Читать книгу Das Dorf der Frauen - null Y.K.Shali - Страница 4

Kapitel 2

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Als die Türen des Zuges geöffnet wurden, stiegen, entgegen aller Erwartung, nur ein paar Männer aus. Der Lokführer, der aus dem Fenster blickte, sah, dass das freudige Empfangsgetümmel nachgelassen, und die Enttäuschung der Frauen und Kinder anfing, langsam Gestalt anzunehmen. Er zog seine Augenbrauen nach oben, atmete tief ein und seufzte voller Mitleid. Das kleine Mädchen schlang ihre Arme um den Hals ihrer verzweifelten Mutter; besorgt tröstete sie sie, während sie auf die Tränen starrte, welche ihrer Mama langsam die Wange herunterflossen.

»Sei nicht traurig Mama! Papa hat doch genug Dollars geschickt. Bestimmt konnte er keine echte Barbie finden, deswegen ist er auch dieses Jahr nicht zurückgekommen. Vielleicht wollte er wie der Mann der netten Frau, die eben bei uns war, abwarten bis vier Jahre vorbei sind und erst dann zurückkommen. Gehen wir nach Hause Mama! Komm´, lass´ uns gehen!«

Die Mutter des Mädchens sah keinen Sinn mehr darin, weiter auf dem Bahnsteig zu warten. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, warf einen neidvollen, zugleich nachdenklichen Blick auf die deprimiert aussehende Frau, die dabei war, ihren Mann zu umarmen, und bahnte sich mit ihrer Tochter einen Weg durch die Menschenmenge nach Hause.

Andere Frauen, deren Männer nicht zurückgekommen waren, gingen auf die Heimkehrer zu, begrüßten diese herzlich und fragten nach ihren eigenen Ehemännern. Alle Frauen und sogar die meisten der Männer wussten bereits, dass diese herzlichen Begrüßungen und die Nachfragen, trotz aller echten Sorgen und Sehnsüchte, eine Mitteilung, eine Einladung, eine indirekte, höfliche Aufforderung und ein Hinweis darauf waren, von ihnen besucht zu werden. Die anwesenden Männer sollten, mit irgendeiner Ausrede, wie zum Beispiel dem Überbringen einer Nachricht, eines Briefes, oder zumindest einiger beschwichtigender Worte der Abwesenden, den einsamen und männerlosen Damen einen Besuch abstatten. Ein Besuch, der die Monate oder Jahre andauernde Langeweile und Sehnsucht der Frauen zu vertreiben, nein zu verdrängen vermochte.

Der nicht geschminkten, in sich gekehrten und deprimiert aussehenden Frau gelang es endlich, die enttäuschten Frauen loszuwerden, während sie mit einer Hand einen der zwei Koffer ihres Mannes schleppte, und ihn mit der anderen umschlang. Als das Ehepaar auf dem Heimweg das Getümmel, die Begrüßungen und Fragereien der anderen hinter sich gelassen hatte, fragte der grade heimgekehrte Mann unvermittelt:

»Wo ist unser Sohn? Warum ist er nicht mit dir zur Bahnstation gekommen?«

»Ich habe ihn zu Hause gelassen. Allerdings ist er inzwischen ein Mann geworden. Ich habe befürchtet, die Frauen würden ihn in diesem Empfangsgetümmel angraben.«

Verdutzt blieb er stehen und fragte zweifelnd:

»Was?! Angraben?! Mein Kind ist ein Mann geworden?! Vor vier Jahren war er ein kleiner Dreikäsehoch, in drei Tagen wird er erst zwölf Jahre alt …«

»Hier vergeht das Jahr für Männer viel schneller als anderswo, Mäuschen. Hast du nicht bemerkt, was an der Bahnstation los war?«

»Nein. Was war denn da los?«

»Hast du im Ausland nichts über die Frauen hierzulande gehört?«

»Meine Liebe, im Ausland sind wir so beschäftigt, dass wir kaum Zeit haben, uns am Kopf zu kratzen. Täglich müssen wir zehn bis vierzehn Stunden malochen. Bleiben uns einmal ein paar freie Stunden, müssen wir zur Ausländerbehörde oder zu irgendwelchen anderen Ämtern gehen. Ständig von Pontius zu Pilatus wegen einer scheiß kurzfristigen Arbeitserlaubnis oder Aufenthaltsgenehmigung. Das alles für Schmutzarbeiten, die kein Einheimischer, wohlgemerkt für ein Vielfaches unseres Lohnes, erledigen würde. Da bleibt uns gar keine Zeit darüber nachzudenken, was hier mit unseren Frauen los ist. Okay, sehr wahrscheinlich vermissen sie ihre Männer.«

»Etwas mehr als Vermissen. Hier herrscht absoluter Männermangel. Außer den Alten, den Kranken, den Behinderten und den Jungen sind alle Männer entweder in die Hauptstadt oder wie du ins Ausland gegangen. Die Frauen gabeln verzweifelt jeden, der ein kleines Anzeichen von Männlichkeit besitzt, auf.«

