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Ihr kennt keinen Tolpatsch?

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Hannibal bestand aus einer Ansammlung von Holzhäusern, die sich vom Ufer aus einen leicht ansteigenden Hang hinauf zogen. Am Landeplatz ragte ein Holzpier in den Strom. Da er nicht fest verankert war, sondern auf einer Vielzahl von Fässern schwamm, konnte ihm das Hochwasser nichts anhaben. Am Pier lag kein Schiff.

Sie näherten sich rasch einer gemauerten schrägen Uferbefestigung, die als Kai diente. Hier lagen zahlreiche Kähne wie ihrer vertäut. Im Anschluss an den gemauerten Kai erstreckte sich ein buntes Durcheinander von Holzschuppen, die offenbar als Lagerräume dienten. Ein breiter Weg führte vom Pier zwischen den Schuppen hindurch zu den Häusern der kleinen Stadt. Der Landeplatz war menschenleer.

„Hier passiert nix, bis der Dampfer kommt“, erklärte Huck. Er sah prüfend zur Sonne. „Noch zwei Stunden oder so, dann is’ hier ord’n’lich was los.“

Er steuerte ihr Boot mit dem Bug auf die Kaimauer zu. Kurz vor dem Aufprall sprang er auf das Mauerwerk und befestigte das Boot mit einem Strick an einem Metallring. Er zog es an sich heran und hielt es fest, während die anderen ausstiegen und den Kai hinauf gingen. Aufmerksam sahen sie sich um.

Ein großer dunkler Umriss im Schatten eines baufälligen Holzschuppens erregte Lenas Neugierde. Es sah aus wie ein mächtiger Stapel von Säcken oder Kleiderballen, die achtlos auf einen Haufen geworfen waren, aber genau konnte sie es nicht erkennen.

Doch dann rührte es sich in dem Stapel: Etwas, das aussah wie ein Gesicht, wandte sich ihnen zu. Die Säcke oder Kleiderballen gerieten in Bewegung. Ein Körper wurde sichtbar. Aber irgend etwas stimmte an den Proportionen nicht – es war alles so ... groß!

„Was ist das?“ flüsterte Lena ehrfürchtig.

Die Gestalt, die sich jetzt zu voller Größe aufgerichtet hatte, überragte den Holzschuppen, neben dem sie stand. Tobias schätzte sie auf mindestens drei Meter in der Höhe, und irgendwie schien es in der Breite nicht viel weniger zu sein. Sie wirkte eindeutig quaderförmig, mit Beinen wie Säulen, einem Rumpf wie ein Fass, einem Schädel wie ein rundgeschliffener Felsbrocken, die Arme wie Baumstämme und Hände wie Schaufeln. So stand dort ein ... Mann und sah zu ihnen herüber. Als Hemd trug er einen Sack, in den an den Seiten Löcher geschnitten waren. Seine unförmige Hose hing an zwei Tauenden, die ihm als Hosenträger dienten.

„’n Tolpatsch“, sagte Huck fröhlich. „Ich wette, das is’ der olle Melem von der Witwe Webster.“ Er winkte. Die Gestalt hob langsam einen Arm und winkte zurück.

„Ein Riese!“ staunte Cirico Luz.

“Jo, Mann, Ihr kennt euch aus.”

Huck wandte sich zu Lena und Tobias:

„Habt ihr noch nie einen Tolpatsch gesehen?“

„Wie meinst du das?“ fragte Tobias irritiert. „Natürlich habe ich schon mehr als einen Tollpatsch gesehen, aber nicht so einen. Der ist gewaltig.“ Er starrte hinüber zu der großen Gestalt, die sich mit gemächlichen Bewegungen wieder gesetzt hatte und mit dem Schatten des Schuppens verschmolzen war.

„Na ja“, meinte Huck. „So groß sind sie alle. Deswegen heißen sie Tolpatsche. Sind alle was langsam.“

„Es gibt mehr davon?“

Jetzt war es an Huck, Tobias irritiert anzusehen, als verstände er die Frage nicht. „Bannich viel, will ich hoffen. Wo soll’n sonst die Sklaven herkommen?“

„Sklaven?“ Lena traute ihren Ohren nicht.

