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KAPITEL I

Diese Julinacht war ungewöhnlich klar, mit einem Himmel voller Sterne. Die Stadt war längst im Dunkel versunken und döste derweil in tiefem Schlummer. Stille herrschte, alles schlief, nur der Platz vor dem Bahnhof wachte noch einsam im grellen Schein der Neonlampen, die ihr kaltes Licht in schrägen Balken herabwarfen. Irgendwo fauchte ein stählernes Ungetüm und rollte, von Dutzenden Waggons gefolgt, über die Brücke. Aus seinem Schlot wallten in rhythmischen, immer kürzeren Stößen weiße Wolken, während die Rohre neben dem pleuelgetriebenen Räderwerk heftige Dampfstrahlen ausbliesen.

Für Sekunden blieb alles im Nebel, feiner Dampf wirbelte herab. Doch bald wurde es wieder klar, das Poltern erstarb und Stille kehrte zurück. Die Stadt mit ihren Gebäuden, Türmen und Dächern, deren flimmernde Silhouette für Momente entschwunden war, tauchte wieder auf und schickte mit dem lauen Nachtwind von Ferne ein dumpfes Grollen herauf.

Ilka stand vor dem Bahnhof, hinter sich die pendelnde Schwingtür, welche unentwegt den muffigen Geruch von feuchtem Stein, Dreck und kaltem Rauch in kurzen Schüben herauswehte und starrte hinauf zum Firmament. Ihr war kalt, doch sie mochte nicht fortgehen, denn nur hier draußen, in der friedvollen Stille der Nacht, fand sie die ersehnte Ruhe. Gedankenverloren und noch immer mit tiefem Schmerz im Herzen betrachtete sie den großen Wagen, den Polarstern, die Kassiopeia, und ihr war, als wäre es Augen der Ewigkeit, die auf sie herabschauten.

Schon immer, solange sie denken konnte, umfing sie ein Gefühl der Unvollkommenheit mit dem vagen Verdacht eines vom Pech Verfolgten, dem nichts blieb, als dieses vorbestimmte Los zu akzeptieren, insbesondere wenn Umstände eintraten, die sie erneut zurückwarfen. Dann litt sie ganz besonders, auch wenn nur Bagatellen den Anstoß dazu gaben. Zurück blieb diese Reizbarkeit, die sie drängte, sich vor aller Welt zu verschließen. Doch seltsam - obwohl ihr auch heute wieder weinerlich zumute war, blieb die erwartete Trübsal aus. Im Gegenteil, bald fühlte sie sich leichter. Die Schwere in ihrem Herzen löste sich und linderte ihren Gram.

Da tönte von drinnen blechern der Lautsprecher. Ja doch, gleich! Nur noch dieser Augenblick. Hastig wischte sie die Tränen fort und sah sich ängstlich um. Zum Glück hatte es niemand bemerkt. Es wäre ihr peinlich gewesen, denn immerhin war sie kein Kind mehr und fühlte sich mit ihren 19 Jahren schon sehr erwachsen. Sie hatte dunkelblondes Haar und ein sympathisches Gesicht mit einer nachdenklichen, zuweilen recht ernsten Physiognomie, die der kühlen Gemessenheit ihres Wesens durchaus entsprach. Unter den geschwungenen Brauen blickten zwei sanfte Augen, die oft von einer traurigen Entrücktheit verklärt waren. Mit ihren regelmäßigen Zügen hätte man sie durchaus als hübsch bezeichnen können, wäre nicht die ungewöhnliche Blässe gewesen, die diesen Liebreiz trübten und jenen kränkelnden Eindruck verriet.

Schweren Herzens nahm sie nun ihre Tasche, stieß die Pendeltür auf und schlurfte, durch die Last ihrer Tasche behindert, gemessenen Schrittes, noch immer unter der Befangenheit ihres Schmerzes, der ihre Ermattung noch steigerte, durch die große Halle.

Als sie eintrat, blendete sie der grelle Lichterkranz der Neonlampen, welcher von der riesigen Deckenkuppel den ganzen Saal wie eine Feuersbrust erhellte. Die Wartehalle war etwa zur Hälfte mit Reisenden gefüllt, von denen einige schläfrig auf den harten Holzbänken lungerten, während andere hinter ausgebreiteten Zeitungen die Nase über die vielen angetrunkenen NVA-Angehörigen rümpften, die nach beendetem Urlaub in kleineren Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten, lachten und hin und wieder hustend auf den Boden spuckten. Der kalte Zigarettenrauch machte die ohnehin von Bierdunst reichlich geschwängerte Luft noch muffiger. Vor dem Kartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet, die mittlerweile weit zurückragte. Ein Bahnsteigfeger klapperte mit seinem Besen zwischen Bänken entlang, und die quietschende Mitropa-Tür gegenüber stand niemals still.

Unterdes rollte erneut ein dumpfes Grollen durch die Halle, ließ den Boden zittern und erstarb schließlich im Quietschen stählerner Räder. Kurz darauf quoll eine gewaltige Menschenflut die schmale Treppe herab, welche durch die lange Schalterschlange am Fortkommen jäh behindert, ins Stocken geriet, sich aufspaltete, durcheinander drängte und schließlich nach allen Seiten auseinander strömte.

Überall Lärmen und Tönen, welch fürchterliches Gewühl. Ilka drängte zwischendurch und zwängte sich zur anderen Seite. Widerwillig durchquerte sie die Unterführung mit ihren ewig feuchten Kachelwänden, tappte die Treppe hinauf und erreichte schließlich den Bahnsteig. Aber auch hier wimmelte es von Menschen, unter ihnen ebenfalls reichlich Armisten, die in kleineren Gruppen zusammenstanden, tranken, schwatzten und blitzende Blicke umherwarfen.

Während einige, etwas abseits, mit weinenden Mädchen turtelten, zockten andere mit leeren Streichholzschachteln, nuckelten an halbvollen Schnapsflaschen und stachelten sich gegenseitig zum neuen Einsatz an. Wieder andere saßen auf Bänken oder Taschen und starrten mit trüben Augen vor sich hin, bis ihnen irgendwann der Kopf zur Seite fiel und sie schnarchend eindösten. Genervte Urlauber drängten zwischendurch. Andere harrten stumm aus, die Hände in den Taschen und das Kinn nervös in Richtung Einfahrt gereckt. Ein älterer Herr mit weißer Mütze und dem Gesichts eines Hochschullehrers erklärte seiner Frau wiederholt, dass man schon richtig wäre. Diese zweifelte noch immer, was ihn umso mehr erregte.

Ilka stellte sich zögernd neben die Bank. Mit der zusammengerafften Windjacke unter den verschränkten Armen und dem Gefühl eines faden Unbehagens, eines ‘nicht recht Wollens’ und ‘doch Müssens’, hielt sie nun Ausschau nach dem Zug. Dabei fiel ihr, Gott weiß warum, die gegenüberliegende mausgraue Außenwand des riesigen Hallengebäudes auf, die sich unmittelbar hinter dem Bahnsteig auf langer Front erstreckte.

Mit ihren trüben Glaseinsätzen zwischen den maroden Stahlträgern mündete sie oben unter ein gewölbtes Dach, welches die zu beiden Seiten hin offene Bahnsteighalle über die gesamte Länge mit zum Teil von Witterung zerfressenen Wellblechsegmenten überdeckte. Die Scheiben, von Staub und Ruß schon arg getrübt, ließen dabei die äußeren Gleisanlagen mit ihren Lichtern und Signalen nur noch schemenhaft erkennen. Graue Farbfetzen, vom Alter spröde geworden, blätterten von den Verkleidungsblechen, und die eisengenieteten Querspanten waren vom jahrelang angesammelten Dreck schwarz und rostig geworden, so dass ständig der Geruch alten Metalls in der Luft lag.