»Ach so! Sie gabeln jeden auf! Mein Vater? Wie geht es meinem Vater?«

»Ja, es geht ihm gut! Deine Mutter ist aber sehr sauer, zugleich aber auch besorgt. Sie fürchtet, dass dein Vater unter den nymphomanischen Frauen bald einen Herzinfarkt kriegt.«

»Was?! Mein Vater?! Selbst vor ihm machen sie nicht halt? Du beliebst zu scherzen!«

»Nein. Ich meine es ernst. Wirklich! Glaube es mir!«

»Boah! Was ist denn in diesem verdammten Dorf los? Mein Gott …«

Der heimgekehrte Mann führte seine Hand zum Mund und biss fassungslos auf seinen Zeigefinger. Seine Frau versuchte nun ihn beschwichtigend wieder auf den Boden der Realität zu bringen:

»Ach, zerbreche dir nicht den Kopf darüber, mein Mäuschen! Es ist nichts Schlimmes passiert. Weißt du was? Das Leben ist nicht mehr so schön wie früher! Alle Männer sind weg. Es wird keine Hochzeit mehr im Dorf gefeiert. Die neuen Kleider altern unbenutzt im Kleiderschrank. Du hast keine Lust sie zu tragen, weil dich niemand anguckt und dir Komplemente macht. Du hast nichts zu tun, sitzt zu Hause nur rum und schaust neidvoll im Fernsehen, was für einen Wohlstand, was für ein glückliches Leben andere Menschen führen. So wirst du befallen von tausend Gedanken, Gefühlen, Sorgen und schließlich von der Depression.«

»Nicht zu fassen! Wirklich nicht zu fassen! Damals, als ich noch hier war, hatten wir nicht genug Brot zu essen, geschweige denn einen Farbfernseher oder Kühlschrank. Nun, wo man vieles hat …«

»Nun gibt es den Dollar und die Welt hat sich sehr verändert, mein Mäuschen! Du bist im Ausland und weißt das selbst besser als ich …«

Der verdutzte Mann erwiderte wütend:

»Was weiß ich denn besser? Hast du nicht gehört, was ich eben gesagt habe? Im Ausland geh´ ich bloß auf dem Zahnfleisch und führe ein Hundeleben! Wo bleibt mir Zeit, zu merken, was in der Welt los ist? Übrigens meinst du, dass ich dort wirklich lebe? Wohlstand?! Glücklich sein? Man versucht dort sogar in der Mülltonne zu schlafen, um keine Miete zu zahlen. Ich versuche auf diese Weise die Kosten so gering wie möglich zu halten, um so einige Dollars zu sparen und diese nach Hause zu schicken.«

Die Frau streichelte ihrem Mann über das Gesicht und sprach liebevoll:

»Danke schön, mein Mäuschen! Du bist mein Held. Ich liebe deine schöne Nase … Du opferst dich wirklich für uns. Aber, aber … Weißt du, Dollars können einer Frau ihren Mann nicht ersetzen.«

»Ach, vergiss´ es!...«

Erregt durch die Liebkosungen seiner Frau, stellte der Mann seinen Koffer auf dem Boden ab, zog sie zu sich heran, und während er ihre Lippen voller Begehren küsste, steckte er seine Hand in ihre Bluse und streichelte ihre Brust. Obwohl seine Frau große Lust auf das Streicheln und auf einen Beischlaf mit ihm hatte, trennte sie sich von ihm und sagte vielversprechend:

»Warte noch ein paar Minuten, Mäuschen! Gleich sind wir zu Hause. Komm´ schneller! Wir haben nicht viel Zeit! In ein paar Stunden, bis zum Ende deines Urlaubs, sollst du, wie die anderen Männer, zu jeder einzelnen unserer Nachbarinnen gehen und sie beglücken! Sonst geschieht mir das gleiche Unglück, was deiner Schwester widerfahren ist.«

»Was?! Ich soll zu den Nachbarinnen gehen?! Was für ein Unglück? Ist meiner Schwester etwas Schlimmes passiert?«

»Nein. Nicht wirklich etwas Schlimmes, mein Mäuschen. Sie hat bloß letztes Jahr ihren Mann, als er wieder zurückgekehrt war, zu Hause eingesperrt, das Bedürfnis anderer Frauen ignoriert und nicht zugelassen, dass sie auch etwas von ihm abkriegten. Daraufhin wurden die Nachbarinnen wütend, stürmten gemeinsam ihr Haus, erbarmungslos prügelten sie auf sie ein, bis es nicht mehr ging, dann fesselten sie ihre Hände und Füße, stopften ihr ein Tuch in den Mund, ließen sie in der Ecke liegen und gingen, eine nach der anderen, vor ihren Augen, mit ihrem Mann ins Bett. Komm´ schnell, mein Mäuschen! Wir dürfen unsere kostbare Zeit nicht hier auf der Straße verschwenden!«