„O Mann“, stöhnte Huck. „Mit euch hat man so seine Last. Ihr wisst aber auch rein gar nix. Wer soll denn die Arbeit machen, wenn ’s keine Sklaven gäb? Die Witwe Webster käm doch nich zurecht, ohne den Melem. Der lungert hier jetz nur rum, weil er was vom Schiff abholen soll, denk ich mal. Sonst würd’ die dem schon Beine machen. Kannste Gift drauf nehmen. Die Webster, die hat Haare auf den Zähnen. Die macht die Sonntagsschule un’ kann ord’n’lich zulangen.“ Er sagte es respektvoll.

Lena blieb die Sprache weg. Das war der Junge, den sie so nett gefunden hatte?

„Wie kommt die Frau zu einem Sklaven?“ wollte Tobias wissen.

„Is’ ausser Hinterlassenschaft von ihrem Seligen. Mister Webster war fürn paar Jahre im Westen auf Goldsuche. Von da hat er den Melem mitgebracht. War das einzige, was er mitgebracht hat. Und denn is’ er krepiert un’ hat ihr den ollen Melem hinterlassen. Könnt sie sich sonst nich leisten. ’n guter Sklave kostet ’nen Batzen.“

Dass es in dieser Welt Sklaven gab, überraschte Tobias nicht. Schließlich kannte er seinen Huckleberry Finn. Aber er hatte etwas anderes erwartet.

„Was ist mit den Negern?“ fragte er.

„Hä?“ Der große Junge sah ihn verständnislos an.

„Na, die Negersklaven, was ist mit denen?“

Huck war aufrichtig empört: „Wir sind hier nich in Afrika. Was redst du fürn Zeuch? Wie solln Neger aus Afrika nach Amerika kommen? Sach ma, in was für ’ner Welt lebste eigentlich?“ Die Frage war richtig gut, aber das wusste er nicht.

Tobias ließ nicht locker. Er wollte der Sache auf den Grund gehen. Sie waren einige Schritte auf die Lagerschuppen zugegangen, befanden sich aber immer noch auf der Kaianlage. „Wenn es hier keine Neger gibt, wer sind dann die Sklaven?“

Lena und inzwischen auch Cirico Luz verfolgten das Gespräch aufmerksam. Beide spürten, dass es um etwas Wichtiges ging.

Huck verdrehte die Augen:

„Das sach ich doch die ganze Zeit. Die Tolpatsche, wer sonst?“

„Und wo kommen die her?“

„Die kommen nirgend her. Die gab ’s schon immer.“

„Die leben hier schon immer?“

„Jo.“

Tobias wurde aufgeregt. „Die ‚Tolpatsche’ sind alle solche Riesen? Und die sind die Ureinwohner von Amerika?“

„Jo, Mann.“ Huck war es unbehaglich zumute. Die Fragerei von seiner neuen Bekanntschaft fing an zu nerven. Genauer gesagt traf sie einen Nerv, wo ’s ihm wehtat. Aber das wollte er nicht zugeben.

„Und was ist mit den Indianern?“

„Nu is’ aber genuch“, brauste Huck auf. „Erst kommste mir mit Negern aus Afrika, und nun mit den Leuten von Indien. Wie kommste jetz auf die? Was ham die mit uns zu tun?“ Auffordernd sah er Tobias an.

„Hier gibt es keine Indianer“, murmelte der Junge. Es war eine fremde Welt, in die sie geraten waren. An Stelle der Indianer gab es Drei-Meter-Riesen, und die waren die Ureinwohner Amerikas.

„Wo leben die ...? “, er zögerte, denn das Wort ‚Tolpatsch’ wollte ihm nicht über die Lippen kommen; statt dessen wies er mit dem Kopf zum Schuppen.

„Im Westen gibt ’s sie noch wild inne Bergen. Un’ sonst gibt ’s sie überall, als Haussklaven oder inne Plantagen im Süden. Anne Ostküste inne Yankeestaaten sind sie alle freigelassen un’ müssen inne Fabriken arbeiten. Bei uns ham sie ’s besser“, erklärte Huck trotzig.

„Das ist kein schöner Name“, meinte Lena.

„Was?“ Huck wirbelte zu ihr herum. Er war jetzt richtig wütend. Aber Lena war keine, die sich leicht einschüchtern ließ:

„Na, wer will denn schon so heißen!“

„Die heißen so, weil sie so sind!“ knurrte Huck. Er war es nicht gewohnt, sich mit kleinen Mädchen zu streiten. Und er war es nicht gewohnt, dass kleine Mädchen ihm widersprachen. „Die ham nun mal nich so viel im Kopf wie wir. Is’ nun mal so.“

„Wir nennen uns Mentene“, brummte eine tiefe Stimme hinter ihnen.