Plötzlich, inmitten ihrer Gedankenversunkenheit, bemerkte sie einen schwankenden Mann, der einen Schluck aus einer Flasche nahm. Haltsuchend lehnte er sich gegen einen Laternenmast und sah sich mit pöbelhaft geröteter Miene um. Oh Gott, er sah ja herüber! Hastig drehte sie sich weg und schaute verlegen auf die Uhr. Doch zu spät, schon wankte er heran.

„He, du, haste mal Feuer?“, lallte er und legte frech den Arm um ihre Schulter.

Erschrocken fuhr sie um. Es war ein Bursche von Anfang 20, in schwarzblauen Jeans und einem karierten Hemd, worüber er einen schäbigen beigen Anorak mit roten Ärmelstreifen trug, der nach Rauch und billigem Fusel stank. Sein schütteres Haar war ihm im Suff über die Stirn gefallen und sein Atem roch wie ein Schnapsfass.

„Nein, Nichtraucher“, antwortete sie schroff und entwandt sich seinem dreisten Zudringen. Doch er setzte nach, grabschte nach ihrem Nacken und wühlte in ihrem Haar, wobei er mit seiner hellen Fistelstimme unentwegt auf sie einquatschte, als hätte er wochenlang mit niemandem geredet. Dabei kicherte er immerfort, allein seinen lüsternen Gedanken verhangen, die er mit abschätzig geschürzten Lippen ganz unverhohlen zeigte. Und hatte ihn ihre Abwehr anfangs noch belustigt, wurde er schließlich doch ärgerlich.

„Halt doch endlich still ... Warte, gleich... Na also.“

Nun betrachtete er mit riesigen Augen einen winzigen Fussel, den er wie eine unschätzbare Kostbarkeit zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

„Und wenn ich noch mal... vielleicht...“

„Oh nein, danke, nicht nötig.“ Sie lächelte gequält, nahm ihre Tasche auf und wich weiter zurück.

„Mach ich aber gern.“

„Kann ich mir vorstellen. Aber bemühen Sie sich nicht, ich warte hier auf jemanden. Er muss bestimmt gleich kommen.“

Doch obwohl er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, drängte er erneut an sie heran, legte den Arm um sie, was er wohl witzig fand, denn er zischte, den Finger an die feuchten Lippen gelegt, im sichtlichen Bemühen, seinen Worten eine gewisse wärmende Vertraulichkeit zu geben: „Pssst Lütte, musst keine Angst haben, ... aber du sollst nicht lügen.“

Erneut nahm er einen Schluck, wobei ihm die Hälfte über Kinn sabberte und versicherte, nicht besoffen zu sein.

Aber warum half denn niemand? Ilka versuchte sein lästiges Zudringen abzuwehren, indem sie sich brüsk entwand, doch niemand beachtete sie. Selbst der ältere Herr neben ihr blieb stumm. So ein Feigling! Anstatt ihr zu helfen, wie es sich gehörte, guckte er weg, nur um nicht in Verlegenheit zu kommen.

„Aber Schnucki, ich will doch nur...“

Schon wieder grabschte dieser freche Kerl sie an. Er sollte das lassen, sonst ... Und gerade als sie sich etwas losmachen konnte, um ihm eine zu kleben, wurde er plötzlich zurückgerissen.

„Schon gut, Gukki“, sagte ein Matrose in dunkelblauer Uniform, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte und der ihn nun sanft aber bestimmt zur Seite führte. „Setz dich – hier ... So ist’s besser.“

Daraufhin plumpste der Betrunkene wie ein Sack auf die nebenstehende Bank, wo er mit seinem verschobenen Schafsgesicht entgeistert zu ihm aufschaute, ohne sich im Geringsten zu widersetzen.

Sogleich entschuldigte der sich für das Benehmen seines Kameraden, der wohl zu viel getrunken habe. Nun ja, wenn der Urlaub zu Ende ginge, komme so etwas schon mal vor, aber deswegen wäre er bestimmt kein schlechter Kerl, versicherte er und suchte immer wieder das Ganze zu verharmlosen.

Ilka indes, noch immer vom Schrecken gelähmt, fand diese Ausflucht reichlich deplaziert, zumal ihr jedes Verständnis für solche Taktlosigkeiten fehlte. Und da er es merkte, zurrte er schließlich verlegen, mehr aus Befangenheit denn Notwendigkeit, seinem Kumpel den Reißverschluss zu, nahm ihm die Flasche aus der Hand und stopfte sie kopfüber in die nebenstehende Mülltonne.

Doch seltsam, - obwohl sie noch immer so verbittert und gereizt war und sich in ihrem gekränkten Stolz wie eine Schildkröte in ihren Panzer verkroch, beruhigten sie seine Worte, ja machte ihr der Umstand, dass er sie gleich duzte, gar nichts aus. Im Gegenteil, anstatt beleidigt zu sein, fand sie eine derartige Vertraulichkeit sogar drollig. Was blieb, war eine sonderbare Komik, in der es ihr bestimmt nicht schwergefallen wäre, ihn jetzt lachend einen Dummkopf zu nennen, der wohl noch immer glaubte, sie hätte ihn nicht längst durchschaut.

Einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber dann gab sie ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sie keinen Wert auf irgendwelchen Beistand lege und durchaus alleine klarkäme.

Er sah sie daraufhin verwundert, gleichsam bedauernd an, zuckte die Achseln, was sie wiederum düpierte und meinte trocken: „Dann eben nicht.“

’Blöder Affe!’ dachte sie, den Blick stur an ihm vorbei gerichtet.

Er wollte weggehen, kam jedoch noch mal zurück und sagte dann mit kalter Sachlichkeit: „Dort vorn findest du die Militärstreife. Sie haben immer das erste Abteil. Setz dich in ihre Nähe, und es wir dich niemand mehr belästigen.“

Und dann kehrte er wieder zu seiner Gruppe zurück, während der Betrunkene noch immer auf der Bank saß, die Beine weit fortgereckt, das Kinn auf die Brust gesenkt und zufrieden vor sich hin döste.

Oh, wie graute ihr bei dem Gedanken an die folgende Fahrt, die vollen Abteile, die schlechte Luft und die vielen betrunkenen Kerle. Und wenn sie ihr Freund, dieser verdammte Holm-Hendrik, nicht im Stich gelassen hätte, wäre das auch nicht passiert!

Einen Moment fühlte sie ihre Einsamkeit in ganzer Härte, was ihre Bitterkeit gegen alle Welt nur noch steigerte. Sie war verzweifelt, hätte schreien können, so dass sie nahe dran war, auf der Stelle umzukehren. Und doch war zugleich auch eine merkwürdige Stille in ihrer Herzgrube, durchsetzt von einer zarten Süße, welche den gewohnten Schmerz etwas linderte.

