Überfall gestern abend. Seitdem ist Linda verschwunden.«

»Was?« rief Peter so laut, daß Roland Meeser verzweifelt sagte: »Pst! So seien Sie doch still! Wir sollen nicht darüber reden, damit die Gäste nichts mitkriegen. Es ist schon schlimm genug, daß überall Polizei im Haus ist.«

Das also war der Grund für die veränderte Atmosphäre, dachte Peter flüchtig. Es war ihm in diesem Augenblick völlig gleichgültig, ob irgendwelche Gäste mitbekamen, was er sagte. »Was ist mit Linda?« fragte er. »Erzählen Sie mir sofort alles, was Sie wissen, oder ich fange an zu schreien.«

Das wollte der schüchterne junge Mann an der Rezeption auf gar keinen Fall riskieren, und so berichtete er Lindas Freund in aller Eile das Wenige, was er wußte. »Und dann habe ich Herrn Wingensiefen informiert, daß sie nicht wieder aufgetaucht ist«, erklärte er zum Schluß. »Mehr weiß ich auch nicht, tut mir leid. Wir wissen bis jetzt nicht, wo sie ist.«

»Sie ist mit Frau Wagner hochgefahren, Frau Wagner ist zusammengeschlagen worden – und Linda ist verschollen?« fragte Peter tonlos. »Aber… aber… was sagt denn die Polizei dazu?«

»Die hat zuerst gar nicht gewußt, daß zwei Frauen oben waren. Wir wissen ja nur, daß sich zwei Räuber eingeschlichen haben sollen, die Frau Wagner und unsere beiden Gäste angegriffen haben. Da war von Frau Hanson gar nicht die Rede.«

»Ich will mit den beiden Gästen reden. Wo sind sie?«

Roland Meeser lächelte gequält. »Abgereist«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Leider ohne zu bezahlen. Sie können sich nicht vorstellen, was hier los ist seitdem.«

Peter Simonis spürte, daß ihm schlecht wurde vor Angst. »Und Linda?« fragte er mit erstickter Stimme. »Ja, aber die müssen sich doch um Linda kümmern! Ihr muß doch was passiert sein, wenn sie verschwunden ist.«

»Die Polizei sucht ja schon längst nach ihr, Herr Simonis. Alle Krankenhäuser sind alarmiert, wir hoffen, daß wir bald Nachricht bekommen, was mit ihr ist.«

»Ist der Direktor im Haus?« fragte Peter.

»Das weiß ich leider nicht – Sie können sich ja vorstellen, daß im Augenblick jeder etwas von ihm will.«

Peter nickte und wandte sich ab. Mit leerem Blick durchquerte er die Hotelhalle. Er liebte Linda. Wenn er es bisher noch nicht gewußt hatte, dann wußte er es jetzt. Zwar spürte er, daß sie ein Geheimnis hatte, das sie ihm bisher nicht hatte anvertrauen wollen, aber er war sicher, daß sie das eines Tages tun würde. Sie mußte nur erst mehr Vertrauen zu ihm finden.

Aber jetzt war Linda verschwunden, und er hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, was in der letzten Nacht passiert war. Niemand hatte ihn benachrichtigt – warum hätte das auch jemand tun sollen? Roland Meeser war einer der wenigen, die wußten, daß Linda und er befreundet waren.

Er machte sich auf den Weg zum Büro des Direktors. Vielleicht hatte er Glück und traf ihn an.

*

»Frau Hanson?« fragte Julia Martensen behutsam.

Die Patientin erschrak und sah die Ärztin aus ihren dunklen Augen furchtsam an. »Woher wissen Sie meinen Namen?«

»Weil Sie als vermißt gemeldet waren – die Polizei hat nach Ihnen gesucht. Wir haben Sie auf einem Foto erkannt. Im Hotel macht man sich große Sorgen um Sie, das können Sie sich doch vorstellen.«

Linda traten Tränen in die schönen Augen.

»Wirklich?« fragte sie. »Entschuldigen Sie bitte, ich will gar nicht weinen, aber es war so schrecklich, als wir in das Zimmer gekommen sind – und die beiden wollten sich gar nicht über etwas beschweren, die wollten nur… die wollten nur…«

Julia setzte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. Endlich löste sich die große Anspannung der jungen Frau, und sie begann heftig zu weinen.

Unter Tränen konnte sie nun auch erzählen, was in dem Zimmer passiert war. Als sie erwähnte, daß die Kollegin, mit der zusammen sie diesen Alptraum erlebt hatte, Stefanie Wagner hieß, fragte sich Julia, ob das wohl jene Frau Wagner sei, die Adrian kannte… Sie mußte sich gleich bei ihm danach erkundigen.

Als Linda Hanson ihren Bericht beendet hatte, fragte Julia vorsichtig.

»Aber getan haben Ihnen die Männer nichts, Frau Hanson? Ich meine, bevor etwas passiert ist, hatte Frau Wagner schon telefonieren können?«

Linda Hanson nickte. »Ja, ich habe gesehen, daß dieser Russe mit seiner blöden Sonnenbrille sie niedergeschlagen hat – aber natürlich wußten sie, daß es schon zu spät war. Da haben sie sich jeder noch ein paar Schläge ins Gesicht verpaßt, damit es so aussah, als seien sie selbst überfallen worden. In dem Augenblick bin ich weggelaufen. Ich bin einfach aufgestanden und aus dem Zimmer gerast.«

»Aber die Leute, die Frau Wagner angerufen hatte, müssen Sie doch gesehen haben.«

Linda schüttelte den Kopf. »Ich war völlig durcheinander, nur ein Gedanke war ganz klar in meinem Kopf. Ich muß hier raus, keiner darf mich sehen. Ich bin über die Feuertreppe gelaufen, bis auf die Straße und dann noch ein ganzes Stück, bis ich nicht mehr konnte. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Dann müssen mich die Sanitäter gefunden haben.«

Julia Martensen nickte und sah ihre junge Patientin nachdenklich an. Sie glaubte ihr jedes Wort – aber dennoch schien ihr die Geschichte nicht ganz vollständig zu sein. Etwas fehlte. Etwas ganz Entscheidendes: Warum wollte sich Linda Hanson nicht untersuchen lassen, wenn sie doch körperlich unversehrt geblieben war?

»Soll ich jemanden benachrichtigen, daß Sie hier sind, Frau Hanson?« fragte sie.

»Ja«, antwortete die junge Frau leise. »Es wäre schön, wenn mein Freund kommen könnte. Peter Simonis. Er arbeitet auch im King’s Palace.«

*

»Sie wollen also mit dem Zug fahren«, stellte Kriminalkommissar Hummel mit bösem Lächeln fest, als er auf einer Karte den Weg verfolgte, den Norman Jones und Jewgenij Popov bisher zurückgelegt hatten. »Haben wohl gedacht, wenn sie durch den Heizungskeller fliehen, dann haben sie uns abgehängt. Nicht dumm, aber leider auch nicht klug genug!«

Seine Leute waren den Herren Jones und Popov auf den Fersen geblieben, seit diese aus dem Hotel geflohen waren. Er konnte von Glück sagen, daß sein berühmter Instinkt ihm geraten hatte, möglichst viele Beamte für diesen Fall anzufordern. So hatte es bisher keine Panne bei der Verfolgungsjagd quer durch die ganze Stadt gegeben. Seine Leute waren gut ausgerüstet und hatten noch keinen Fehler gemacht, während er in seinem Büro saß und per Funk zu allen Kontakt hielt.

Er hätte die beiden längst festnehmen lassen, wenn er nicht die Hoffnung gehabt hätte, daß sie sich vielleicht noch mit jemandem trafen. Mittlerweile war er ganz sicher, daß es sich bei Jones und Popov um große Fische handelte, und er hoffte, daß sie ihn auf die Spur noch anderer großer Fische brachten. Aber bisher hatten sie niemanden aufgesucht und auch mit niemandem telefoniert.

»Wenn sie sich Fahrkarten kaufen und Anstalten machen, in einen Zug zu steigen, nehmt sie fest«, kommandierte er. »Wir können nicht den ganzen Tag so weitermachen. Sie sind offenbar äußerst vorsichtig, also sollten wir nicht riskieren, daß sie uns am Ende vielleicht doch noch entkommen.«

»Okay, Chef«, lautete die mehrstimmige Antwort.

In diesem Augenblick kam einer seiner Mitarbeiter herein und flüsterte aufgeregt: »Sie haben die andere Frau gefunden, Chef, die Frau, mit der Frau Wagner in diese Suite gegangen ist. Sie liegt in der Kurfürsten-Klinik.«

Kriminalkommissar Hummel strahlte. Dies war ein glücklicher Tag in seiner Laufbahn. Ein sehr glücklicher sogar. »Hat sie schon geredet?«

»Der Verwaltungsdirektor wußte von nichts, er hat nur gesagt, sie hätte einen Schock und sei völlig verstört. Wenn möglich, sollte sie von einer Frau vernommen werden – sie hat offenbar Angst vor Männern.«

»Vergewaltigung?«

Der junge Mann, der vor ihm stand, hob die Schultern. »Daran hat bisher jeder gedacht, aber es gibt keine Anzeichen dafür. Ihre Kleidung ist völlig in Ordnung. Sie hat sich allerdings bisher geweigert, sich untersuchen zu lassen.«

»Hm«, brummelte der Kommissar. »Ich denke mal darüber nach. Sie können gehen, danke.«

Er rutschte in seinem Bürostuhl nach hinten und schloß die Augen. In dieser Haltung hatte er bisher für fast jedes Problem eine Lösung gefunden.