Alle fuhren herum. Der Riese hatte sich von seinem Lager aufgerichtet und sah sie an.

„Oh. ’tschuldigung, Melem“, stotterte Huck. „Hab dich ganz vergessen.“

Der Riese beachtete ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit galt allein den beiden Kindern und ihrem seltsam gekleideten erwachsenen Begleiter.

Mentene heißt ‚Mensch’ – das ist unser Name. In unserer Sprache“, erklärte er. „Master Huck ist in Ordnung. Aber es ist nicht alles richtig, was er sagt. Er weiß es nicht besser.“

Tobias, Lena und der Feuerwerker starrten ihn mit offenen Mündern an. Der Riese stand hoch aufgerichtet vor ihnen und sah auf sie herab.

„Is’ gut, Melem“, sagte Huck nervös. „Die sind fremd hier un’ kennen sich nich aus. Bring sie nich ganz durch’nander. Sonst krieg’n sie noch Ärger inne Stadt.“

„Ist ja gut, Master Huck“, sagte der Sklave gleichmütig und setzte sich wieder hin. Als er sich an die Schuppenwand lehnte, bog sie sich mit einem protestierenden Knirschen nach innen.

„Wisst ihr was“, sagte Huck, „ich kenn jemand, der kann euch alles viel besser erklärn als ich. – Ich bring sie zum Lotsen“, fügte er zum Riesen gewandt hinzu. Mit einer Handbewegung forderte er die drei auf, ihm zu folgen.

Schon im Abmarsch, drehte sich Lena noch einmal um und rief mutig, mit lauter Stimme:

„Mich haben sie nicht durcheinander gebracht, Herr Melem!“ Aufgeregt flüsterte sie Tobias zu: „Ich find den nett.“

Der nickte geistesabwesend. Es gab so vieles, über das er gern in Ruhe nachgedacht hätte.

Huck trieb sie zur Eile. Über den Lehmweg, der zwischen den Schuppen hindurch führte, erreichten sie die Häuser der Stadt. Hannibal bestand zum größten Teil aus ein- bis zweistöckigen Holzhäusern, die sich um den Haupt- und einige Nebenwege gruppierten. Keiner der Wege war gepflastert. Vor einigen Häusern gab es Brettersteige, ansonsten lief man über hartgetrockneten Lehm. Tiefe Rillen im Boden ließen ahnen, wie es hier aussah, wenn es geregnet hatte.

Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Vor einem Laden saß ein Mann mit einer blauen Schürze auf einem Korbstuhl und döste mit geschlossenen Augen. Zwei Frauen in schwarzen Kleidern überquerten den Fahrweg und warfen der Gruppe, die vom Hafen her kam, neugierige Blicke zu. Eine Schar Kinder jagte einem Hund hinterher, dem sie eine Blechbüchse an den Schwanz gebunden hatten. Auch sie blickten neugierig zu den Neuankömmlingen herüber. Vor einem Schuppen spannte ein Mann ein Pferd vor einen Karren. Und mitten auf der Straße schnüffelte eine Sau mit ihren kleinen Ferkeln in einem Haufen Unrat.

„Wo ist der Jahrmarkt?“ fragte Lena.

„Da, wo auch der Viehmarkt is’. ’n Stück raus aus der Stadt. Da sind auch die meisten Leute. Aber richtig los geht ’s heut Nachmittag, wenn das Postschiff da is’. Wir gehn hier lang.“ Huck bog in eine schmale Gasse ab, die parallel zum Fluss eine Anhöhe hinauf führte. Vorher wies er auf ein Eckhaus. Auf einer Fensterscheibe stand in goldfarbenen Lettern Missouri Courier.

„Das is’ unsere Zeitung. Un’ ich fang da als Druckerlehrling an“, erklärte Huck und der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar. „Bin eigen’lich schon zu alt, aber Mister Clemens hat das für mich geregelt. Der hat da auch gearbeitet, bevor er Lotse wurde. Hat selber was geschrieben un’ hat gesagt, ich könnt das später auch.“

„Wo gehen wir hin?“ wollte Tobias wissen.

„Da rauf.“ Huck wies die Anhöhe hinauf. Auf einem flachen Hügel oberhalb des Flusses stand ein großes mehrgeschossiges Haus, umringt von Bäumen.