Was geschehen war, wusste sie selber nicht. Während der folgenden Minuten ertappte sie sich, wie ihr Blick zögernd zu ihm zurückkehrte. Er rauchte und nahm hin und wieder einen Schluck aus einer Flasche, die dort die Runde machte. Hendrik würde das niemals tun. Er wusste was sich gehörte, besaß Etikette - vor allem trank er nicht, schon gar nicht aus einer Flasche. Eigentlich stieß sie so etwas ab, und sie hätte sich bestimmt auch abgewandt, hätte nicht gerade diese Geschmacklosigkeit ihre Neugier geweckt.

Ein Mädchen war nicht in seiner Nähe. Aber warum interessierte sie das? Natürlich interessierte sie das nicht, sie stellte nur fest. Er war kaum älter als sie, war nicht sehr groß, eher untersetzt, hatte in der Mitte gescheiteltes dunkelblondes Haar, eine schmale gerade Nase und graue, kalte Augen, wie sie fand. Zudem besaß er herbe, ein wenig kantige Züge, was ihm eine gewisse Strenge verlieh, was jedoch durch ungewöhnlich sanften Augen gemildert wurde. Im Gegensatz zum rauchigen Räuberzivil des anderen trug er eine Marineuniform, bestehendaus einer weiten Klapphose und einer taillierten Bluse, die im Nacken in den typischen tiefblauen Kragen auslief. Zwei Orden und eine blaue Kordel mit silbernem Abzeichen prangten an seiner linken Brust. Und obgleich er im Grunde ziemlich nachlässig, vielleicht sogar etwas verroht wirkte und ganz und gar nicht ihren Vorstellungen von einem Matrosen entsprach, war dennoch etwas an ihm, das nicht recht zu bestimmen war und ihr Interesse weckte.

Allein das Wissen um seine Nähe empfand sie plötzlich als beruhigend. Darüber hinaus gab es ihr das warme Gefühl, interessant, vielleicht sogar attraktiv zu sein. Und gerade das war es, was sie schon seit langem vermisste: Eine Aufwertung ihrer Persönlichkeit, die endlich all die schrecklichen Zweifel dämpfte, welche sie in letzter Zeit in teilweise fürchterliche Komplexe getrieben hatten. Hendrik, dieser Zyniker, hatte diese noch durch seinen Sarkasmus genährt, indem er sie fortwährend foppte, sie hätte zu viele Sommersprossen, ihre Schenkel seien zu stramm und ihr Busen für ihr Alter einfach zu groß. Zudem hatte er sich am Ende immer häufiger wie ein selbstverliebter Snob aufgeführt, dessen arroganter Dünkel kaum noch zu ertragen war. Nein, sie mochte nicht mehr daran denken, nicht jetzt.

Der Lautsprecher tönte erneut und kündigte die Einfahrt des Zuges an. Die Reisenden nahmen ihre Sachen auf und traten von der Bahnsteigkante zurück. Noch einmal schaute sie zu ihm rüber. Er hatte mittlerweile seinen Seesack geschultert, und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Da schoss ihr das Blut in die Wangen und sie senkte verlegen den Kopf. Doch als sie den Blick wieder hob, hatte sich die Menge bereits verschoben, so dass sie ihn nicht mehr sehen konnte.

„Passen Sie doch auf!“, fluchte eine Stimme dicht hinter ihr und riss sie augenblicklich aus ihren Gedanken.

Erschrocken fuhr sie sich um. O weh, sie musste der Dame hinter ihr auf die Füße getreten haben und das auch noch so unglücklich, dass diese nun jammernd beiseite humpelte. Der Mann an ihrer Seite - es war der Hochschullehrer - begann in seiner Hilflosigkeit sogleich lautstark zu lamentieren und beklagte diese Ungeschicktheit, der es wohl zu danken sei, dass sie nun keinen Sitzplatz mehr bekämen. Fortwährend beschimpfte er seine Frau, ohne im Geringsten zu bedenken, dass allein Ilka Schuld an diesem Umstand trug.

„So beruhigen Sie sich doch“, tröstete sie, noch immer völlig konfus und selbst den Tränen nahe. „Ist sicher nur halb so schlimm, bin selbst Krankenschwester - lassen Sie mich mal sehen.“

Und ungeachtet des ganzen Durcheinanders, der allgemeinen Drängelei und dem lautstarken Gezeter des Mannes, kniete sie vor der Jammernden nieder, zog behutsam deren Schuh aus und betastete den geröteten Knöchel, der tatsächlich etwas geschwollen war. Sogleich zog sie ihr gelbes Seidentuch vom Hals und bandagierte ihn so gut es eben ging.

„Jetzt besser? Versuchen Sie den Fuß ruhig zu halten und die Schwellung wird schnell...“

„Sie haben gut reden!“, fiel ihr der Mann ins Wort. „Wie soll sie das denn machen, bei dem Gedränge?“

Und da die Frau tatsächlich nicht zu jammern aufhörte, griff sie ihr kurzentschlossen unter den Arm, schulterte auf der anderen Seite ihre Tasche und führte sie, unter der hilflosen Anteilnahme des völlig überforderten Mannes zur erst besten Tür.

„Entschuldigung“, bat sie die Leute, welche die Aussteigenden dichtgedrängt umlagerten. „Sie werden verzeihen, aber die Dame hier hat sich verletzt.“

Man sah sich um, und widerwillig bildete sich eine kleine Gasse, die ihnen den freien Zutritt ermöglichte. Vorsichtig setzte Ilka den schmerzenden Fuß der Frau auf die Stufe und schob sie schließlich Schritt für Schritt in den Wagen.

Dort drängte sie weiter voran, neben sich die humpelnde Frau, deren Arm über ihrer Schulter immer schwerer wurde und die sich ganz offensichtlich darin gefiel, möglichst leidend zu wirken, gefolgt von ihrem Mann, dessen ungeduldiger Blick auf der steten Suche nach einem möglichst freien Platz bereits weit nach vorne schweifte, ohne darauf zu achten, wie sehr er ihr dabei den schweren Koffer gegen die Beine rammte.

In den Abteilen war es stickig, überall hing bitterer Dunst von Zigaretten und Alkohol in einer verbrauchten miefigen Luft, die sich an den Scheiben in kleinen Tröpfchen niederschlug. Hinzu kam die grelle Deckenbeleuchtung, die alles in ein milchiges Licht tauchte, das nach der vorangegangenen Dämmerung in den Augen brannte. Natürlich war es auch hier brechend voll, und außer übermüdeten, stummen Gesichtern, die bei ihrem Eintreten gereizt und nervös reagierten, war hier ganz offensichtlich nichts zu erwarten. Niemand würde sich erbarmen, schon gar nicht wegen einer älteren Dame, die in Begleitung eines stieseligen Mannes war.

Auch im zweiten Abteil nichts anderes. Im dritten Abteil schließlich wurde sie fündig. Gleich hinter Tür in einer Ecke bemerkte sie einen ziemlich stutzerhaft gekleideten Herren, der, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, mit weit aufgesperrtem Munde vor sich hin döste. Den Platz neben ihm belegte eine große Reisetasche, die offenbar nicht mehr ins Gepäcknetz passte.

„Sie werden entschuldigen, ist dieser Platz noch frei?“

Ohne jedoch die geringste Notiz von ihr zu nehmen, wuchtete sich der Herr unwirsch auf die andere Seite, um seinen Schlaf fortzusetzen.

„He, Sie! - ist dieser Platz noch frei?“, wiederholte sie ihre Frage und rüttelte seine Schulter.

Erschrocken riss er die Augen auf und sah sie unleidlich an.