*

»Kann ich bitte mit Frau Wagner sprechen? Hier ist Dr. Winter – Kurfürsten-Klinik.«

»Tut mir leid, Herr Dr. Winter, aber Frau Wagner ist heute nicht im Hause. Kann ich ihr etwas ausrichten?«

»Nein, ich müßte sie unbedingt persönlich sprechen – und zwar bald. Wann kann ich sie erreichen?«

»Ich fürchte, in den nächsten beiden Wochen überhaupt nicht. Frau Wagner ist auf Reisen.«

»So?« fragte Adrian und versuchte es mit einem Schuß ins Blaue. »Davon hat sie mir gar nichts erzählt. Ich bin überzeugt, sie hätte es erwähnt, wenn sie hätte verreisen wollen. Sind Sie sicher, daß Sie mir die Wahrheit sagen?«

Stefanies Sekretärin kam hörbar ins Schwimmen. »Herr Dr. Winter, ich kann Ihnen leider keine andere Auskunft geben. Frau Wagner ist nicht im Hause und wird auch die nächsten zwei Wochen nicht erreichbar sein. Kann ich Sie mit jemand anders verbinden?«

»Ja, mit dem Direktor«, sagte Adrian entschlossen.

»Einen Augenblick, ich sehe mal, ob ich ihn erreichen kann. Was darf ich ihm sagen, in welcher Angelegenheit Sie anrufen?«

Adrian hatte schon eine heftige Antwort auf der Zunge, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Ich rufe wegen Linda Hanson an, die liegt ja schließlich bei uns in der Klinik. Ich dachte, das sei Ihnen klar.«

»Oh, nein, äh… entschuldigen Sie bitte, einen Augenblick.«

Es klickte, dann ertönte eine Musik, die Adrian schrecklich auf die Nerven ging. Würde sich wenigstens der Direktor sprechen lassen?

Gleich darauf ertönte dann eine sehr kraftvolle, männliche Stimme: »Wingensiefen. Guten Tag.«

»Dr. Winter, Notaufnahme Kurfürsten-Klinik, guten Tag, Herr Wingensiefen.«

»Sie rufen wegen Frau Hanson an, hörte ich? Wie geht es ihr?«

»Nicht so gut, leider.« Adrian überlegte fieberhaft, wie es ihm gelingen sollte, die Rede auf Stefanie Wagner zu bringen. Ihm war bei dem vorigen Telefonat klargeworden, daß ihm niemand freiwillig etwas erzählen würde. Er mußte es mit einer List probieren, oder er würde überhaupt nichts erfahren. »Sie ist völlig verstört, und sie will nicht reden. Es würde uns helfen, wenn wir wüßten, was bei diesem Überfall eigentlich passiert ist.«

»Es wäre mir lieber, Sie würden mit der Polizei darüber reden«, antwortete der Hoteldirektor reserviert. Er hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, daß seine beiden besonders wichtigen Gäste offenbar hochkarätige Gangster waren, die dem King’s Palace in mehrfacher Hinsicht sehr geschadet hatten.

»Das kann ich natürlich auch tun«, erwiderte Adrian liebenswürdig, obwohl er dem anderen am liebsten an die Kehle gesprungen wäre. »Aber ich dachte, daß Sie als Chef des Hauses ja ganz besondere Verantwortung für Ihre Mitarbeiter tragen und mir deshalb vielleicht einen Hinweis geben würden, der uns bei Frau Hansons Behandlung weiterhelfen könnte. Ich habe schon versucht, mit Frau Wagner zu sprechen…«

»… und da sind Sie an diesen Drachen von Ärztin geraten?« erkundigte sich Andreas Wingensiefen. »Da ist es Ihnen genau wie mir ergangen.«

Adrians Herz stolperte und schlug dann doppelt so schnell wie zuvor. »Bitte, sagen Sie mir, wie sich der Überfall abgespielt hat, Herr Wingensiefen«, bat er, und seine Stimme hörte sich wie durch ein Wunder völlig gelassen an. »Es ist wichtig, glauben Sie mir das bitte! Ich würde Sie sonst nicht behelligen.«

Endlich gab der andere nach und erzählte in wenigen Worten alles, was er bis jetzt wußte. Als Adrian den Hörer auflegte, fühlte er sich wie betäubt.

Er eilte auf die Innere Station, wo Julia gerade das Zimmer von Linda Hanson verließ. »Sie hat mir alles erzählt«, berichtete sie. »Die Kollegin, mit der zusammen sie überfallen worden ist, heißt Stefanie Wagner. Ist es die, die du kennst?«

»Ja«, antwortete er. »Sie haben sie niedergeschlagen, sie liegt in der Charité. Das hat mir der Hoteldirektor gerade erzählt.«

Julia sah ihn forschend an. Etwas an seiner Stimme ließ sie aufmerksam werden. Adrian war unverheiratet, und er hatte auch keine Freundin, weil er, wie er selbst freimütig zugab, mit seinem Beruf verheiratet war. Aber jetzt schien ihr, als sei diese rätselhafte Frau Wagner vielleicht doch nicht nur eine entfernte Bekannte von ihm. Ihre Neugier war geweckt, aber sie bezwang sie. Es war unmöglich, ihn jetzt danach zu fragen, das zeigte ihr ein Blick in seine Augen.

»Hast du schon dort angerufen?« fragte sie ruhig.

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde sie heute abend besuchen«, sagte er. »Es scheint, daß sie großes Glück gehabt hat – sie hatten zunächst einen Schädelbruch befürchtet. Was hast du noch erfahren?«

Sie berichtete es ihm. Ihre Erzählung deckte sich im Wesentlichen mit dem, was er von Andreas Wingensiefen gehört hatte – bis auf die Einzelheiten natürlich, die nur Linda Hanson hatte wissen können. »Wir sollten der Polizei mitteilen, was sie erzählt hat«, schloß Julia. »Ich nehme an, daß das eine wichtige Aussage ist.«

Adrian stimmte ihr zu. »Dann ist der Fall ja geklärt«, meinte er. »Wenn sie die zwei Gangster jetzt noch erwischen, können sie ihn zu den Akten legen.«

»Für die Polizei ist das richtig, aber nicht für uns«, meinte Julia. »Frau Hanson hat ein Geheimnis, Adrian. Es gibt etwas, das sie vor uns verbirgt.«

»Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen, als ich gesehen habe, wie sie vor mir zurückweicht«, sagte er. »Aber wir können sie nicht zwingen, mit uns zu reden oder sich untersuchen zu lassen.«

»Eine frauenärztliche Untersuchung hat sie bisher strikt abgelehnt«, berichtete Julia. »Ich wollte ganz sichergehen, daß diese beiden Gangster sie wirklich nicht vergewaltigt haben – aber sie läßt sich nicht untersuchen. Vermutlich wird sie die Klinik bald auf eigenen Wunsch verlassen, und wir werden nie erfahren, was sie mit sich herumschleppt.«

»Aber sie hat doch Vertrauen zu dir, oder? Vielleicht vertraut sie sich dir an.«

»Ja, vielleicht«, sagte Julia zweifelnd.

Sie hatten die Notaufnahme erreicht. Julia rief Kommissar Hummel an und gab weiter, was sie von Linda Hanson erfahren hatte. Danach hatten Adrian und sie so viel zu tun, daß sie nicht mehr zum Nachdenken kamen.

*

Andreas Wingensiefen persönlich teilte Peter Simonis mit, daß Linda Hanson in der vergangenen Nacht in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden war und darum gebeten hatte, ihn zu verständigen. Der Direktor gab seinem jungen Mitarbeiter großzügig für den Rest des Tages frei.

Peter war unmittelbar danach aufgebrochen und fragte sich jetzt in der Klinik durch. Als er endlich vor dem richtigen Zimmer auf der Inneren Station stand, atmete er tief durch, dann klopfte er vorsichtig an und trat ein.

Als Linda ihn sah, fing sie sofort wieder an zu weinen. Bestürzt eilte er auf sie zu. Er fragte nicht viel, sondern nahm sie in die Arme und hielt sie fest, bis sie sich allmählich beruhigte. »Ist ja schon gut, Linda«, flüsterte er, »ich bin doch bei dir! Hier wird dir niemand etwas tun.«

»Aber ich habe mich immer so sicher gefühlt im Hotel«, sagte sie weinend. »Das wird nie wieder so sein, Peter. Von jetzt an werde ich Angst haben, wenn ich dort bin.«

»Nein, das wirst du nicht!« widersprach er. »Das war eine einmalige Situation, die sich nicht wiederholen wird. Die beiden Gäste waren Verbrecher, vergiß das nicht! Solche Leute wohnen bei uns normalerweise nicht!«

»Viele Männer vergewaltigen Frauen und werden dennoch nicht als Verbrecher angesehen«, klagte sie mit einer so bitteren Stimme, daß er erschrak. »Hast du mitbekommen, was sie im Vorfeld für ein Theater um die beiden gemacht haben? Unglaublich wichtige Geschäftsleute, ganz besondere Behandlung, große Investitionen in Berlin – und so weiter und so fort.«

»Ja, ich weiß«, sagte er beruhigend. »Aber man konnte doch vorher nicht wissen, was das für Leute sind.«

»Davon rede ich ja!« erwiderte sie unerwartet heftig. »Nur weil sie Geld haben, hat man angenommen, daß sie anständig sind. Statt sie sich erst einmal anzusehen und einen Eindruck von ihnen zu gewinnen! Aber so ist das eben im Geschäftsleben – da zählt nur das Geld, sonst nichts.« Wieder fing sie an zu weinen.

Er streichelte ihr weiter beruhigend den Rücken. »Sind die Ärzte nett hier?« fragte er, um sie abzulenken. »Behandeln sie dich auch gut?«

»Frau Dr. Martensen ist sehr nett, ja«, antwortete Linda schluchzend. »Ihr habe ich die Geschichte auch erzählt. Zuerst konnte ich gar nicht reden, weißt du? Ich bin ja in die Notaufnahme eingeliefert worden… da waren Frau Dr. Martensen und Herr Dr. Winter. Er ist auch sehr nett, aber ich hatte Angst vor ihm. Immer habe ich die beiden Männer im Hotel vor mir gesehen, daran mußte ich die ganze Zeit denken. Ich glaube, er hat das gemerkt, jedenfalls ist er schließlich weggegangen, und dann war nur noch Frau Dr. Martensen da.«

»Hattest du Angst vor ihm, weil er ein Mann ist?«

Sie nickte.

»Aber ich bin auch ein Mann, Linda«, sagte er behutsam. »Hast du auch vor mir Angst?«

Diesmal antwortete sie nicht. Sie umklammerte ihn nur ganz fest mit beiden Armen, und er spürte wieder, daß es etwas gab, das zwischen ihnen stand.