Lena blieb hinter ihnen zurück. Sie war stehen geblieben und starrte in einen Hinterhof. Dort stand, mit dem Rücken zur Straße, eine mächtige Gestalt – die zweite Mentene, die sie erblickte. Dies war eine Frau in einem viel zu engen Kleid, dessen Farben bis zur Unkenntlichkeit verblichen waren und das an der Seite einen Riss aufwies. Die Riesin war damit beschäftigt, Fässer zu reinigen. Mit einer Hand hob sie sie von einem hohen Stapel herunter und stellte sie vor sich auf den Boden, während sie in der anderen Hand eine große Bürste hielt, mit der sie die Fässer bearbeitete.

„Sin’ Zuckerfässer“, erklärte Huck, der zu ihr getreten war. „In so was hab ich früher geschlafen. – Komm, wir müssen weiter.“

„Das ist eine Frau“, meinte Lena fassungslos. „Ist das auch eine Sklavin?“

Huck blieb stumm. Er nickte und ging weiter. Lena fiel auf, dass ihr neuer Bekannter sich zu dem Thema nicht gern äußerte. Plötzlich wurde ihr peinlich bewusst, dass sie die Riesenfrau anstarrte, als wäre diese ein Tier im Zoo. Rasch wandte sie sich ab und folgte den anderen.

Der Weg führte sie nun in einem Bogen steil den Hügel hinauf, und bald erreichten sie die ersten der Bäume, die die Kuppe bedeckten. Vor ihnen lag das Haus.

Eine langgezogene Veranda, die zur Hälfte überdacht war, ragte wie der Bug eines Schiffes über den abfallenden Hang auf den Fluss hinaus. Das daran anschließende Haus wies so viele Erker, Vorsprünge, Türme, Giebel, Kamine, Anbauten und Balkone auf, dass die Grundform – ein Achteck – kaum noch zu erkennen war.

Huck wies auf einen halbrunden Erker, der über der Veranda aus der glatten Stirnseite des Gebäudes wie ein Auge herausragte. Vier Fenster in vier verschiedene Richtungen ermöglichten einen ungehinderten Blick auf den Strom und die weitere Umgebung.

„Das is’ der Ausguck vom Lotsen. Da sitzt er und hat alles im Blick. Ich wette, er hat uns längst im Visier.“

„Wer ist der Lotse?“ fragte Lena.

„Mister Clemens. Dem das Haus gehört.“

„Und warum sitzt er da, wenn er ein Lotse ist?“ Lena wusste, was ein Lotse zu tun hatte. Vor allem musste er auf dem Schiff sein, das er ‚lotste’.

Huck lachte. „Mister Clemens arbeitet nich mehr als Lotse. Hat er viele Jahre gemacht. War einer der Besten auf dem Fluss, sag’n die Leute. Jetz will er Bücher schreib’n. Das da is’ sein Arbeitszimmer. Da sitzt er ’nen ganzen langen Tach und denkt sich was aus.“

Auf dem vorderen Teil der Veranda spielten Kinder im Sonnenlicht. Es waren drei Mädchen, das älteste etwa so alt wie Lena, das jüngste nicht älter als vier. Sie unterbrachen ihr Spiel und sahen zu den Herankommenden. Dann sprangen die beiden Jüngeren auf und rannten ihnen entgegen, wobei sie laut riefen:

„Onkel Huck! Onkel Huck!“

Huck verzog das Gesicht. „Sag’n die immer zu mir, dabei bin ich das ga’nich. Komm mir vor wie ’nen Oller.“

Zu weiteren Erklärungen blieb ihm keine Zeit, denn im Nu hingen die Mädchen an seiner langen Gestalt und erreichten es irgendwie alle beide, dass er sie trug. Die Jüngste, die es bis auf seine Schultern geschafft hatte, nahm ihm den Strohhut vom Kopf und setzte ihn sich selbst auf.

Huck protestierte lauthals, konnte sich aber das Lachen nicht verkneifen. Die Mädchen ignorierten seine Proteste sowieso. Der Junge trug sie die Stufen zur Veranda hinauf. Erst dort durfte er sie absetzen. Das älteste Mädchen hatte alldem mit verschränkten Armen zugeschaut und den Jungen mit einem „Hallo, Huck“ begrüßt. Jetzt wandten alle drei ihre Aufmerksamkeit Hucks Begleitern zu. Es war vor allem der Feuerwerker in seiner bunten Bekleidung, den sie fasziniert ansahen.