„Wenn sie so freundlich wären, ihre Tasche... nun ja, diese Frau hier hat sich am Fuß verletzt, und es wäre nett, wenn...“

Nun schaute er an der Dame herab, und die Art, wie er es tat, ließ seine Gedanken erraten.

„Nun ja, liebend gerne, junge Frau“, begann er sich zu winden, „wirklich, aber ich weiß nicht, w--wohin mit meiner Tasche? Dort sind viele zerbrechliche Dinge drin... Sie verstehen... und außerdem muss ich Sie ja nicht daran erinnern, dass wir uns hier in einem Abteil für Platzkarten befinden.“

„Ach so, ...aber haben Sie denn zwei Platzkarten?“

„Zu meinem Bedauern ja.“ Unter einem süßsauren Lächeln kramte er die beiden Coupons hervor.

Ilka war außer sich, und sie hätte ihm sicher ein paar sehr deutliche Worte an den Kopf geworfen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick eine Stimme irgendwo aus dem Hintergrund gerufen hätte: „Ach, das ist ohnehin kein guter Platz... Kommen Sie hier rüber, hier ist noch was frei.“

Ilka, die noch keine Zeit gehabt hatte, zu sehen, wer sie da so unvermittelt ansprach, nahm den Arm der Frau von ihrer Schulter, und als sie sich umsah, erkannte sie schon wieder diesen Matrosen.

„Nanu? So schnell sieht man sich also wieder.“

„Oh, danke - vielen Dank, wirklich, das ist wirklich sehr nett...“, stammelte sie und bugsierte die Dame mit der Routine einer geübten Therapeutin in jene Ecke, die nun offensichtlich frei geworden war, während ihr Mann sogleich den Mittelgang mit seinen sperrigen Koffern verbaute und sich erschöpft und sichtlich erleichtert darauf niederließ.

„Strecken Sie den Fuß aus und versuchen ihn, in der nächsten Zeit nicht zu belasten... Und Sie –“, diese Aufforderung galt dem Mann, der sie noch immer böse ansah“, Sie sollten darauf achten und etwas mehr Rücksicht auf sie nehmen.“

„So lassen Sie mich doch endlich!“, schimpfte die Frau plötzlich schnippisch und stieß sie unsanft fort. „Reden Sie mir nicht dauernd von Rücksichtnahme, nicht Sie! ... Kurt, gib mir doch bitte die Tabletten, - na du weißt schon, die kleinen grünen, in der rosa Schatulle.“

Ilka war sprachlos. Und als sie nun auch noch mit ansehen musste, wie fidel die Dame plötzlich aufsprang, um die Tabletten selbst aus der Tasche zu nehmen, wurde sie rot. Schon wollte sie sich weiter nach vorne drängen, nur weg von diesen Hypochondern, als sich der Matrose erneut einmischte.

„Machen Sie sich nichts daraus. Benehmen ist nun mal nicht überall selbstverständlich ... Aber wenn Sie wollen... -?“

Er wies hinter sich und bot ihr seinen Platz an, der sich schräg gegenüber befand.

Dieses so unerwartete Angebot war für sie nicht akzeptabel. Aber sie wollte kein Mitleid; es kränkte und setzte sie herab. Sie war Frau genug, solche Dinge alleine zu meistern, und wenn es etwas gab, was sie hasste, dann Mitleid. Und so erwachte ihr altes Misstrauen mitsamt ihrer Gereiztheit, so dass es am Ende bei einem schroffen: „Nein, danke, nicht nötig“, blieb.

„Wie weit müssen Sie denn?“

„Bis Endstation, warum?“

„Dann sollten Sie lieber annehmen.“

„Es ist wohl doch besser, wenn...“

Doch schon hatte er seinen Seesack aus dem Gepäcknetz gerissen und dafür ihre Tasche reingequetscht.

„So - und nun setzen Sie sich. Wenn woanders was frei wird, können Sie ja wechseln.“

„Aber ich kann Ihnen doch nicht den Platz ...“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“

„Das kann ich nicht annehmen... Also, geben Sie mir bitte meine Tasche.“

„Wie Sie wünschen.“

Doch gerade als er die Tasche wieder herunternehmen wollte, hörte man von draußen ein fürchterliches Gebrüll. Einige der Armisten waren aneinander geraten und lieferten sich ein lautstarkes Wortgefecht, von dem jedoch nur Fetzen zu verstehen waren. Dann knallte es, Bierschaum quoll unter der Türe hindurch und ein lautstarkes Poltern ließ die Wand erzittern - dann Stille.

Der Matrose, dem ihre Angst nicht entgangen war, schob ihre Tasche wieder zurück.

„Wenn es Sie beruhigt; wir können uns diesen Platz ja teilen.“

„Teilen? Wie stellen Sie sich das vor?“

„Ganz einfach; nach der Hälfte der Zeit wechseln wir. Immerhin stehen uns noch einige Stunde bevor, und die können bei dem Gedränge ganz schön lang werden. Außerdem wird sie hier kaum jemand belästigen ... Nun machen Sie schon, bevor ich es mir anders überlege.“

Das alles brachte er so kurz und nüchtern, ohne jede Ironie und Aberwitz hervor, was sie abermals verwirrte, zumal sie ihr Selbstverständnis dazu verpflichtete, stets zu einer eigenen Entscheidung zu kommen. Einen Moment wollte sie erneut widersprechen. Doch irgendetwas hielt sie davon ab. Warum auch? Was hatte er schon getan, ihr seinen Platz angeboten. Na und? - das verpflichtete doch zu nichts.

Also setzte sie sich mit dem faden Empfinden eines widerwilligen Gehorsams, ohne den Blick von ihm zu nehmen, wobei sie jedoch zu ihrer Verblüffung feststellte, dass er ohne ein Wort plötzlich das Abteil verließ und sich nach draußen im Gang zu den anderen gesellte. Allein sein mausgrauer Seesack blieb neben ihr im Gang zurück.

Sie glaubte sich erneut düpiert und geriet in Verwirrung. Ganz deutlich konnte sie ihn jetzt durch die trübe Türscheibe erkennen, wie er dort erneut zur Flasche griff, und, nachdem er einen Schluck genommen hatte, sich in ein heftiges Gespräch mischte. Dabei hatte er den Arm gegen die Wand gestemmte und schien etwas zu erklären, wobei er ab und an mit dem Kinn in ihre Richtung wies.

So ein mieser Kerl! So lief das also. Wer weiß, was er jetzt erzählte? Wütend starrte sie vor sich hin, ganz auf sich und ihren tiefen Schmerz fixiert. Doch wie auf andere Gedanken kommen? Es war zum Verrücktwerden! Ihr Buch befand sich noch in ihrer Tasche, und diese hatte er tief ins Gepäcknetz gedrückt, woraus sie es ohne fremde Hilfe kaum bekäme. Doch sich zu bewegen und womöglich erneut alle Blicke auf sich zu ziehen, wagte sie nicht. Also blieb ihr nichts, als weiterhin wortlos zu verharren, denn nichts lag ihr ferner, als jemand darum zu bitten.