*

Kriminalkommissar Hummel sah sich Norman Jones und Jewgenij Popov durch die vom Verhörraum aus unsichtbare Fensterscheibe mit grimmiger Zufriedenheit an. »Die werden sich wundern!« knurrte er. »Noch scheinen sie nicht damit zu rechnen, daß ihnen allzuviel passiert. Irgendwelche hochbezahlten Staranwälte sind wahrscheinlich schon im Anmarsch.«

In der Tat machten die beiden Männer im Verhörraum einen unbeschwerten Eindruck. Vermutlich wußten sie, daß sie beobachtet wurden, und spielten den unsichtbaren Zuschauern deshalb eine kleine Komödie vor.

Es war aber auch möglich, daß sie sich tatsächlich keine allzu großen Sorgen um ihre Zukunft machten.

»Haben wir denn überhaupt genug in der Hand, um sie lange festzuhalten?« fragte einer der Mitarbeiter des Kommissars.

»Ich arbeite daran«, antwortete sein Chef. »Diese Sache im Hotel ist ja im Vergleich zu dem, womit sie sonst noch zu tun haben, eine Lappalie. Sie haben ihr Geld im internationalen Drogenhandel gemacht, das wissen alle, aber man hat es ihnen bisher nicht nachweisen können. Seit zwei Jahren treten sie nur noch als seriöse Geschäftsleute auf. Es wird nicht einfach sein, sie hinter Schloß und Riegel zu bringen. Besonders der Amerikaner, Norman Jones, ist ein ganz gerissener Kerl. Der Russe ist noch zu unerfahren. Vielleicht verrät er sich, wenn wir die beiden getrennt verhören. Aber es wäre auch möglich, daß das gar nicht mehr nötig ist.«

Er lachte und drehte sich zu dem anderen um. »Zufällig sind der spanischen Polizei auf Gran Canaria vor einigen Wochen zwei Dealer ins Netz gegangen, die unter Umständen bereit sind, gegen die beiden auszusagen. Dann haben wir sie.«

»Hoffentlich klappt das – das wäre ja großartig.«

»Ja, das wäre es. Ist die Beamtin schon unterwegs, um die Aussage von Frau Hanson zu Protokoll zu nehmen?«

»Wir erwarten sie eigentlich bald zurück. Sie ist schon eine ganze Weile weg. Gleich nachdem diese Ärztin Sie angerufen hatte, Chef, hat sie sich auf den Weg gemacht.«

»Gut«, sagte Kommissar Hummel. »Wenn es mir gelingt, diese beiden Gangster hinter Schloß und Riegel zu bringen, wird das einer meiner schönsten Tage bei der Kriminalpolizei sein.«

»Nicht nur für Sie, Chef. Ich glaube, ich kann sagen, das gilt für uns alle.«

*

»Ich habe gute Neuigkeiten für Sie, Frau Wagner«, sagte Frau Dr. Kleinfeld, als sie das Zimmer ihrer Patientin betrat.

»Ja?« fragte Stefanie hoffnungsvoll. »Was denn für Neuigkeiten?«

»Ihre Kollegin Linda Hanson ist gefunden worden. Sie liegt in der Kurfürsten-Klinik.«

Interessiert sah die Ärztin, wie sich die Wangen der blonden jungen Frau erneut zartrosa verfärbten. Mit diesem Arzt an der Kurfürsten-Klinik, den sie kannte, mußte es doch etwas auf sich haben…

»Und wie geht es ihr? Warum war sie verschwunden?«

Frau Dr. Kleinfeld berichtete ihr, was man ihr mitgeteilt hatte, und Stefanie hörte ihr atemlos zu.

»Und mit Linda Hanson ist wirklich alles in Ordnung?« fragte sie.

»Soweit ich gehört habe, ja. Allerdings hat sie einen Schock erlitten und ist wohl noch immer sehr durcheinander.«

»Sie begann zu zittern, als sie gemerkt hat, was die beiden vorhatten. Sie hat es in derselben Sekunde begriffen wie ich, und sie ist weiß geworden wie die Wand. Wer hat Ihnen das eigentlich alles erzählt, Frau Dr. Kleinfeld?«

»Der Kriminalkommissar selbst hat angerufen und darum gebeten, daß wir Sie informieren. Das fand ich sehr nett von ihm. Er hat gesagt, daß er gern persönlich gekommen wäre, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen, aber sie haben diese beiden Gangster festgenommen, deshalb hatte er keine Zeit.«

»Ja? Oh, wie mich das freut!«

»Sie können sich nicht vorstellen, was in der Stadt los ist – die Polizei hat ja alle Informationen zurückgehalten, um die beiden in Sicherheit zu wiegen. Sie sind über einen Hinterausgang aus dem Hotel geflüchtet und haben offenbar nicht einmal gemerkt, daß man sie die ganze Zeit verfolgt hat. Als sie dann in einen Zug steigen wollten, sind sie verhaftet worden. Im Fernsehen berichten sie seitdem stündlich über den Fall.«

»Kann ich mir vorstellen«, murmelte Stefanie. »Gute Werbung für das King’s Palace ist die Geschichte leider nicht.«

»Oh, doch!« rief die Ärztin. »Sie sind die Heldin des Tages, weil Sie niedergeschlagen wurden. Und Ihre Kollegen, die sofort zu Ihrer Rettung herbeigeeilt sind, ebenfalls. Das Hotel ist in aller Munde.«

»Aber es ist doch schrecklich peinlich, daß zwei unserer Gäste sich als Verbrecher entpuppt haben – oder etwa nicht?«

»Bisher sieht das offenbar niemand so«, antwortete die Ärztin lächelnd. »Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen, Frau Wagner.«

»Ich hoffe, niemand hat meinen Namen erwähnt«, sagte Stefanie.

»Bisher nicht, aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern, bis jemand ihn herausgefunden hat. Wir haben schon die Kontrollen hier bei uns verstärkt, damit sich nicht plötzlich Journalisten einschleichen, die wir hier nicht haben wollen.«

»Das fehlte noch«, murmelte Stefanie. »Aber ich bin froh, daß ich jetzt weiß, wo Linda Hanson ist. Sie ist ein ganz besonders netter Mensch. Hoffentlich erholt sie sich schnell von ihrem Schock.«

»Sie werden sie leider nicht besuchen können, Frau Wagner, denn ein Weilchen werden Sie noch bei uns bleiben müssen, bis es Ihrem Kopf wieder bessergeht.«

»Ich weiß«, seufzte Stefanie. Insgeheim fragte sie sich, ob Frau Hanson wohl zunächst zu Dr. Winter in die Notaufnahme gebracht worden war.

Frau Dr. Kleinfeld lächelte ihr zu. »Bis später, Frau Wagner.«

»Danke, daß Sie mir Bescheid gegeben haben, Frau Doktor.«

Die Ärztin nickte und ließ sie allein. Stefanie schlief wieder ein und fing an zu träumen – es war ein wirrer Traum, in dem Dr. Winter eine Hauptrolle spielte, aber leider schien er sie nicht zu erkennen.

*

»Sind Sie Herr Dr. Winter?«

Adrian, der sich gerade auf den Weg zur Charité und zu Stefanie Wagner hatte machen wollen, weil sein Dienst für diesen Tag endlich beendet war, sah erstaunt auf den jungen Mann, der plötzlich vor ihm stand und ihn schüchtern anlächelte. Er war blond und blauäugig und hatte ein sehr nettes Gesicht.

»Ja, der bin ich. Kann ich ihnen helfen?«

»Ich… ich weiß es nicht, Herr Dr. Winter. Mein Name ist Peter Simonis, ich bin mit Linda Hanson… befreundet.«

»Nehmen Sie Platz, Herr Simonis«, forderte Adrian ihn auf, »und sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.«

Der junge Mann sah sich um, um festzustellen, ob sich auch niemand in Hörweite befand. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, gestand er. »Ist Ihnen an Frau Hanson etwas aufgefallen? Finden Sie etwas merkwürdig an ihr?«

Adrian war jetzt sehr aufmerksam geworden: »Hauptsächlich hat sich meine Kollegin, Frau Dr. Martensen, um Frau Hanson gekümmert. Wir hatten nämlich den Eindruck, daß es besser sei, wenn sie von einer Frau behandelt wird.« Er machte eine Pause, um die Reaktion von Peter Simonis abzuwarten.

Der junge Mann nickte, als habe er mit dieser Auskunft gerechnet. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen«, sagte er bedrückt. »Haben Sie sie untersucht?«

»Eine frauenärztliche Untersuchung hat sie abgelehnt.«

Peter Simonis atmete schwer, dann blickte er dem Arzt offen ins Gesicht. »Ich sagte Ihnen, daß wir befreundet sind, Herr Dr. Winter. Tatsache ist, daß ich Linda liebe, sehr sogar. Ich möchte mit ihr zusammenbleiben. Aber es gibt etwas, das zwischen uns steht.« Er stockte und suchte nach Worten.

Adrian wartete geduldig.

»Ich hätte niemals mit einem Freund darüber reden können, aber nachdem das jetzt passiert ist, denke ich, vielleicht sei es ja wichtig – damit Linda wieder gesund wird, meine ich. Sie hat doch einen Schock erlitten, oder?«

»Ja, einen schweren Schock«, bestätigte Adrian.