Tobias, Lena und Cirico Luz waren am Fuß der kleinen Treppe, die zur Veranda hinaufführte, stehen geblieben. Sie waren unsicher, wie es weitergehen sollte.

„Huck, sei nicht so unhöflich. Wenn du Gäste mitbringst, dann lass sie nicht vor dem Haus stehen.“

Es war eine sanfte Stimme, die sich da Gehör verschaffte. Sie klang unter der Überdachung der Veranda hervor. Huck reagierte sofort.

„Ja, Missis Clemens, mach ich glatt. Ich wollt’ Sie nur nich überfallen, wo ich ungefragt jemand’n mitbring.“ Er geriet ins Stottern und winkte den dreien am Fuß der Treppe, zu ihm auf die Veranda zu kommen.

„Sind Leute, die zum Jahrmarkt wollen, Missis Clemens. Hab sie im Wald aufgestöbert, wo sich verirrt ham un’ hab sie mit ’n Boot mitg’nommen. Dachte, Mister Clemens will sie sehen ...“. Er stockte und kam nicht weiter.

„Ist ja gut, Huck. Du hast bestimmt recht, was Mister Clemens betrifft. Nun stell mir doch erst einmal deine Gäste vor.“

„Klar, Missis Clemens.“ Huck zeigte auf die Kinder. „Der Junge heißt Tobias, und das is’ ’n Mädchen, auch wenn ’s nich so aussieht. Die heißt Lena. Und das, das is’ ...“. er geriet wieder ins Stottern.

Der Mann von den Feuerinseln trat einen Schritt vor, riss sein Käppi mit der roten Feder vom Kopf und verbeugte sich: „Cirico Luz, Feuerwerker.“

Die drei Mädchen sahen ihn mit aufgerissenen Augen an.

Lena nahm Huck seine Worte – ‚Mädchen, auch wenn ’s nicht so aussieht’ – dieses Mal nicht übel, denn die Mädchen liefen hier wirklich alle anders herum als sie: alle drei trugen Kleider mit viel Rüschen und so Zeugs, und lange Strümpfe und blitzblanke Schuhe und hatten Schleifen in den Haaren und sahen pikobello aus. Da konnte sie nicht mithalten. Ein bisschen schämte sie sich.

„Lena – was für ein schöner Name“, sagte die sanfte Stimme freundlich, und Lena ging es gleich viel besser. „Du hast bestimmt einen weiten Weg hinter dir. – Komm näher, ich tu dir nichts.“

Die Stimme der Frau hatte etwas Beruhigendes, und Lena trat unter das Dach der Veranda. Dort saß eine kleine schmale Frau in einem dunklen Kleid in einem Korbstuhl. Das Kleid ging ihr bis zu den Füßen und war wirklich altmodisch. Auf den Kopf trug die Frau eine Haube, das sah ziemlich komisch aus, aber Lena ließ sich nichts anmerken.

„Ich bin Olivia Clemens“, sagte die Frau freundlich, „und Huck hat euch im Wald aufgelesen?“

Lena nickte, ohne den Mund aufzumachen. Sie war doch etwas eingeschüchtert.

„Meine Mädchen können es kaum abwarten, auf den Jahrmarkt zu kommen. Vielleicht geht ihr zusammen?“

Wieder nickte Lena.

„Ihr seid bestimmt durstig. Wollt ihr etwas trinken?“

„Sie sind sehr freundlich“, sagte Tobias, der meinte, Lena beistehen zu müssen. Er war neben sie getreten.

Die Frau stand auf. „Kommt mit“, sagte sie und ging voraus. Dabei hinkte sie und zog ein Bein hinterher. Lena erschrak, weil sie mit so etwas nicht gerechnet hatte. Es war wie mit Tobias’ Einarmigem: Behinderte waren ihr unheimlich, weil sie nie wusste, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Mama hatte ihr gesagt, sie solle so tun, als sähe sie die Behinderung nicht. Das wollten die so haben. Lena kam das komisch vor.

Die Frau führte sie in eine große Küche. Wie in einer Prozession folgten ihr alle: Lena, Tobias, Cirico Luz, der lange Huck und hintendran die drei Töchter des Hauses.