Nachdem sich nun der erste Schreck gelegt hatte, begann sie sich zaghaft umzusehen. Sie befand sich in einem Abteil der zweiten Klasse auf einem Platz am Mittelgang. Ihr gegenüber saßen zwei Personen - ein Mann und eine Frau, welche die Arme vor der Brust verschränkt und die Köpfe unter ihren Jacken vergraben hatten. Sie schliefen, oder taten zumindest so. Ob sie zusammengehörten, war nicht auszumachen, aber aufgrund der gleichen Gepäckteile im Netz wohl anzunehmen. Ihr zur Linken schließlich saß eine unscheinbare ältere Frau mit schlohweißem Haar und einer großen runden Brille, die ein Deckchen häkelte und dabei kaum einmal aufschaute. Erst beim zweiten Blick fiel der recht gedrungene Oberkörper auf, der auf eine skoliotische Verkrümmung der Wirbelsäule hindeutete.

Gegenüber, auf der anderen Seite schließlich, fläzte noch immer, inzwischen quer über die gesamte Bank hinweg, dieser Flegel neben seiner Tasche, als wolle er damit sein Recht auf die beiden Plätze vollends demonstrieren. Dabei stemmte er sich auf den linken Ellbogen, schlug die Beine übereinander und breitete eine Zeitung darauf aus - von Müdigkeit jetzt offenbar keine Spur mehr. Hin und wieder tippte er den Kugelschreiber an die Lippen, wobei er jedoch weniger in die Zeitung, als viel öfter zu ihr rüber schaute.

Demonstrativ sah sie zur anderen Seite hin, wo sich im Fenster die Nacht in gähnender Finsternis abzeichnete und wiederum seine Gestalt verschwommen widerspiegelte. Also blieb ihr nur der Blick nach vorn, denn an Schlaf war nicht zu denken. Noch viel zu aufgewühlt, ging ihr so manches durch den Kopf, als jetzt die nötige Ruhe zu finden. Noch immer wagte sie sich kaum zu rühren, in der Furcht angegafft zu werden. Allein der Verdacht, sich unmöglich gemacht zu haben, ließ sie erschaudern, zumal der Blick zur Tür sie fortwährend an ihre Undankbarkeit erinnerte.

Endlich konnte sie den Matrosen wieder sehen, und ein Gefühl der Reue kam ihr auf, was sie ganz betroffen machte und schwanken ließ, ob es nicht ratsamer wäre, auf der Stelle den Platz zurückzugeben. Doch sie wagte es nicht - eine tiefe Scham verhinderte es. Da fiel ihr plötzlich das kleine vergilbte Namensschild an seinem grauen Seesack auf. Darin stand in blassen blauen Druckbuchstaben hinter dem für sie unverständlichen Kürzel ‘Stmtr.’ noch der Schriftzug ‘M. Fischer, 25 Rostock 13, Pf. 53 461.’

Fischer also’, dachte sie, ‚und das Postfach - welch Zufall - gleicht bis auf einen letzten Zahlendreher meiner Kontonummer. Eigentlich sieht er gar nicht aus wie M. Fischer - nein, viel zu unpopulär, zu nüchtern. Sperenzki oder Leichtfuß wäre passender. - Hm, und wofür könnte dieses M. stehen - für Martin? - Manfred? - oder Macho...? Aber natürlich...’

„Sie werden entschuldigen“, riss sie plötzlich eine Stimme aus ihren Gedanken. Es war die ältere Frau neben ihr, die ihr das gehäkelte Deckchen entgegenhielt: „Was meinen Sie, passen Spitzen oder Bögen besser zu dieser Kante?“

„Wie bitte?“ Ilka, erwachte aus ihrer Gedankenversunkenheit und sah sie erschrocken an.

„Nun ich dachte, Sie als Frau verstehen vielleicht etwas davon.“

„Nein, leider nicht. Aber, wenn sie mich fragen – Spitzen, ja, Spitzen.“

„Dachte ich mir, aber ich war mir nicht sicher. Sie fahren sicher auch in den Urlaub, nicht wahr?“

„Ja.“

„Wohin denn, wenn man fragen darf?“

„An die Küste.“

„Ach so ... Schrecklich voll heute, finden Sie nicht? Ich fahre jedes Jahr um diese Zeit die Strecke, doch so schlimm war es noch nie. Na ja, wenigstens haben wir einen Sitzplatz. Nur gut, dass es noch solch selbstlose Menschen gibt wie Ihren Freund.“

„Welchen Freund?“

„Na, diesen Matrosen.“

„Ach so... das ist kein Freund.“

„Dann eben ihr Bekannter.“

„Ist auch kein Bekannter.“

„So?“

„Er ist weder noch, er ist ein Fremder, ich kenne ihn nicht.“

„Und dann opfert er seinen Sitzplatz?“

„Na und, was ist schon dabei? ... Außerdem haben wir ihn uns geteilt, falls es Ihnen entgangen sein sollte.“

„Oh Entschuldigung, natürlich, und es geht mich ja auch nichts an, nur finde ich es recht bemerkenswert, wirklich.“

„Was ist daran bemerkenswert?“

„Nun, dass es so etwas heutzutage noch gibt.“

„Was denn?“

„Eben so etwas.“ Dabei lächelte sie vieldeutig.

„Unsinn! Er ist ein –“ sie geriet ins Stocken und suchte nach Worten –„eben ein - höflicher Mensch, und ich habe sein Angebot angenommen, weiter nichts.“

„Weiter nichts? ... Nun schauen Sie nicht so. Ich war doch schließlich auch mal jung. Sicher wundern Sie sich jetzt über meine Indiskretion und ich bitte Sie auch vielmals um Verzeihung, zumal es nicht in meiner Absicht liegt, Ihnen in irgendeiner Form zu nahe zu treten, aber sie erinnern mich an etwas.“

„So?“, fragte Ilka, ein unbestimmtes Interesse vorschützend.

„Ach, es ist nichts“, wiegelte die Frau ab und errötete, wobei etwas Kummervolles in ihre Züge kam. Immer wieder sah sie sich um und ließ stille, ungezwungene Blicke umherwandern.

„Wissen Sie, manchmal geschehen Dinge, deren Tragweite man im ersten Moment noch gar nicht recht begreift.“

„Warum erzählen Sie mir das?“

„Ich habe Sie beobachtet. Sie sind nicht so, wie Sie sich geben, und es fällt Ihnen schwer, anders zu sein. Ich kenne das. Es ist unglaublich schwer, sich selbst zu überwinden. Wenn bloß dieser verdammte Stolz nicht wäre, nicht wahr? Aber, falls meine Offenheit Sie kränken sollte, dann...“

„Oh nein, keineswegs. So etwas interessiert mich immer ganz besonders“, erwiderte Ilka leicht gereizt.

„Ich habe so etwas auch schon mal erlebt. Und wenn sie nichts dagegen haben, würde ich Ihnen gerne davon erzählen, nur so zum Zeitvertreib.“

„Bitte, ich höre Ihnen gerne zu.“ Ilka lachte unnötigerweise, während das Gesicht der Frau einen verklärten Ausdruck annahm.

„Ach Gott, wie lange ist das jetzt schon wieder her. Sie müssen nämlich wissen, dass ich zu Hause als behütetes Einzelkind aufwuchs, dem man stets mit einem Übermaß an Liebe und Aufmerksamkeit begegnete, da ich mich ja - wie sie sicher schon bemerkt haben - allein vom Äußeren von anderen Kindern unterschied (sicher einer der Gründe, weshalb ich später meinen Vater, einen promovierten Oberstudienrat, und meine Mutter, eine engagierte Juristin, nur noch mehr verachtete, da sie mich niemals sein ließen, wie ich sein wollte.) Ihre ständige Fürsorge, ihr Bestreben, mich in allem zu entlasten und mir dadurch jede Selbständigkeit zu nehmen, erdrückten mich und bewirkten in mir eine zunehmende Abneigung gegenüber jeder Form von Hilfsbereitschaft und Entgegenkommen, ja endeten letztlich sogar in einem abgrundtiefen Hass gegenüber diesen Erscheinungen, die ich stets als falsches Mitleid interpretierte.