»Wir schlafen nicht miteinander«, gestand Peter Simonis nun sehr leise. »Wir kennen uns schon eine ganze Zeit, und ich glaube, daß sie mich auch liebt – aber außer einem Kuß ist zwischen uns bisher nichts gewesen. Und auch unsere Küsse sind äußerst zurückhaltend. Wir haben noch nie darüber gesprochen, weil mir klar ist, daß sie nicht darüber reden will – aber sie hält mich auf Distanz, so als fürchte sie, etwas Schreckliches könne passieren.«

Wieder machte er eine Pause und fuhr sich mit beiden Händen durch die blonden Haare. »Ich glaube«, fuhr er schließlich fort, »daß es da etwas gibt, etwas aus ihrer Vergangenheit. Und durch diese Geschichte im Hotel muß das wieder hochgekommen sein.«

»Das würde einiges erklären«, sagte Adrian nachdenklich. »Haben Sie einen Verdacht, was ihr zugestoßen sein könnte? Wir haben zuerst an eine Vergewaltigung gedacht – und das war es ja wohl auch, was diese beiden Männer planten. Doch so weit ist es nicht gekommen, weil Frau Wagner rechtzeitig das Telefon erreicht hat.«

»Vielleicht ist ihr früher so etwas passiert?« meinte Peter Simonis. »Ich habe niemanden, Herr Dr. Winter, mit dem ich sonst über diese Sache reden könnte. Ich weiß, daß Ihre Kollegin sich hauptsächlich um Linda gekümmert hat – das hat Linda mir selbst erzählt, aber ich könnte nicht mit einer Frau darüber reden. Ich habe Angst um Linda. Ich… ich hatte manchmal sogar das Gefühl, daß sie sich vor mir ekelt, wenn ich etwas leidenschaftlicher wurde.«

»Es ist gut, daß Sie mir das erzählt haben, Herr Simonis«, sagte Adrian ruhig. »Wenn Sie gestatten, werde ich mit Frau Dr. Martensen darüber sprechen. Ich glaube, Frau Hanson hat Vertrauen zu ihr.«

»Ich wäre sehr froh darüber, wenn ihr jemand helfen könnte, Herr Dr. Winter«, sagte der junge Mann erleichtert. »Linda ist so ein wundervoller Mensch – ich wünsche mir nichts mehr, als daß sie glücklich wird.« Er stand auf und streckte Adrian die rechte Hand entgegen. »Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.«

Auch Adrian erhob sich und erwiderte den Händedruck des anderen. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich mir anvertraut haben, Herr Simonis. Wir werden versuchen, Frau Hanson zu helfen, das verspreche ich Ihnen.«

Er blickte dem jungen Mann nach, als dieser die Notaufnahme verließ, dann machte er sich gleichfalls auf den Weg.

*

Stefanie Wagner wachte davon auf, daß die Stimme, die sie die ganze Zeit in ihrem Traum gehört hatte, sagte: »Vielen Dank, Frau Kollegin. Lassen Sie mich ruhig allein mit ihr. Ich warte, bis sie aufwacht.«

Es war die Stimme von Dr. Adrian Winter. Im nächsten Moment klappte die Zimmertür zu, und Stefanie schlug die Augen auf. Sie war sicher, daß sie noch träumte, denn es konnte ja nicht sein, daß der Arzt wirklich an ihrem Bett saß und sie freundlich anlächelte.

»Ich träume«, sagte sie laut und erschrak dann vor ihrer eigenen Stimme.

»Sie sind wach«, sagte er und beugte sich ein wenig vor. »Guten Tag, Frau Wagner. Das ist schon das zweite Mal, seit wir uns kennen, daß Sie in einem Krankenhausbett liegen.«

»Sie sind wirklich hier?« fragte sie staunend. »Wieso besuchen Sie mich, Herr Dr. Winter?«

»Den Doktor wollten wir doch weglassen«, meinte er lächelnd. »Hatten wir das nicht ausgemacht?«

»Aber in einem Krankenhaus wirkt es angebracht«, gab sie zurück. »Also: Wieso sind Sie hier?«

»Weil Ihre Kollegin bei uns ist, weil ich so nach und nach die ganze Geschichte erfahren habe – und weil ich mir Sorgen um Sie gemacht habe, als ich hörte, daß ein Gangster Sie niedergeschlagen hat«, zählte er auf.

»Erinnern Sie mich bloß nicht daran«, murmelte sie. »Die arme Linda Hanson – die hat gezittert wie Espenlaub, als der Typ sie aufs Bett geworfen hat. Das hätten Sie mal sehen sollen. Sie war ganz starr vor Angst. Ein Wunder, daß sie danach die Kraft aufgebracht hat wegzulaufen.«

»Sie hat meiner Kollegin erzählt, daß Ihre beiden Gäste sich wechselseitig Verletzungen zugefügt haben, um die Geschichte von den unbekannten Räubern, die entkommen konnten, glaubwürdiger erscheinen zu lassen. In dem Moment ist sie weggelaufen.«

Er griff nach ihrer Hand. »Ich bin sehr froh, daß die Sache halbwegs glimpflich abgelaufen ist«, sagte er. »Ich habe mir wirklich Sorgen um Sie gemacht, als ich hörte, daß Sie in die Sache verwickelt seien.«

Er zog seine Hand zurück, und Stefanie fand das sehr bedauerlich. Sie hatte ein völlig verrücktes Glücksgefühl, seit der junge Arzt an ihrem Bett saß, und sie gestand sich ein, daß sie in letzter Zeit ziemlich oft an ihn gedacht hatte.

»Immerhin sehen wir uns auf diese Weise endlich einmal wieder«, sagte sie lächelnd, und sie konnte nur hoffen, daß er das leichte Zittern ihrer Stimme nicht bemerkte.

Er lächelte auch, als er ihr jetzt in die Augen sah. Sie spürte, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg.

Er wollte gerade etwas erwidern, als es klopfte. Bevor Stefanie »Herein« sagen konnte, wurde die Tür bereits geöffnet.

Oliver Mahnert, ihr früherer Freund, der sich zu ihrem großen Ärger noch immer sehr besitzergreifend ihr gegenüber verhielt, kam herein. Ohne den Besucher an Stefanies Bett auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte er: »Schatz, was machst du denn bloß für Geschichten!?« Im nächsten Moment hatte er ihr auch schon einen Kuß auf die Wange gegeben.

Am liebsten hätte sie ihn angeschrien. Vorsichtig warf sie einen Blick auf Adrian Winter, dessen Gesicht auf einmal völlig ausdruckslos geworden war. Er hatte sich bereits erhoben. »Ich komme ein anderes Mal wieder, Frau Wagner«, sagte er höflich, nickte kurz in Oliver Mahnerts Richtung und verließ das Zimmer, bevor sie auch nur einen Versuch machen konnte, ihn zurückzuhalten.

»Verdammt, Oliver!« rief Stefanie zornig, als sich die Tür hinter dem Arzt geschlossen hatte. »Mußt du eigentlich immer zur unpassenden Zeit auftauchen?«

»Wieso?« fragte er verständnislos. »Es ist doch selbstverständlich, daß ich dich besuche, wenn ich höre, daß du im Krankenhaus liegst. Und es ist schlimm genug, daß ich es von deinem Chef erfahren muß – statt von dir persönlich.« Daß sie Besuch gehabt hatte, schien er gar nicht mitbekommen zu haben.

Stefanie unterdrückte die heftige Antwort, die ihr auf der Zunge lag. So war Oliver nun einmal, und er würde sich nie ändern. Was er nicht sehen wollte, sah er eben nicht. Und was er nicht sah, das existierte nicht! Bis sie ihm eines Tages endlich einen anderen Mann präsentierte, würde er weiterhin stur an der Vorstellung festhalten, daß sie beide irgendwann doch noch heiraten und eine Familie gründen würden.

Sie war es leid, ihm immer wieder zu sagen, daß er sich das aus den Kopf schlagen konnte. Sie liebte ihn nicht mehr, falls sie das überhaupt jemals getan hatte. Er engte sie ein, versuchte ihr ständig zu sagen, was gut und schlecht für sie war, und er wußte alles besser. Ihre Gefühle für ihn waren ein Irrtum gewesen, das hatte sie sehr schnell erkannt. Aber er nahm das einfach nicht zur Kenntnis. Er war davon überzeugt, daß Hartnäckigkeit zum Ziel führte und daß Stefanies Verhalten im Grunde nur weibliche List war. Mit anderen Worten: Er nahm sie nicht ernst, und begriff noch nicht einmal, welch großen Fehler er damit machte.

Was aber hatte wohl Adrian Winter gedacht, als Oliver so hereingeplatzt war? Hatte er nicht auch, wie er das oft tat, wieder einmal »Schatz« zu ihr gesagt? Auf einmal fühlte sie sich elend, und mitten in Olivers Ausführungen hinein erklärte sie: »Tu mir einen Gefallen, Oliver, und laß mich allein.«

Sie sah, daß er verletzt war, aber das war ihr im Augenblick gleichgültig.

»Bitte, ganz wie du willst«, sagte er steif.

Sie nickte nur, und er verabschiedete sich sichtlich gekränkt von ihr. Als er die Tür hinter sich schloß, mußte sie sich sehr anstrengen, nicht zu weinen. Aber es wäre ja wirklich albern gewesen, in Tränen auszubrechen, weil der überraschende Besuch von Dr. Adrian Winter nur so kurz gewesen war.

*

Frau Senftleben öffnete ihre Wohnungstür in dem Augenblick, als Adrian müde die Treppen heraufkam. Als er aufblickte, mitten in ihr freundliches Gesicht, fühlte er sich sofort ein wenig besser, auch wenn ihm immer noch elend zumute war. Mit diesem Mann, der »Schatz« zu ihr sagte, hatte er Stefanie Wagner bereits zuvor einmal gesehen – und diese erneute Begegnung hatte ihn völlig entmutigt. Dabei war er sicher gewesen, als sie ihm für kurze Zeit ihre Hand überlassen hatte, daß da etwas zwischen ihnen war…

»Ich sehe«, stellte seine Nachbarin sachlich fest, »daß Sie dringend ein gutes Essen in meiner Gesellschaft benötigen.«

»Da könnten Sie recht haben, Frau Senftleben«, gab er zu.

»Dann kommen Sie herein und erzählen Sie mir, was Ihre Medizinerseele bedrückt«, forderte sie ihn auf.

Er folgte ihr sofort und ohne zu zögern. Zwar würde er ihr nichts von Stefanie Wagner erzählen, aber er konnte ihr immerhin die ganze Geschichte um den Überfall im King’s Palace berichten.

Während sie den vorzüglichen Fisch aßen, den Frau Senftleben an diesem Abend zubereitet hatte, fragte sie ihn wie erwartet, ob er etwas über den Überfall wisse. Er nickte und erzählte ihr, was er guten Gewissens weitergeben durfte, ohne das Arztgeheimnis zu verletzen.