Nachdem sie sich erfrischt und miteinander bekannt gemacht hatten, wies Olivia Clemens, die Mutter der Mädchen, Huck an, die Besucher zu Mister Clemens zu bringen.

„Ja, Missis Clemens“, sagte Huck gehorsam. Er führte die Truppe aus der Küche und über eine dunkle Diele zu einer Wendeltreppe. „Hier geht ’s zum Ausguck vom Chef“, erklärte er. Tobias und Lena waren bei ihm, während der Feuerwerker mit einigen Schritten Abstand folgte. Er war umgeben von den Mädchen Susy – das war die Älteste –, Clara und der kleinen Jean, die alle drei fasziniert von ihm waren und nur darauf warteten, dass er ihnen ein Kunststück vorführen würde. Noch hatten sie sich nicht getraut, ihn direkt darauf anzusprechen. Und bisher hatte Cirico Luz sich zurückgehalten.

Tobias, der die Geschichte von Huckleberry Finn im Kopf hatte, musste unbedingt eine Frage loswerden, während sie die steile Treppe hinaufstiegen.

„Huck“, sagte er, „wie kommst du in dieses Haus? Woher kennst du den Herrn Clemens?“

„Mister und Missis Clemens ham mich aufgenommen. Bin ’ne Waise. Meine Mutter hab ich nich gekannt, un’ mein Vater war der größte Säufer in Hannibal. Is’ tot, der Alte. Hab mich mit ’n Floß aufm Fluss herumgetrieben. Wusst ja nich, wo ich bleibn sollt. Un’ da hat Mister Clemens mich aufgegabelt, als er noch Lotse war. Bin mit ’n Floß uner sein Dampfer gekommn. Hätt schlimm ausgehn könn. Aber se ham mich rausgefischt. Da hat ich nu ganix mehr. Aber Mister Clemens hat gesag’, ich kann bei ihm wohnen. Ich muss ihm nur meine ganze Geschichte erzählen, alles wo ich erlebt hab, un’ zwar haarklein. Will ’s ganz genau wissen, wie’s gewesen is’. Weil, der Mister Clemens will nämlich ’nen Buch drüber schreiben“, schloss Huck schweratmend, was sowohl vom Treppensteigen wie auch von der langen Rede kommen konnte.

Klar, dachte Tobias. Hätte ich mir denken können. Das Buch wird erst noch geschrieben. Und alles ist wirklich passiert. Huckleberry Finn wird Druckerlehrling. Davon steht nichts in dem Buch.

Von oben erklang Lachen und eine laute Stimme deklamierte mit viel Gefühl:

„Dann wandte Herr Marhaus sein Ross und richtete seine Lanze gegen Herr Gawain. Und da es Herr Gawain sah, deckte er sich mit dem Schild, und sie senkten die Lanzen und prallten mit der großen Wucht der Rosse aufeinander.“

Eine andere Stimme warf nüchtern ein:

„Wie erwartet.“

Die erste Stimme fuhr unbeirrt fort:

„Und jeder der beiden Reiter traf den anderen so heftig auf die Mitte des Schildes, dass Herrn Gawains Lanze brach, und Herr Gawain und sein Ross stürzten zu Boden ...“

Wieder mischte sich die andere Stimme ein:

„Und brachen sich das Genick.“

Die erste Stimme beachtete den Zwischenruf nicht:

„... und eilends erhob sich Herr Gawain, zog sein Schwert aus der Scheide ...“

Die Stimme verstummte. Es wurde still am oberen Ende der Treppe.

„Der Chef schreibt gerade einen Ritterroman“, flüsterte Huck. Leise stieg er weiter die Stufen hinauf, mit allen anderen im Schlepptau.

Am Ende der Treppe lag ein kleiner Gang. Auf der rechten Seite stand eine Tür offen. Sonnenlicht fiel bis in den Gang.

Huck klopfte an den Türrahmen.

„Kommt rein, Jungs, kommt rein!“ rief eine sonore Stimme von innen.

Als Tobias hinter Huck in den Raum trat, wäre er als erstes fast über eine Ritterburg aus Holz gestolpert, die auf dem Fußboden stand. Er konnte sich gerade noch bremsen und vorsichtig darüber hinweg steigen.