So wurde ich schon sehr früh zu einem introvertierten, eigensinnigen Kind mit einem manischen Hang zu übertriebener Eigenständigkeit. Krampfhaft versuchte ich mich zu beweisen, ohne zu merken wie sehr ich mich damit in eine bizarre Innenwelt verkroch, um zu finden, was mir die reale Welt verwehrte. In den frühen Kindesjahren spürte ich es noch nicht so deutlich, war es ein Zustand, den man eben hinnimmt, ohne weiter darüber zu befinden. Später aber, als wir nach G. umzogen (mein Vater hatte gerade eine neue Anstellung an der dortigen Universität bekommen und erhoffte sich nunmehr gute Protektionen für meine künftige Karriere als Juristin, die ich nach seinem Willen unbedingt zu werden hatte) - und ich von heute auf morgen in eine völlig neue Umgebung kam, wurde es mir zunehmend unerträglich.

Da gab es bald Momente, da ich nicht mehr in den Spiegel zu schauen wagte, an dem ich alte Fotos zerriss oder zu Fratzen karikierte, ja, dass ich mich nicht mal mehr auf die Straße traute, weil die Kinder aus der Nachbarschaft, längst dazu übergangen waren, mich zu necken und mit Schmutz zu bewerfen. Für sie war ich die kleine Hexe, die hässliche ‘Buckelliese’ eines zugezogenen Winkeladvokaten. So kam es in der Folgezeit zu vielen hässlichen Szenen, die ich wohl niemals mehr vergessen werde. So erinnere ich mich noch, wie ich einmal in einer Schlange bei einem Eisverkäufer in unserer Straße anstand.

Der Mann, der es wohl nur gut meinte, bat mich gleich vorzukommen und sagte noch: ‘Du armes Kind’, was sogleich ein unterdrücktes Prusten in der Schlange auslöste. Sie können mir glauben, dass man nicht beschreiben kann, was man in einem solchen Augenblick empfindet. Man glaubt, am lebendigen Leibe zu verbrennen. Die ganze Welt, eben noch warm und vertraut, nimmt schlagartig solch groteske Züge an, dass man sie nicht mehr zu ertragen meint und nur noch den Wunsch hat, davon zu rennen, irgendwohin, nur weg von dieser allseits präsenten, erdrückenden Unbarmherzigkeit, die einem auf Schritt und Tritt verfolgt, so dass selbst Dinge, die normalerweise das Herz erfreuen - ein strahlender Frühlingstag oder eine blühende Blume - nur noch Hass und Bitterkeit bewirken.

Aber wer weiß, vielleicht war ich zu jenem Zeitpunkt wirklich schon sehr krank, weshalb ich oft überreagierte und andere Menschen, die mir bestimmt nichts Böses wollten, von vorn herein verletzte. So redete ich mir sicher auch Dinge ein, die es in dieser Form gar nicht gab, was meine Isolation nur noch verstärkte. Doch irgendwie - ich weiß bis heute nicht wie - ging es stets weiter, verdrängte ich den Schmerz, auch wenn er noch so unerträglich schien. Von alle dem erzählte ich meinen Eltern natürlich nichts, sondern ertrug es, wie man so etwas eben erträgt, mit wehem Herzen, falschem Stolz und tiefem Trotz.

Die Jahre vergingen, und ich kam aufs Lyzeum. Meine Mitschülerinnen, allesamt aus gutem Hause und mit anstehenden glänzenden Karieren, betrachteten mich von Anfang an mit einem gewissen arroganten Mitleid - eine Form der ‘Anteilnahme’ also, die ganz besonders schmerzhaft ist. Und dabei konnte ich noch nicht mal sagen, was es war: Es war einfach dieses betretene Schweigen, das ständig um mich herrschte, diese Unsicherheit im Benehmen mir gegenüber, die mein Misstrauen und meine Aversionen nur noch steigerten. Und dabei versuchten einige anfangs tatsächlich, sich mir in ehrlicher Absicht zu nähern, was ich aber, da ich es als billige Anbiederung missdeutete, kategorisch ablehnte.

So blieb ich denn weiterhin allein. Ich will nun nicht sagen, dass ich von vornherein geschnitten wurde, aber man begann mich zumeiden, und die wenigen Gespräche, die sich hin und wieder ergaben, beschränkten sich im Wesentlichen auf rein schulische Probleme. Dabei war mein Herz so übervoll von Sehnsüchten, die ich so gerne mit jemandem geteilt hätte. So aber entstand in mir bald ein seltsamer Zwiespalt: Zum einen glaubte ich, ihre Nähe auf Dauer nicht zu ertragen; zum anderen drängte es mich zu ihnen hin, um mich allein durch meine Anwesenheit zu beweisen, was ich als Unerschrockenheit fehlinterpretierte. Doch da ich unentschlossen blieb, galt ich weiterhin als Eigenbrötler.

Nun war ich mittlerweile schon 18 Jahre, doch meine Mutter behandelte mich noch immer wie ein Kind. Und dabei konnte ich es nicht ausstehen, wenn sie mich morgens mit einem Wangenkuss weckte und mir zum Frühstück warme Milch bereitete, ja, wenn sie mich manchmal sogar noch zur Schule brachte. Ich aber duldete es aus falscher Scham. Sie können sich sicher denken, wie meine Mitschülerinnen darauf reagierten... Ich schämte mich zu Tode, und aus lauter Verzweiflung sah ich keinen anderen Weg, als mich nur noch mehr zurückzuziehen und aller Welt mit Argwohn zu begegnen. So fügte ich mich in mein Schicksal und glaubte lange Zeit, dass es mir so vorbestimmt sei und die einzige Erfüllung allein in meinen Träumen läge. Dann aber geschah etwas, was mich völlig durcheinander brachte.

Eines Tages fuhr ich allein mit der Straßenbahn nach Hause. Wie immer tief in Gedanken, bemerkte ich das Gedränge nicht, obwohl die Bahn um diese Zeit brechend voll war. Ich hatte es eigentlich nicht weit und stellte mich, meiner Gewohnheit nach, etwas abseits, als mich plötzlich ein junger Mann ansprach, der gerade von seinem Platz aufgestanden war: ‘Wenn Sie möchten-?’ sagte er freundlich und bot mir seinen Platz an. ‘Ich muss ohnehin gleich aussteigen’. Ich errötete und bekam zunächst kein Wort heraus - hielt ich es doch für eine neuerliche Geschmacklosigkeit, zumal ich kein Krüppel war, der irgendeiner Hilfe bedurfte. ‘Nein danke’, entgegnete ich schroff, und kehrte ihm trotzig den Rücken. ‘Ich bin das Stehen gewohnt und stehe gerne!’

Der junge Mann, der wohl spürte, dass er mich verletzt hatte, sah mich daraufhin stumm an. Es war wohl das erste Mal, dass ich einem fremden Mann in die Augen sah. Doch diesen Moment werde ich niemals vergessen, weil in diesem Blick etwas Sonderbares lag; kein Spott, keine Häme, sondern eine unerwartete Aufrichtigkeit anstelle des befürchteten Mitleides. Ich hielt den Atem an, und noch im selben Moment bereute ich mein brüskes Verhalten. Er hingegen erwiderte nichts, sondern zuckte nur die Schultern. Dann stieg er aus, und ich – völlig durcheinander - ich sah ihm noch lange nach.