»Unglaublich ist das!« sagte seine Nachbarin kopfschüttelnd. »Wie soll sich eine Frau denn da noch sicher fühlen, wenn selbst in einem so teuren und gut geführten Haus solche Leute ein- und ausgehen?!«

»Ja, das ist die Frage, Frau Senftleben. Das Schlimme in diesem Fall war ja noch, daß die Stadt große Geschäfte mit den beiden machen wollte – offenbar wußte niemand, auf welche Weise sie ihr riesiges Vermögen gescheffelt hatten.«

»Aber jetzt hat man sie erwischt«, sagte Frau Senftleben zufrieden. »Hoffentlich verschwinden sie für die nächsten zwanzig Jahre hinter Gittern. Ich kann die beiden Frauen nur bewundern – das heißt, vor allem die eine, die so geistesgegenwärtig gewesen ist, einen von den Männern so zu verletzen, daß sie Zeit genug hatte, um Hilfe zu rufen.«

»Ja, das war wirklich großartig«, stimmte er ihr zu, aber an Stefanie Wagner wollte er jetzt nicht denken, sonst würde er nur wieder trübsinnig werden. »Aber die andere hat leider einen schweren Schock und ist noch immer ziemlich durcheinander.«

»Verständlich«, meinte Frau Senftleben. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich in einer solchen Situation reagieren würde, Adrian. Vielleicht fiele ich vor Schrecken ganz einfach in Ohnmacht.«

Über diese Vorstellung mußte er lächeln. »Ich glaube nicht, Frau Senftleben. Statt dessen vermute ich, daß jeder Mann, der versuchen würde, Sie zu überfallen, es hinterher heftig zu bereuen hätte.«

Sie wirkte aufrichtig überrascht. »So schätzen Sie mich ein?« fragte sie neugierig.

Er schob sich den letzten Bissen Fisch in den Mund und nickte.

»Darauf trinken wir«, sagte sie und hob ihr Glas. »Ich bin zwar nicht sicher, daß das ein Kompliment ist, aber…«

»Natürlich ist das ein Kompliment!« unterbrach er sie. »Ein großes sogar.«

»Na dann: Zum Wohl, Adrian!«

Als er eine Stunde später in seinem Bett lag, schlief er wider Erwarten sofort ein. Immerhin hatte Stefanie Wagner überhaupt nicht erfreut ausgesehen, als dieser Mann ins Zimmer gestürmt war und »Schatz« zu ihr gesagt hatte. Vielleicht hätte er einfach noch bleiben und das Zusammensein der beiden beobachten sollen, statt sofort aufzustehen und die Flucht zu ergreifen.

Das nächste Mal, nahm er sich vor, würde er bleiben und aufmerksam darauf achten, wie Stefanie Wagner sich diesem Mann gegenüber verhielt.

Denn das war es schließlich, was zählte – und nicht, wie er sie anredete!

*

Als das mehrseitige Fax aus Gran Canaria kam, rieb sich Kriminalkommissar Hummel erfreut die Hände.

Er ließ es in aller Eile übersetzen und gab dann einige Anweisungen an seine Mitarbeiter.

Als er schließlich alle Informationen hatte, die er brauchte, rief er seinen ganzen Stab zusammen und hielt eine kleine Ansprache. »Sie alle haben gute Arbeit geleistet – sehr gute sogar, das muß an dieser Stelle einmal gesagt werden. Leider ist es nicht selbstverständlich, daß gute Arbeit immer von Erfolg gekrönt ist, aber in diesem Fall trifft es zu. Mit Jones und Popov sind uns zwei Kriminelle ins Netz gegangen, die international zu den Großverdienern gehören. Sie ziehen überall Fäden – im Drogenhandel genauso wie im Waffengeschäft. Wir haben diesmal nicht nur gut gearbeitet, sondern auch großes Glück gehabt.«

Er schwenkte das Fax aus Gran Canaria und fuhr triumphierend fort: »Wir haben die beiden nicht nur geschnappt, sondern wir können, dank der Hilfe unserer spanischen Kollegen, auch beweisen, daß sie die ihnen zur Last gelegten Verbrechen wirklich begangen haben.«

Er las einige Passagen aus dem Fax vor. Je mehr sie hörten, desto fassungsloser wurden die Frauen und Männer, die in dem Raum versammelt waren: Sie hatten zwei wirklich große Verbrecher gefangen, wenn auch eher zufällig. Wie es der Kommissar ausgedrückt hatte: Sie hatten Glück gehabt, aber dieses Glück hatten sie auch verdient.

»Ich danke Ihnen allen nochmals herzlich für Ihren Einsatz«, schloß Kommissar Hummel. »Heute nachmittag ist eine Pressekonferenz anberaumt worden, auf der wir unsere Erkenntnisse mitteilen werden. Eines steht jetzt schon fest: Vor Jones und Popov sind wir in der nächsten Zeit sicher – und vor einigen ihrer Komplicen auch.«

*

»Adrian? Hier ist Julia.«

»Wo steckst du?« fragte er sofort. »Ich warte schon ungeduldig auf dich, weil ich mit dir über Frau Hanson reden möchte. Ich habe etwas erfahren, das sehr wichtig ist.«

»Tut mir leid«, sagte sie, und jetzt bemerkte er erst, daß ihre Stimme ziemlich gepreßt klang.

»Was ist passiert?« rief er besorgt. »Bist du krank?«

»Ich lasse mir jetzt gleich einen Weisheitszahn ziehen«, antwortete sie noch immer mit dieser gepreßten Stimme, als bereite ihr jedes Wort Schwierigkeiten. »Heute nacht dachte ich, ich würde verrückt vor Schmerzen. Er muß raus, dringend. Heute wirst du leider auf mich verzichten müssen, Adrian.«

»Und morgen vermutlich auch«, meinte er sorgenvoll.

»Ja, das hat mein Zahnarzt auch gesagt«, erwiderte sie kleinlaut.

Adrian riß sich zusammen und sagte gewollt munter: »Mach dir keine Sorgen, Julia, wir kommen schon klar hier – irgendwie. Laß dir den Zahn ziehen und kurier dich danach aus. Mit Zahnschmerzen kann man nicht arbeiten. Ich wünsche dir gute Besserung.«

»Danke«, sagte sie kläglich und legte auf.

Es mußte ihr wirklich schlechtgehen, denn sie hatte ihn nicht einmal gefragt, was er über Frau Hanson erfahren hatte, fiel ihm jetzt auf. Das war ein deutliches Alarmsignal, denn Julia Martensen gehörte zu den Menschen, die auch dann noch arbeiteten, wenn sie bereits kurz vor dem Umfallen waren.

Aber was sollte er nun tun mit den Informationen, die er von Peter Simonis erhalten hatte? Warten, bis Julia wiederkam? Er dachte darüber nach und beschloß, den Versuch zu wagen, selbst mit Linda Hanson zu sprechen.

Vielleicht gelang es ihm, ihr Vertrauen zu gewinnen.

*

Linda Hanson wartete den ganzen Vormittag auf Frau Dr. Martensen – doch die Ärztin ließ sich nicht blicken. Das war ungewöhnlich, und Linda begann schließlich, sich Gedanken zu machen, ob ihr etwas passiert war. Als es endlich klopfte, atmete sie erleichtert auf und rief lebhaft: »Herein!«

Doch statt der erwarteten Frau Dr. Martensen trat ihr Kollege aus der Notaufnahme, Dr. Winter, ein. Er sah das Erstaunen der Patientin und auch ihre Verunsicherung und sagte schnell: »Tut mir leid, daß Sie mit mir vorlieb nehmen müssen, Frau Hanson, aber Frau Dr. Martensen hat mich gerade angerufen. Sie muß sich einen Weisheitszahn ziehen lassen, der sie die ganze Nacht geplagt hat. Sie wird heute überhaupt nicht kommen können.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Morgen vielleicht auch nicht.«

»Ach so«, sagte Linda leise. »Ist es sehr schlimm?«

»Im Augenblick bestimmt – Sie wissen ja, wie einen Zahnschmerzen quälen können. Aber wenn der Zahn gezogen ist, erholt sie sich gewiß schnell.«

»Ich habe schon auf sie gewartet und mich gewundert, warum sie bis jetzt noch nicht hier war.«

»Ich will Sie nicht bedrängen, Frau Hanson«, sagte Adrian ruhig, »und wenn es Ihnen lieber ist, daß ich wieder gehe, dann tue ich das selbstverständlich. Aber wenn Sie gestatten, würde ich mich gern einmal mit Ihnen unterhalten.«

»Mit mir?« fragte sie unsicher. »Worüber denn?«

Er zögerte. »Ich hatte den Eindruck – oder genauer: Wir hatten den Eindruck, daß Sie Angst vor Männern haben, wahrscheinlich nicht erst seit diesem Vorfall im King’s Palace.«

Er machte eine Pause, aber sie sagte nichts, und so fuhr er fort: »Über diese Angst würde ich gern mit Ihnen sprechen, weil ich glaube, daß Sie darüber reden müssen, wenn Sie ein normales Leben führen wollen. Aber ich bin nun einmal ein Mann – wenn Sie lieber auf Frau Dr. Martensen warten möchten, dann verstehe ich das natürlich.«

Er stand noch immer in der Nähe der Tür, stellte sie jetzt fest, und diese besondere Zurückhaltung rechnete sie ihm hoch an. »Ich glaube, ich kann auch mit Ihnen darüber sprechen, Herr Dr. Winter«, sagte sie leise. »Ich habe seit dem Überfall viel Zeit gehabt nachzudenken.« Sie versuchte zu lächeln. »Und ich bin dabei zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen wie Sie.«

»Das freut mich«, sagte er.