„Hoppla, Junge. Lass mir mein Camelot. Das brauch ich noch“, rief der Mann, der am Fenster saß, besorgt. Er hatte sich den Eintretenden zugewandt. Vor ihm auf einem Pult lag ein Stapel Papier mit einer Schreibfeder obendrauf. Zusammengeknüllte Blätter waren um ihn herum auf dem Fußboden verstreut. Vor einem der Fenster stand auf einem Stativ ein langes Fernrohr, das auf den Fluss gerichtet war.

Der Mann, der ihnen lächelnd entgegen sah, war schlank und nicht sehr groß. Er hatte einen markanten Kopf, mit dichtem rotbraunem Haar, und einen Schnurrbart, der ihm bis über die Lippen hing. Unter buschigen Augenbrauen blickten sie blaugraue Augen forschend an.

Außer ihm war niemand im Raum, als sie eintraten.

„War das aus Ihrem Roman?“ fragte Huck ehrfürchtig.

„Das ist wie im Theater“, sagte der Mann, der beide Stimmen gesprochen hatte. „Ich muss die Figuren hören. Erst dann leben sie.“ Er musterte die Schar, die sich in den kleinen Raum drängte. „Holla“, meinte er verblüfft.

„’tschuldigung, Mister Clemens“, beeilte sich Huck und berichtete noch einmal, woher seine drei Begleiter kamen. „Dachte, das int’ressiert sie vielleicht. Aber wenn wir stören, ich mein, wo Sie grad am Schreiben sind ...“

„Ne, ne. Huck, das ist schon in Ordnung. Ich bin immer an guten Geschichten interessiert, das hast du dir ganz richtig gemerkt.“

Der lange Junge trat erleichtert zur Seite.

Herr Clemens ließ seine Augen über die Besucher wandern. Seine drei Töchter waren auf dem Gang stehen geblieben und ließen sich nichts von dem entgehen, was im Arbeitsraum ihres Vaters vor sich ging.

Bei Lena blieb der Blick des ehemaligen Lotsen hängen. Seine Augenbrauen zogen sich zweifelnd zusammen. Dann lächelte er breit.

„Fast hättest du mich erwischt. Du bist ein Mädchen, das sich als Junge verkleidet hat. Stimmt ’s?“

Lena hätte schreien können. Das war keine Verkleidung!

Statt dessen nickte sie stumm.

„Gut, gut“, sagte er eifrig. „Bei mir ist es immer umgekehrt: ich lasse die Jungen sich als Mädchen verkleiden. Nicht wahr, Huck, ist dir gar nicht recht, dass ich darüber schreibe.“

Vom Jungen kam nur halbherziger Protest. Aber der Mann erwartete sowieso keine Antwort. Er sprach schon weiter: „Jetzt probieren wir es anders herum. Komm her“, er stand von seinem Stuhl auf, „setz dich hierher.“ Er gab keine Ruhe, bis Lena, die nicht wusste, wie ihr geschah, auf seinem Platz saß. Alle starrten sie an, das gefiel ihr gar nicht.

„Wir machen ein Experiment“, erklärte Herr Clemens, der sich abgewandt hatte. Er hob etwas vom Boden auf und drehte sich zu Lena. Ohne Vorwarnung warf er ihr einen Ball in den Schoß.

„Huch“, sagte Lena erschrocken und presste die Beine zusammen, um den Ball aufzufangen.

Der Schriftsteller musterte sie stirnrunzelnd. „Seltsam“, meinte er. „Als Mädchen hättest du spontan die Beine auseinander nehmen müssen, um den Ball mit dem Kleid – das du normalerweise anhast – aufzufangen. Du hast wie ein Junge reagiert.“

Lena hätte ihn darüber aufklären können, dass sie nie ein Kleid trug. Aber der Mann schüchterte sie ein und ließ sie keinen Ton hervorbringen.

Herr Clemens legte grübelnd den Finger an die Nase. „Probieren wir etwas anderes. Beantworte mir bitte eine Frage: Wie fädelst du einen Faden ein? Hältst du die Nadel still und zielst mit dem Faden, oder hältst du den Faden still und zielst mit der Nadel?“

Erwartungsvoll sah er sie an. Lena wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber da alle sie anstarrten, musste sie wohl antworten. Es machte ihr Mut, dass sie gesehen hatte, wie Susy bei der Frage ihres Vaters die Augen verdreht und ihr heimlich zugelächelt hatte.