Bestimmt hätte ich diesem Vorfall bald vergessen, wenn ich ihm nicht schon am nächsten Tag erneut begegnet wäre. Es war die gleiche Zeit, an gleicher Stelle, und fast schien es, als habe er mich erwartet. Sogleich begab ich mich wieder ins hintere Abteil, lehnte mich klopfenden Herzens gegen die Scheibe, den Blick starr nach draußen gerichtet, und wagte mich nicht zu rühren. Plötzlich meinte ich, genau zu fühlen, wie seine Blicke mich maßen, doch anders als gewohnt, irgendwie einer spontanen Neugier folgend, keineswegs bedauernd, sondern direkt und unumwunden. Und am seltsamsten war, dass ich keine Scheu empfand, sondern genoss es. Oh Gott, wie war ich durcheinander. Ich errötete, mein Herz, das vor Aufregung beinahe zersprang, schlug wie wild gegen meine Brust, meine Gedanken wirbelten durcheinander.

Was hatte er vor? Trieb er ein Spiel mit mir, oder bildete ich mir das alles nur ein? Würde er mich wieder ansprechen? Doch er zögerte. Also wandte ich mich schließlich um und wagte erstmals zaghaft in seine Richtung zu sehen.

Erst jetzt begann ich ihn näher zu betrachten. Er war groß und schlank, hatte dunkles, gewelltes Haar, eine klare Stirn und dichte, geschwungene Brauen über stahlblauen Augen. Seine Züge waren einnehmend freundlich und ließen auf einen guten Charakter schließen, und trotz seines jugendlichen Aussehens, erahnte man einen ausgeprägten Stolz, menschliche Reife und charakterliche Festigkeit. Lediglich seine spartanische Kleidung milderte diesen ersten, durchaus angenehmen Eindruck. Danach zu urteilen, schien er aus einfachen Verhältnissen zu stammen, denn seine Jacke wirkte ziemlich schlicht, um nicht zu sagen ärmlich, und die Mütze in seinen Händen war auch schon arg zerschlissen.

Doch das blieb für mich sekundär. Und plötzlich, als habe er meine Gedanken erraten, stand er auf und kam auf mich zu. ‚Guten Tag’ sagte er, offenbar überrascht, mich wieder zu sehen. ’Das ist ja ein Zufall, und dabei hatte ich gedacht...’ und schon entspann sich ein Gespräch – aber was heißt Gespräch, eigentlich mehr ein Monolog, da ich ja, meiner Art entsprechend, ohnehin kaum etwas sagte. Doch meine Unsicherheit tolerierend, begann er ungezwungen über allerlei Belanglosigkeiten zu reden, wie man es in solchen Situationen tut, was mich wiederum amüsierte. Dabei gelang es ihm auf bemerkenswerte Weise Komik und Tragik des Alltags miteinander zu verbinden und mich für Momente aus meiner Lethargie zu reißen. Leider war dieser Augenblick viel zu kurz, da er schon an der nächsten Station aussteigen musste. Seit diesem Zeitpunkt nun war ich in eine andere Welt entrückt.

Ich schwebte auf einer Wolke. Kein Tag, an dem ich nicht die Heimfahrt ersehnte, ja, ich lebte nur noch für diesen Augenblick, der mich für all das entschädigte, was ich im Alltag an Bosheiten und Kränkungen zu erfahren meinte. Fortan nahm ich also nur noch die Bahn, dabei bemüht, stets zur gleichen Zeit im gleichen Abteil zu sein. Und wenn er da war, verging ich vor Glück, hingen meine Augen an ihm, dass ich alles andere vergaß. Blieb er hingegen aus, brach augenblicklich Eiseskälte über mich herein, was mir die ganze Leere und Sinnlosigkeit meines Seins offenbarte.

Bald trafen wir uns öfter, und ich konnte ohne diese Treffen nicht mehr leben. Ein völlig neues Gefühl hatte sich meiner bemächtigt, deren Tiefe und Intensität ich niemals für möglich gehalten hätte. Die ganze Welt schien plötzlich wie verzaubert. So schlenderten wir bei strömendem Regen durch die Straßen, saßen bar jeden Zeitgefühls stundenlang auf Bänken, allein unseren Gedanken verhangen.

Oft nahm er mir die Antwort vorweg oder sagte, was ich gerade dachte; umgekehrt erriet ich oft seine Gedanken und verblüffte ihn mit meiner Direktheit. Das war schon fast unheimlich. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich gestehe, dass ich hoffnungslos verliebt war, zumal ich fühlte, dass auch er ebenso empfand. Und mit dieser Gewissheit wurde aus mir allmählich ein anderer Mensch. Mein Gemüt wurde ausgeglichener, meine Sinne ruhiger; ich empfand intensiver, klarer. Mein Argwohn und meine krankhafte Hypersensibilität klangen ab und wichen einer allgemeinen Toleranz. Bald gab es kaum noch etwas, was mich aus der Ruhe brachte, und wenn, war es spätestens zum nächsten Treffen vergessen.

Ich wäre sicher der glücklichste Mensch auf Erden gewesen, hätte es nicht dennoch etwas gegeben, was mich beunruhigte. Es war einfach der Umstand, dass er trotz aller Tiefe und Offenheit unserer Dialoge niemals über sich sprach und wenn, blieb er nur sehr allgemein. So erfuhr ich lediglich, dass er gleich in der Nähe arbeitete und Sebastian hieß. Dabei konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihn etwas bedrückte. Ich spürte einfach, dass er Hilfe suchte, und ich hätte sie ihm so gern gegeben, doch eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab. So blieb er denn, trotz aller Vertrautheit, in diesem Punkt für mich ein Fremder.

Aber eigentlich störte es mich nicht wirklich. Es war ja ohnehin nicht wichtig, und ich trug mich allen Ernstes mit den Gedanken, ihn alsbald meinen Eltern vorzustellen. Natürlich wusste ich, dass einer Familie wie der meinen suspekt sein musste, aber das scherte mich nicht. Irgendwann schließlich nahm ich also all meinen Mut zusammen und brachte ihn mit nach Hause, obwohl er sich lange dagegen sträubte. Als wir nun vor unserem Haus standen und er die prächtigen Rabatten sah, als man ihm beim Eintreten die Jacke abnahm und uns in den kleinen Salon geleitete, verstummte er. Noch heute sehe ich ihn, wie er zaghaft eintrat und verwundert, die Mütze in der Hand, den kristallenen Kronenleuchter betrachtete. Und ich zeigte ihm noch weitere Kostbarkeiten, wie den ‘Renoir’ in Papas Arbeitszimmer, oder den vergoldeten Kronleuchter meiner Großmutter - zwei Erbstücke meiner Mama, worauf sie immer ganz besonders stolz war. Als sie kurz darauf eintrat und uns beide bemerkte, war sie sichtlich erschrocken.