»Wollen Sie nicht näherkommen und sich setzen?«

»Wenn Sie gestatten, tue ich das gern.« Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und fragte: »Wo sind Sie aufgewachsen, Frau Hanson?«

»Wie kommen Sie auf diese Frage?«

»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es interessiert mich nur.«

Sie wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. »Ich werde Ihnen meine Geschichte erzählen«, sagte sie langsam, »auch wenn ich nicht glaube, daß Sie mir helfen können. Mir kann wahrscheinlich niemand helfen.«

Er widersprach ihr nicht, sondern wartete geduldig, bis sie anfing zu sprechen. »Ich bin in Indonesien aufgewachsen«, berichtete sie endlich. Ihre Stimme klang brüchig. »Meine Mutter war Indonesierin, mein Vater Amerikaner. Ich war ein sehr hübsches und glückliches kleines Mädchen, das können Sie mir glauben. Mein Vater verdiente gut, und wir bewohnten ein schönes Haus. Wenn ich mich an diese ersten Jahre meines Lebens erinnere, fällt mir das Lachen meiner Mutter ein, ich denke an die Spiele, die mein Vater mit mir gespielt hat, und an den Duft von wunderbarem Essen.«

Sie hielt inne, und Adrian wagte kaum zu atmen. Fast hatte er Angst vor dem, was nun folgen würde. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Erzählung wieder aufnahm. Ihre Stimme klang nun völlig verändert – fast teilnahmslos. »Meine Eltern kamen bei einem Unfall ums Leben, als ich zehn Jahre alt war. Ich kam zu Verwandten, die zunächst sehr nett zu mir waren. Schon bald stellte sich heraus, warum: Ich war sehr hübsch, und sie waren sicher, mich für einen guten Preis an einen Ring von Mädchenhändlern verkaufen zu können. Für hübsche zehnjährige Jungfrauen wurde besonders viel bezahlt. Ich habe nie erfahren, wieviel sie für mich bekommen haben. An dem Morgen, als ich abgeholt wurde, hat sich keiner aus der Familie blicken lassen. Ich habe keinen von ihnen jemals wiedergesehen.«

Erneut hielt sie inne. Es war sehr still im Zimmer, und es kam Adrian so vor, als sei die Zeit stehengeblieben.

»Ich war drei schreckliche Jahre lang Kinderprostituierte, bis mich endlich der Bruder meines Vaters ausfindig gemacht hatte. Meine Verwandten haben ihm alle möglichen Lügen über mich erzählt, damit er mich nicht so schnell finden konnte. Sie hatten Angst, daß man ihnen das Geld wieder abnehmen würde, das sie für mich bekommen hatten.«

Ihre Stimme wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch teilnahmsloser als zuvor, und Adrian verstand, daß sie nur so bewältigen konnte, was ihr in jenen Jahren angetan worden war. »Die Männer, die mich damals… benutzt haben, haben keine Rücksicht auf mich genommen, das können Sie sich vermutlich vorstellen. Was soll man auch von einem Mann erwarten, der viel Geld bezahlt, damit er mit einer Zehnjährigen schlafen kann? Die Schmerzen, die sie mir zugefügt haben, lassen sich nicht beschreiben – weder die körperlichen noch die seelischen. Und wenn Sie mich fragen, welches die schlimmeren Verletzungen sind, die an meinem Körper oder die an meiner Seele, dann muß ich Ihnen antworten: Ich weiß es nicht.«

Jetzt endlich wandte sie sich vom Fenster ab und sah Adrian direkt in die Augen. »Als mein Onkel aus Amerika mich fand, war ich ein zerstörter Mensch von dreizehn Jahren. Nur der Liebe und Zuwendung meiner Tante und meines Onkels ist es zu verdanken, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Ich habe damals eine Therapie gemacht, und ich habe gelernt, mein Leben zu führen. Nach der Therapie habe ich über diese Geschichte nie wieder gesprochen, ich habe sie in mir verschlossen, weil das die einzige Möglichkeit zu sein schien, damit fertig zu werden. Aber auch wenn ich nach außen hin ein normales Leben führe, so weiß ich doch genau, daß das eine Täuschung ist, denn ich werde nie wieder mit einem Mann schlafen können, ohne dabei grauenhafte Schmerzen zu empfinden. Und das bedeutet, daß sich einer meiner sehnlichsten Wünsche nicht erfüllen wird, Herr Dr. Winter: Ich hätte sehr gern eine Familie. Eine ganz normale Familie mit einem Mann und ein paar Kindern.«

Jetzt fing sie an zu weinen, aber Andreas traute sich nicht, sie in den Arm zu nehmen. Statt dessen griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Er war froh, als sie seinen Händedruck erwiderte. Niemals zuvor hatte er sich so hilflos und ohnmächtig gefühlt, wie in diesem Moment.

Als sie sich etwas beruhigt hatte, fragte er: »Gibt es denn einen Mann, mit dem sie gern eine Familie gründen würden, Frau Hanson?«

»Ja«, antwortete sie unter Tränen, »diesen Mann gibt es. Das ist ja das Schlimme, Herr Dr. Winter!«

*

»Herr Simonis«, sagte Stefanie Wagner überrascht, »das ist aber nett, daß Sie mich besuchen.«

»Wenn ich das richtig sehe, haben Sie durch Ihr mutiges Eingreifen Schlimmeres verhindert«, meinte er, als er ihr die Hand gab. Dann zog er hinter seinem Rücken einen Blumenstrauß hervor und reichte ihn ihr. »Die sind für Sie – als Dankeschön von Linda und von mir.« Er hatte zwar nicht mit Linda darüber gesprochen, war aber sicher, daß sie mit seiner Geste einverstanden war.

»Ich freue mich sehr darüber, vielen Dank. Eine Vase finden Sie dort drüben.«

Er suchte eine passende aus, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen dann vors Fenster.

»Wunderschön!« sagte Stefanie. »Und nun setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir, wie es Linda geht.«

»Nicht besonders gut«, berichtete er. »Sie ist noch immer völlig durcheinander, und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll.«

Stefanie überlegte, wie sie das, was ihr seit dem Überfall im Kopf herumspukte, am besten in Worte fassen sollte. Schließlich sagte sie vorsichtig: »Als wir in die Suite gegangen sind, gab es diesen einen Moment, in dem wir beide begriffen haben, was die Männer vorhatten.«

»Ja?« fragte er aufmerksam, denn instinktiv wußte er, daß sie im Begriff war, ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.

»Ich glaube, es war so, daß wir es in derselben Sekunde begriffen haben. Aber wir haben ganz unterschiedlich darauf reagiert. Ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücken soll, aber ich hatte das Gefühl, daß es nicht das erste Mal sei, daß sie sich in einer solchen Situation befand. Sie war so starr vor Entsetzen, Herr Simonis, daß ich unwillkürlich dachte: Sie weiß genau, was jetzt kommt. Verstehen Sie, was ich meine? Ich hatte nur einen Gedanken: Wie kommen wir hier wieder heraus? Was machen wir jetzt? Aber bei ihr war das anders. Sie schien sich vor Entsetzen nicht mehr rühren zu können.«

Er war blaß geworden bei ihren Worten, denn ihm war klar, was das soeben Gehörte bedeutete: Es bestätigte seine eigenen schlimmsten Befürchtungen.

»Wenn Sie recht haben«, sagte er leise, »dann kann ich nur sagen: Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen. Ich weiß nichts davon.«

»Vielleicht wäre es gut, wenn sie darüber sprechen könnte«, meinte Stefanie. »Ich kann mich natürlich auch irren, Herr Simonis – es ist ja nichts weiter als ein Gefühl, das ich in dieser Sekunde hatte, als uns beiden klar wurde, daß wir in der Falle saßen. Ich kann mich irren. Wenn ich aber recht habe, dann braucht sie Hilfe. Ihre Hilfe. Denn es ist doch etwas Ernstes zwischen Ihnen beiden – nicht wahr?«

»Ja«, sagte er und lächelte auf einmal. »Es ist etwas für immer, glaube ich. Aber das habe ich bisher noch nicht so sicher gewußt.«

»Dann sagen Sie es ihr. Und helfen Sie ihr, wenn sie Hilfe braucht.«

Er nickte, und dann fragte Stefanie danach, wie es im Hotel lief. Er war ihr dankbar für den Themenwechsel und erzählte ihr ein paar Geschichten, über die sie sich amüsierte. Nach einer halben Stunde verabschiedete er sich von ihr mit den Worten: »Ich werde Ihnen ewig dankbar sein für dieses Gespräch, Frau Wagner.«

*

Der Gynäkologe Dr. Christian Halberstett, einer von Adrian Winters Kollegen an der Kurfürsten-Klinik, hörte dessen Bericht über Linda Hanson aufmerksam an. Am Ende seiner Ausführungen fragte Adrian: »Was ich wissen will, Christian, ist: Könnte man dieser Patientin eine Operation vorschlagen, die sie von ihren Schmerzen befreit und ihr ein normales Leben – also auch ein normales Geschlechtsleben – ermöglicht?«

»Ich müßte sie natürlich untersuchen«, meinte Christian nachdenklich, »aber ich denke schon, daß das möglich wäre. Das Gewebe wird vernarbt sein, deshalb hat sie Schmerzen beim Verkehr, aber heutzutage ist das eigentlich kein Problem mehr.«

»Sie hat sich bisher geweigert, sich untersuchen zu lassen, und wir haben uns gefragt, warum«, berichtete Adrian. »Mittlerweile verstehe ich das allerdings.«

»Ohne Untersuchung und anschließende Operation ist ihr nicht zu helfen, denn von allein wird sich an ihrem Zustand nichts ändern«, stellte Christian Halberstett fest. Er war über zwanzig Jahre älter als Adrian, aber sein Gesicht wies noch kaum eine Falte auf. Er lachte gern und war überhaupt ein bemerkenswert ausgeglichener Mensch. »Ich denke, da sie nun schon einmal angefangen hat, über ihr Schicksal zu sprechen, wird es auch möglich sein, sie von der Notwendigkeit einer Untersuchung zu überzeugen. Immerhin können wir ihr in Aussicht stellen, daß sie nach einer Operation ein normales Leben führen kann.«

»Ich würde es ihr wünschen«, sagte Adrian. »Wer könnte eine solche Operation durchführen?«

»Du«, antwortete Christian Halberstett ruhig. »Du bist Chirurg, die Patientin hat Vertrauen zu dir – und deine winzigen Operationsnarben sind doch geradezu berühmt, wenn ich mich nicht irre.« Er machte eine kleine Kunstpause und fügte dann noch hinzu: »Ich könnte dir assistieren. Zwar bin ich kein Chirurg, aber ich könnte dir genau sagen, wie du es machen mußt, damit die Patientin wirklich keine Beschwerden mehr hat.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Adrian. »Das ist eine heikle Sache, so etwas müssen doch Spezialisten machen.«

»Du wärst der richtige Mann!« entgegnete sein Kollege mit soviel Überzeugung in der Stimme, daß Adrian ihm nicht mehr widersprach.