Sie krächzte. „Ich – äh – hab noch nie eingefädelt. Das macht immer Mama.“

„Ach. Hm.“ Der Schriftsteller blickte missmutig. „Da gibt es nämlich einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, sagt man.“ Dann lächelte er sie an. „Ist schon in Ordnung.“

Er wandte sich zu dem Mann im Gauklerkostüm, der bescheiden neben der Tür stehen geblieben war.

„Und Sie, Sir – woher kommen Sie?“

Cirico Luz sah hilfesuchend zu Tobias, der mit den Achseln zuckte.

„Von den Feuerinseln.“

„Hm. Feuerinseln. – Das ist im südlichen Pazifik, wenn ich mich recht erinnere. Eine weite Reise, die Sie hinter sich haben. – Und Ihr Gewerbe?“

(Herr Clemens wirft hier das Feuerland an der Südspitze Südamerikas und die Osterinseln im Pazifischen Ozean zusammen und durcheinander, aber so oder so ist er weit entfernt von der Wahrheit.)

Der Feuerwerker sah ihn verständnislos an.

„Was zeigen Sie so?“ formulierte der Schriftsteller seine Frage neu.

„Ich arbeite mit Feuer.“

„Ah, ja. Feuerschlucken, und so etwas?“

Jetzt war es an Cirico Luz, die Stirn in Falten zu legen. Was der Mann da sagte, kam einer Beleidigung gleich. Man war ein grottenschlechter Feuerwerker, wenn man sein Feuer verschluckte. Das passierte nur Anfängern und Nichtskönnern.

„Eher im Gegenteil“, erwiderte er kühl.

„Na ja, macht ja nichts. Niemand ist perfekt.“

„Was schreiben Sie gerade?“ fragte Tobias, der das Gespräch weglenken wollte vom Feuerwerker. „Vielleicht habe ich schon etwas von Ihnen gelesen“, fügte er kühn hinzu.

Der Schriftsteller lächelte nachsichtig. „Das glaube ich kaum. Und wenn, dann weißt du es nicht.“

Hast du eine Ahnung, dachte Tobias, den es wurmte, wie ihn der Mann von oben herab behandelte. Als wäre er ein dummer Junge.

Huck spürte die sich anbahnende Verstimmung und mischte sich ein: „Mister Clemens schreibt nich unner sein richtigen Namen, kannste ja nich wissen“, erklärte er.

„Man nennt das ein Pseudonym“, sagte der ehemalige Drucker, Mississippi-Lotse, Journalist und angehende Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens, „das kommt aus dem Griechischen und bedeutet, dass man unter einem ...“, er suchte nach einem passenden Wort und wurde fündig: „... Tarnnamen schreibt.“

„Mark Twain“, platzte Tobias heraus.

Samuel Langhorne Clemens sah ihn verblüfft an. „Ich fühle mich geschmeichelt, junger Mann. Du bist belesener, als ich dachte.“ Er zwirbelte an seinem Schnurrbart.

Huck grinste hinter vorgehaltener Hand. Die Runde war an seinen neuen Kumpel gegangen.

„Da!“ Der Hausherr wies aus dem Fenster. „Das Postboot von St. Louis. Ihr solltet euch beeilen. Jetzt geht es bald los.“

„Vater“, kam eine Stimme von der Tür her. Es war Susy, die älteste Tochter, „kommst du mit zum Jahrmarkt?“

„O ja, bitte“, schlossen sich ihre beiden Schwestern an.

Mark Twain hob die Arme. „Gern, Kinder; aber ich habe noch zu tun. Was haltet ihr davon, wenn ihr mit Huck und unseren Gästen vorgeht, und ich komme nach?“ Er wartete die Antwort nicht ab – erwartete wohl auch keine – und wandte sich zu Huck:

„Pass gut auf sie auf. Du weißt, da läuft allerlei Gesindel herum.“

Huck legte sich die Hand aufs Herz. „Großes Ehrenwort, Chef, wie mein’ Augapfel, ehrlich.“

Der Schriftsteller nickte zerstreut. „Herr Gawain und Herr Marhaus? Wie ging der Kampf aus?“ murmelte er.

Die Gesellschaft begann, das Zimmer zu verlassen.

Tobias war schnell an das Fernrohr getreten, um einen Blick auf den Strom und das ankommende Postschiff zu werfen. Als er hindurchblickte, sah er jedoch etwas anderes.

Das Fernrohr war auf die Insel gerichtet, die Huck als Geisterinsel bezeichnet hatte.

Traumtrinker

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