Papa hingegen, der an diesem Tage etwas früher von der Uni gekommen war, reagierte nicht minder überrascht. Augenblicklich verschwand sein ansonsten so liebenswürdiges Lächeln, seine Haltung straffte sich und er klemmte sein Monokel ins Auge. Dann betrachtete er den Neuling, wenn auch etwas streng, so doch im Grunde wohlwollend. Schließlich begann er ein Gespräch in der für ihn typisch spitzfindigen, etwas hinterhältigen Art, wobei er durchaus freundlich und einfühlsam vorging und alles vermied, was ihn hätte verletzten können. Sie müssen nämlich wissen, dass Papa als alter Psychologe offenbar sofort wusste, wie es um ihn bestellt war, während ich in meiner allgemeinen Vernarrtheit, vieles nicht sah, was ich eigentlich hätte sehen müssen. Doch obwohl er sich alle Mühe gab, war auch jetzt kaum mehr über ihn zu erfahren, nicht genug jedenfalls, um sich seiner Redlichkeit zu versichern - und das beunruhigte mich.

Noch am selben Abend kam mein Vater in mein Zimmer, setzte sich auf mein Bett. Er wirkte seltsam zerstreut und abwesend, was mich beunruhigte, denn ich fühlte sofort, dass etwas geschehen war. ‘Du liebst ihn, nicht wahr?’ fragte er schließlich unumwunden. Doch ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er sogleich fort, was eigentlich nicht seiner Art entsprach. Es war ein konfuses Durcheinander von Argumenten und Gegenargumenten, welche auf der einen Seite für, auf der anderen gegen uns sprachen, doch in der Endkonsequenz etwas ganz Eindeutiges zum Ausdruck brachten. Nun war mein Vater viel zu diplomatisch, mir irgendetwas zu oktroyieren, sondern setzte als Pädagoge stets auf Überzeugung. Ich jedoch war entsetzt und weigerte mich strikt, seinem Ansinnen auch nur im Ansatz zu folgen. Und angesichts meiner Verzweiflung, die ihm sicherlich das Herz brechen musste, blieb ihm nichts, als nun mit der ganzen Wahrheit herauszukommen.

So erforschte er wiederum Dinge, die mich zunächst verwirrten, z. b. ob wir vor seinem Eintreffen im kleinen Salon gewesen wären und wenn, wie lange, und vor allem, ob er alleine dort gewesen sei. Allmählich verstand ich, ohne jedoch wirklich zu begreifen. ‘Leider ist es so’, schloss er schließlich mit gewohnter Sachlichkeit, erhob sich und sah mit langem Schweigen zur Wand. Der Gegenstand, den er vermisste, war das goldene Etui von seinem Sekretär. Ich kannte meinen Vater zu genau, um zu wissen, dass er nicht log, nicht in einer solchen Sache. Doch gleichviel, ob zu Recht oder Unrecht - einzig der Verdacht erschütterte mich derart, dass augenblicklich alles in mir zusammenstürzte. Am Ende wurde mir klar, dass es nicht mehr um dieses Etui ging. Allein der Umstand, dass nur er dafür in Frage kam, brach mir das Herz.

Fortan war nichts mehr wie zuvor, denn alles, woran ich geglaubt, woran ich mich geklammert hatte, all meine Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume waren zerbrochen. Mir war, als stünde ich plötzlich am Ende einer Treppe, die in einen tiefen Abgrund mündet ... Aber was rede ich. Selbst jetzt, nach all den Jahren, bekomme ich Herzweh, denke ich daran zurück... nun, was soll ich noch sagen: Das Etui hatte sich ein Jahr später wieder eingefunden, es war hinter den Sekretär gerutscht und hatte sich dort so unglücklich verklemmt, dass es die ganze Zeit unbemerkt geblieben war.“

Schweigen. Die Frau wischte die Scheibe frei, indes ein erster purpurner Schimmer den erwachenden Morgen verriet. Im Dämmerlicht flogen Landschaften vorbei, mal hüglig, dann flach, von Buschgruppen und aufgefächerten Baumreihen durchschnitten. Eine verlorene Einsamkeit lag über dem Land.

Ringsum war es längst still geworden, alles schlief, nur das dumpfe Klacken der stählernen Räder, das den Zug auf ganzer Länge durchrollte, zerriss das tiefe Schweigen.

„Haben Sie denn niemals versucht, die Sache aufzuklären?“, wollte Ilka nach einer Weile wissen, wobei in ihren Worten eine gewisse Entrüstung lag.

Die Frau zögerte. Offenbar wollte sie nicht weiter daran erinnert werden und begann von anderen Dingen zu reden, von ihrer Familie und ihren Kindern, die mittlerweile längst erwachsen waren. In gequälter Heiterkeit suchte sie sich darüber zu verbreitern und geriet regelrecht ins Schwärmen, als sie von ihren Enkeln sprach. Und dennoch nagte der tiefe Kummer an ihren Zügen. So kehrte sie denn irgendwann von selbst zu diesem Thema zurück.

„Wissen Sie, vieles in unserem Handeln ist allein mit Vernunft kaum zu erklären. Denn obwohl ich wusste, dass es falsch war, blieb ich aus irgendeinem Grunde passiv. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich war unfähig, überhaupt etwas zu tun, was nur im entferntesten unsere Beziehung hätten erhalten können, weil... nun, weil...“, sie unterbrach sich und holte tief Luft, bevor sie weiter sprach, „vielleicht weil mir meine Karriere am Ende doch wichtiger war - und heute schäme ich mich dafür.“

Erneutes Schweigen. Einen Moment schien ihr Geständnis sie zu bereuen, war Scham und Wut in ihren Zügen, doch dann lächelte sie verlegen.

Das kurz darauf einsetzende Quietschen der Bremsen begann sie zu erlösen. Eine allgemeine Unruhe entstand. Die Fahrgäste erwachten und begannen ihre Sachen zu richten. Draußen zogen einige blasse Laternen vorüber, der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie waren angekommen.

Ilka erschrak, denn sogleich fiel ihr der Matrose ein, der ihretwegen die ganze Zeit auf seinen Platz hatte verzichten müssen.

Oh, wie tat er ihr jetzt leid, wie schämte sie sich für ihren Egoismus, dass sie nur noch einen Wunsch hatte, so schnell wie möglich zu verschwinden.

Die Frau unterdes erhob sich, zog ihre Jacke zu und drückte ihr zum Abschied noch mal die Hand.

„Also dann, alles Gute - und mögen Sie niemals am Ende einer solchen Treppe stehen.“

Ohne darauf etwas zu erwidern, erhob sich Ilka und war sogleich bemüht, ihre Tasche aus dem Fach zu zerren. Doch sie steckte so fest, dass sie sie ohne fremde Hilfe kaum herausbekäme.

Unterdes begann sich der Gang zu füllen, drängte man, das Gepäck vor sich herschiebend, träge den Ausgängen entgegen. Und plötzlich stand er wieder neben ihr, völlig übernächtigt, mit geröteten Augen und aschfahlem Gesicht. Er war gekommen, um seinen Seesack zu holen.

Oh wie erbärmlich war ihr jetzt zumute, zumal sie zu allem noch begann, an ihrer Tasche herumzudrücken, allein darauf bedacht, jeden Augenkontakt zu vermeiden. Und obwohl sie es nicht wagte, ihn um Hilfe zu bitten, beschämte er sie, indem er ihr die Tasche herunter reichte und einen schönen Urlaub wünschte.

Wie schäbig kam sie sich jetzt vor. Doch ihn um Verzeihung zu bitten, fehlte ihr der Mut. So nahm sie denn trotzig ihre Tasche auf und verließ das Abteil, ohne ein Wort des Dankes, einzig in der Hoffnung, das alles schnellstmöglich zu vergessen.

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Ilka

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