*

Andreas Wingensiefen, der Direktor vom King’s Palace, war extrem schlecht gelaunt, und er ließ es alle in seiner Umgebung merken. Das Hotel war voll ausgebucht – und ausgerechnet jetzt befand sich die heimliche Chefin Stefanie Wagner im Krankenhaus. Der Überfall lag gerade vier Tage zurück, aber es war bereits deutlich geworden, daß ohne Stefanies unermüdlichen Einsatz vieles nicht so reibungslos lief wie sonst.

Der Hoteldirektor, der sich in letzter Zeit immer mehr auf seine Assistentin verlassen hatte, mußte feststellen, daß der Alltag eines Hotelbetriebes daraus bestand, eine Unzahl kleiner Probleme zu lösen, ständig schnelle und möglichst richtige Entscheidungen zu fällen und vor allem rund um die Uhr präsent zu sein. Da die Angestellten ihre normale Anlaufstelle verloren hatten, gingen sie mit ihren Problemen nun alle zum Direktor, und diesem wuchs die Sache sehr bald über den Kopf.

Er beschloß, Stefanie einen erneuten Besuch abzustatten, um festzustellen, wie lange das Hotel noch auf sie verzichten müßte. So jedenfalls ging es nicht weiter. Aber er fand nicht einmal die Zeit für einen kurzen Krankenbesuch, denn wann immer er beschloß, sein Büro zu verlassen, stand bereits wieder jemand vor der Tür und brauchte seine Hilfe in einer wirklich ganz dringenden Angelegenheit.

Andreas Wingensiefen verließ das Hotel in dieser Zeit zum ersten Mal seit langem erst am späteren Abend und kam morgens als einer der ersten. Er war todmüde, weil er soviel arbeiten mußte, und fand das Leben überhaupt nicht mehr amüsant. Seine augenblickliche Freundin beklagte sich bereits bitter, daß er sie vernachlässigte, und er fühlte sich von dem ungewohnten Einsatz völlig ausgelaugt.

Als ihn aus dem Krankenhaus die Nachricht erreichte, daß mit Stefanie Wagners Rückkehr an ihren Arbeitsplatz nicht vor Ablauf einer weiteren Woche zu rechnen sei, bekam er einen Wutanfall. Schließlich aber beruhigte er sich, denn immerhin war der Alptraum jetzt zeitlich begrenzt. Er schickte Stefanie einen riesigen Blumenstrauß und schrieb auf die beiliegende Karte: Wir erwarten alle sehnsüchtig Ihre Rückkehr ins Hotel! Selten hatte er etwas so ehrlich gemeint wie diesen Satz.

*

Adrian Winter war auf dem Weg zu Linda Hanson, um ihr über sein Gespräch mit Christian Halberstett zu berichten. Außerdem hätte er gern gewußt, ob sie das, was sie ihm erzählt hatte, wohl auch ihrem Freund Peter Simonis in der Zwischenzeit anvertraut hatte, doch danach konnte und wollte er sie nicht fragen.

Als er die Innere Station erreicht hatte, beantwortete sich seine Frage von selbst, denn Linda Hanson und Peter Simonis kamen ihm auf dem Gang engumschlungen entgegen. Sie waren beide sehr ernst, und instinktiv wußte er, daß sie miteinander über das gesprochen hatten, was Linda in ihrer Kindheit widerfahren war. Als sie den Arzt auf sich zukommen sahen, lächelten beide.

»Wollen Sie zu mir, Herr Dr. Winter?«

»Ja. Guten Tag, Frau Hanson, guten Tag, Herr Simonis.«

Sie gingen gemeinsam zurück in Lindas Zimmer, und die junge Frau erklärte, bevor Adrian das Wort ergreifen konnte: »Peter hat mir gesagt, daß er mit Ihnen gesprochen hat, Herr Dr. Winter. Ich habe ihm daraufhin alles erzählt, was Sie bereits wissen.«

»Das ist gut«, erwiderte Adrian. »Deshalb bin ich nämlich hier. Und es ist gut, daß Sie auch da sind, Herr Simonis. Ich habe mit meinem Kollegen Dr. Halberstett über Ihren Fall gesprochen, Frau Hanson. Dr. Halberstett ist Gynäkologe – einer der besten, die wir haben.«

Er berichtete beiden vom Inhalt seines Gespräches – erwähnte aber nicht, daß Christian Halberstett der Ansicht gewesen war, er selbst solle die Operation vornehmen.

»Und Sie glauben auch, eine solche Operation könnte Linda wirklich helfen?« fragte Peter Simonis, der die Hand der jungen Frau nicht losließ.

»Ja, das glaube ich. Ich habe in der Zwischenzeit noch Fachliteratur zum Thema gelesen – solche Operationen sind schon relativ oft gemacht worden. Wenn es gelingt, die häufig wulstigen Vernarbungen zu entfernen, dann bedeutet das für die Patientinnen in vielen Fällen den Beginn eines neuen Lebens. Mein Kollege Halberstett müßte Sie natürlich zuerst genau untersuchen, Frau Hanson. Auch der Operateur müßte sich Ihre Verletzungen noch ansehen können.«

»Ich weiß es ja«, sagte sie. Sie war wirklich sehr blaß und lehnte sich an den blonden jungen Mann neben ihr. »Ich stehe das nicht durch«, flüsterte sie. »Wirklich, ich möchte ja gern, daß mir jemand hilft, aber allein die Vorstellung…«

»Eine gynäkologische Untersuchung ist nur dann unangenehm, wenn man sich verkrampft«, sagte Adrian mit ruhiger Stimme. »Und sie hat nichts mit dem zu tun, was Sie haben durchmachen müssen, Frau Hanson. Diese Untersuchung dient Ihrer Zukunft. Wir können Sie nicht operieren, wenn wir nicht wissen, was gemacht werden muß.«

»Ich werde es versuchen«, sagte sie leise. »Herr Dr. Winter, Sie sind doch Chirurg?«

»Ja, ich bin Unfallchirurg. Sie wissen ja, daß ich die Notaufnahme leite.«

»Ich möchte, daß Sie mich operieren«, sagte sie überraschend.

»Aber…«, wollte er einwenden, doch sie ließ ihn gar nicht ausreden.

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, und das ist für mich das Wichtigste. Wenn Sie und Ihr Kollege mich gemeinsam untersuchen, bin ich einverstanden. Und wenn es möglich ist, mich zu operieren, dann möchte ich, daß Sie das machen.«

»Ich schließe mich dem an«, sagte Peter Simonis. »Sie können das ganz bestimmt, Herr Dr. Winter. Unfallchirurgen müssen doch sehr vielseitig sein.«

»Das stimmt«, gab Adrian, noch immer zögernd, zu. Dann stand er auf. »Ich werde sehen, ob ich gleich mit Dr. Halberstett sprechen kann. Wir sollten die Untersuchung und die anschließende Operation nicht lange aufschieben.«

»Werden Sie es machen, Herr Dr. Winter?«

Er lächelte. »Was bleibt mir anderes übrig, Frau Hanson, wenn Sie darauf bestehen?«

*

Die Untersuchung von Linda Hanson fand am nächsten Tag statt.

Noch nie hatte Adrian seinen Kollegen Christian Halberstett so bewundert wie in dieser außerordentlich schwierigen Situation. Er ging mit einer solchen Feinfühligkeit auf die Patientin ein, daß sie ihre Angst tatsächlich vergaß und schließlich entspannt auf dem Untersuchungsstuhl lag. Er erklärte ihr alles, was er tat, und informierte sie zugleich darüber, was Adrian und er bei dieser Untersuchung herausfanden.

»Es ist kein Wunder, Frau Hanson, daß Sie allein bei dem Gedanken an Geschlechtsverkehr Angst haben und sich verkrampfen. Fühlen Sie das? Tut das weh?«

»Ja, ein bißchen«, antwortete die junge Frau mit gepreßter Stimme.

»Ich habe nur ganz zart über diesen Narbenwulst gestrichen, und es tut Ihnen bereits weh. Bei etwas stärkerer Berührung hätten Sie heftige Schmerzen verspürt. Wie ist es hier?«

»Das schmerzt auch.«

»Es wundert mich nicht. Jede Berührung wird Sie schmerzen. Die Narben sind außerordentlich dick und wulstig – das kommt daher, daß die Verletzungen sicher immer wieder aufgerissen wurden.«

»Ja«, sagte sie leise. Ihre Stimme war jetzt wie ein Hauch.

Adrian hatte Mühe, seine Erschütterung über die Spuren zu verbergen, die rohe männliche Gewalt am Körper dieser Frau hinterlassen hatte. Was mußte Linda Hanson als Kind nur erduldet haben!

»Ich werde jetzt ein paar Besonderheiten mit meinem Kollegen Dr. Winter besprechen, Frau Hanson – bitte fühlen Sie sich nicht ausgeschlossen, aber ich muß ihn auf einiges hinweisen, was bei einer Operation zu beachten ist. Haben Sie keine Angst, die Schmerzen werden nicht schlimmer als bisher sein. Ist das in Ordnung?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete sie.

Christian Halberstett begann mit seinen Erklärungen, und Adrian hörte ihm aufmerksam zu. Er wußte, daß sein älterer Kollege sich beeilte, um die Patientin nicht unnötig lange auf dem Untersuchungsstuhl festzuhalten.

Schließlich sagte der Gynäkologe freundlich: »So, Frau Hanson, Sie haben es überstanden.« Er half ihr, sich aufzurichten, und reichte ihr ihre Kleidungsstücke.

»Lohnt es sich denn wirklich, mich zu operieren?« fragte Linda Hanson, die zwar sehr blaß war, aber gefaßt wirkte. Die Untersuchung hatte sie zwar angestrengt, aber sie hatte sie recht gut überstanden.

»O ja!« antwortete Adrians Kollege voller Überzeugung.

Adrian schloß sich ihm an. »Mit Sicherheit, Frau Hanson«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es gelingen wird, Sie von jeglichen Beschwerden zu befreien, aber ich bin sicher, Ihr Traum von einem normalen Familienleben wird sich erfüllen lassen.«

»Das wäre einfach zu schön«, erwiderte sie. »Ich danke Ihnen beiden. Sie haben heute sehr viel für mich getan.«

Sie brachten sie auf ihr Zimmer zurück, wo Peter Simonis bereits auf sie wartete. Ängstlich sah er ihnen entgegen, aber als er das Lächeln auf Lindas Gesicht bemerkte, entspannte er sich sofort.

Die Ärzte ließen das junge Paar allein, denn die beiden hatten bestimmt viel miteinander zu besprechen.

*

Adrian hatte darauf bestanden, daß der Anästhesist Dr. Werner Roloff zur Operation an Linda Hanson eingeteilt wurde, auf dessen Ruhe und Erfahrung er schon in zahlreichen kritischen Situationen hatte bauen können.

»Wünscht mir Glück«, sagte er zu Beginn der Operation zu seinen Kollegen. »Oder vielmehr: Wünscht es ihr. Ich hoffe, wir können ihr helfen.«

»Natürlich können wir das!« meinte der grauhaarige Werner Roloff voller Überzeugung.

Adrian begann mit dem Eingriff, und er war froh, daß Christian Halberstett neben ihm stand und ihm immer wieder wichtige Hinweise gab.

Er war jetzt ganz ruhig, denn mit einem Mal wußte er ganz sicher, daß er der jungen Frau wirklich würde helfen können. Sorgfältig entfernte er das wulstige Narbengewebe, das Linda Hanson so gequält hatte. Nie zuvor hatte er die Schnitte mit winzigeren Stichen vernäht als diesmal. Wenn alles gut verheilte, würden die Narben später kaum noch sichtbar und spürbar sein.

»Großartig«, sagte Christian Halberstett in diesem Augenblick bewundernd. »Ich wußte gar nicht, daß man als Chirurg zu solcher Feinarbeit fähig ist.«

»Nicht jeder«, ließ sich Werner Roloff vernehmen. »Aber Adrian ist ein Künstler auf diesem Gebiet, auch wenn es ihm immer peinlich ist, wenn man das erwähnt.«

Adrian hörte sie reden, und seltsamerweise entspannte er sich dabei. Sonst hatte er es nicht gern, wenn im OP gesprochen wurde, aber jetzt hatte er nichts dagegen. Er hörte nicht richtig zu, aber er wußte, daß zwei Männer an seiner Seite waren, die alles tun würden, um ihm zu helfen, falls es nötig sein würde.

Nach einer Weile, die ihm ziemlich lang vorkam, schloß er sorgfältig die letzte Wunde. »So«, sagte er aufatmend. »Das wär ’s. Ich danke euch für eure Unterstützung.«

Werner Roloff legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schultern, als sie den Operationssaal verließen.

»Gute Arbeit, Adrian. Hoffentlich konntest du der jungen Frau helfen.«

»Ganz sicher!« ließ sich Christian Halberstett vernehmen, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen über Adrians Kunst erholt hatte. »Also wirklich, daß es solche winzigen Stiche überhaupt gibt!«

Adrian lächelte. Die Patientin wurde aus dem OP gerollt, und die Ärzte schälten sich aus ihren grünen Kitteln.

Es würde eine Zeitlang dauern, bis man wußte, ob die Operation erfolgreich gewesen war. Jetzt hieß es Geduld üben.

*

»Willkommen im Hotel«, sagte Stefanie Wagner einige Wochen später freundlich, als Linda Hanson nach kurzem Klopfen ihr Büro betrat. »Ich bin froh, daß Sie wieder hier sind. Ich konnte Sie leider nicht besuchen, weil ich selbst erst seit gestern wieder arbeite. Die Sache hat sich doch länger hingezogen, als die Ärzte zunächst dachten.«

»Ich bin auch froh, wieder hier zu sein«, antwortete Linda leise. Sie errötete ein wenig, als sie hinzufügte: »Und ich bin froh, Sie wiederzusehen. Sie haben sich ganz großartig verhalten, als… als es passierte. Ich habe Sie sehr bewundert. Ist Ihr Kopf gut verheilt?«

Stefanie nickte und lachte verhalten. »Meinem Kopf geht es besser als diesem Hotel. Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los war, als ich gestern meinen ersten Arbeitstag hatte. Es war, als arbeiteten hier lauter Ertrinkende, die das Bedürfnis hatten, sich an mich zu klammern, damit ich sie aus dem Wasser ziehe.« Sie schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. »Aber allmählich spielt sich alles wieder ein, zum Glück.«

»Ich hab’ schon gehört, was hier los war. Herr Wingensiefen muß ungenießbar gewesen sein während Ihrer Abwesenheit.«

Lächelnd wechselte Stefanie das Thema. »Geht es Ihnen wieder richtig gut?«

Wieder errötete Linda. »Sehr gut sogar. Ich wollte Sie fragen, ob ich Sie zu meiner Hochzeit einladen darf, Frau Wagner. Herr Simonis und ich wollen heiraten.«

»Wie schön!« rief Stefanie. »Ach, wie mich das für Sie freut, Frau Hanson. Ich komme sehr gern. Wann ist denn die Hochzeit?«

»Schon bald«, sagte Linda lächelnd und schob ihr eine Einladung über den Tisch. »Wir wären sehr glücklich, wenn Sie kommen könnten. Und nicht nur wir – aber mehr verrate ich nicht.«

Mit diesen rätselhaften Worten verließ sie das Büro. Aber sie kehrte nicht direkt an die Rezeption zurück, sondern machte einen kleinen Umweg zum Arbeitsplatz von Peter Simonis.

Er hob erstaunt den Kopf, als sie eintrat, dann stand er schnell auf, kam auf sie zu und umarmte sie liebevoll.

»Ich hatte solche Sehnsucht nach dir«, flüsterte er. »Es ist schrecklich, wenn ich dich ein paar Stunden nicht sehen kann, Linda.«

»Ich weiß«, sagte sie leise. »Mir geht es ganz genauso.«

Er küßte sie zärtlich, dann wurde er etwas leidenschaftlicher, und glücklich stellte er fest, daß sie nicht wie früher ängstlich vor ihm zurückwich, sondern sich an ihn schmiegte. »Ich bin verrückt nach dir, weißt du das eigentlich?«

»Mhm«, sagte sie. »Frau Wagner hat die Einladung zu unserer Hochzeit angenommen.«

»Da wird sich Herr Dr. Winter ja wohl freuen«, lächelte er. »Und du glaubst auch wirklich, er mag sie?«

»Ich bin ganz sicher«, antwortete sie. »Wir werden sie nebeneinander setzen, du wirst ja sehen, ob sie sich gut verstehen.«

»Nicht so gut wie wir«, meinte er und küßte sie erneut. Es dauerte ziemlich lange, bis sie endlich an die Rezeption zurückkehrte.

*

Die Hochzeit von Linda Hanson und Peter Simonis wurde ein schönes Fest mit zahlreichen Gästen. Adrian Winter konnte sich nicht sattsehen an der glückstrahlenden Braut und dem nicht minder strahlenden Bräutigam.

Die Operation war tatsächlich gut verlaufen, das hatte ihm nicht nur Christian Halberstett bestätigt. Auch Peter Simonis war noch einmal bei ihm gewesen und hatte ihm berichtet, daß Linda seitdem ein völlig neuer Mensch geworden sei.

Er schlenderte langsam zu dem Saal, in dem die Hochzeitstafel aufgebaut war. Hoffentlich hatte er Glück mit seinen Tischnachbarn, so daß er sich ein bißchen unterhalten konnte. Als er näher kam, stellte er fest, daß es Tischkarten gab, und er machte sich auf die Suche nach seinem Namen.

Die Gäste strömten jetzt herein, und alle begannen, genau wie er, zu suchen. Es herrschte ein großes Gedränge und Geschiebe, lautes Gelächter ertönte, und plötzlich stand Adrian am richtigen Platz. Neben ihm saß bereits eine Frau, von der er aber nur die schönen blonden Locken sehen konnte, da sie sich gerade abgewandt hatte.

Als er seinen Stuhl hervorzog, wandte sie den Kopf, und zwei veilchenfarbene Augen lächelten ihn an. »Guten Tag, Herr Dr. Winter«, sagte Stefanie Wagner. »Sie sind also die versprochene Überraschung. Ich freue mich sehr darüber.«

Er wußte, daß er vermutlich ein ziemlich dummes Gesicht machte, weil er sie mit offenem Mund anstarrte, ohne etwas zu sagen – aber es war ihm ganz gleichgültig. Was für ein wunderbarer Tag war dies doch! Er befand sich auf einer Hochzeitsfeier und würde das Essen in der Gesellschaft der schönen Frau Wagner einnehmen.

Endlich hatte er sich so weit gefaßt, daß er sagen konnte: »Ich freue mich auch, Frau Wagner. Ganz außerordentlich sogar.«

Als er neben ihr saß, beugte sie sich ein wenig zu ihm und flüsterte ihm zu: »Versprechen Sie mir, daß Sie später mit mir tanzen!«

»Worauf Sie sich verlassen können!« flüsterte er zurück. »Dieses Vergnügen werde ich mir nicht nehmen lassen.«

Er wußte nicht, daß Linda Hanson in diesem Augenblick zu ihrem Bräutigam sagte: »Schau nur, wie er sie ansieht! Er mag sie – und wie! Oder glaubst du mir immer noch nicht?«

»Ich glaube dir«, antwortete er.

Dann zog er sie an sich und küßte sie.

Notarzt Dr. Winter Box 4 – Arztroman

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