Die vordere Seite der Hose des Mannes war unterhalb des Gürtels geschwollen. Er versuchte, seine durch das Berühren der Brust seiner Frau entstandene Erregung zu unterdrücken, richtete seinen Rucksack auf, nahm den Koffer und begab sich wieder auf dem Weg nach Hause, während er schimpfte:

»Verdammtes Ausland! Verdammte Dollars! Nur noch ein paar Jahre müssen wir durchhalten. Sobald es uns finanziell etwas besser geht, kein Ausland mehr! Auf keinen Fall! Das schwöre ich dir!«

Da verlor seine Frau die Geduld und das Verständnis, brach in Tränen aus und erwiderte:

»Was? Du willst diesmal auch wieder alleine ins Ausland gehen? Da vertust du dich aber mein Lieber! Wir kommen auf jeden Fall mit!«

»Blödsinn! Ihr kommt mit?! Das Ausland ist doch nicht der Ort, wo Milch und Honig fließen! So einfach kann man nicht dorthin. Sie haben ihre eisernen Mauern und Regeln. Ihre Tore sind vollkommen dicht. Überall, an den Grenzen, am Flughafen, im Flugzeug, im Bus, in der Bahn, im Zug, in den Häfen, Bahnhöfen, auf den Straßen und in den Geschäften, ja selbst auf den Toiletten, sind Kameras installiert. Jede Bewegung wird beobachtet. Keine Mücke oder Fliege kann ohne Visum da landen. Wie soll ich denn, bitte schön, für euch ein Visum beschaffen? Durch jede Menge Bestechungsgeld an unsere Beamten und an die Leute, die gute Kontakte zu den ausländischen Botschaften haben, durch Tricks, Erniedrigungen und jede Menge Quälerei habe ich es geschafft mir eins zu besorgen. Ein Visum, wodurch ich nur als Tagelöhner oder Schwarzarbeiter für wenig Geld drei Monate auf dem Friedhof, sechs Monate im Leichenhaus, zwei Monate in der Müllverbrennungsanlage, ein paar Monate beim Straßenbau, mal hier oder da in den Küchen einiger Restaurants und so weiter und sofort, malochen darf, ohne Krankenversicherung und ohne jegliche weiteren Rechte, die einem einheimischen Angestellten normalerweise zustehen. Das ist noch nicht alles; jeder Penner auf der Straße, der mich sieht, sagt zu mir: Scheiß Ausländer!«

Seiner Frau wurde plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte bis jetzt nur ein schönes Bild vom Ausland vor Augen gehabt. Verzweifelt putzte sie sich die Nase und fragte verheult:

»Aber in den Filmen sieht das Leben im Ausland doch immer so schön aus?!«

»Ja, das scheiß Ausland ist eigentlich im Vergleich zu unserem Land sehr schön. Aber nur für die Ausländer, nein, ich meine natürlich nicht für „die Ausländer“, wir sind da ja die scheiß Ausländer. Ich meine nur für die Leute, die da geboren sind und zu dem Land gehören. Die Menschen leben dort in Frieden miteinander. Jeder darf das tun und lassen, was er will. Sie können dort sogar ihren Präsidenten selbst wählen, und zwar jeweils nur für ein paar Jahre. Sie haben verschiedene Parteien! Alle zusammen bilden den Staat. Der Staat steht da auf der Seite seiner eigenen Bürger und muss ihnen dienen. Man darf ihn kritisieren, ja ihn sogar beschimpfen, es geschieht einem dadurch nichts. Nicht wie hier, wo einer sich lebenslang zum Führer, zum Präsidenten oder zum Dingsbums erklärt, dem und dessen Gefolge wir dann zu dienen und zu ehren verpflichtet sind.«

»Na, siehst du, das Leben im Ausland ist doch schöner als hier!«

»Ach, du verstehst mich nicht. Ausland ist nicht Ausland! Es gibt viele Länder. Die Ausländer sind auch nicht immer Ausländer. Wir sind hier in unserem Land keine Ausländer, aber im Ausland schon. Wir sind da Fremde. Fremde. Verstehst du das? Genauso wie hier bei uns die Touristen für uns die Fremden sind, mit ihren komischen Lebensgewohnheiten, sind wir da auch Fremde. Aber Fremde, die da schwarz oder für wenig Geld arbeiten. Das heißt, wir geben da kein Geld aus, sondern verdienen dort Geld und bringen es dann in unser Land. Kurz, klipp und klar gesagt, wir klauen da den Menschen ihre Arbeit, deswegen mögen sie uns nicht. Würdest du einen Fremden mögen, der dir und deiner Familie das Brot vor dem Mund wegschnappt?«

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr war nun klar geworden, wie prekär die Lebenslage ihres Mannes im Ausland war. Nach kurzem Schweigen fragte sie ihn auf dem weiteren Heimweg:

»Heißt das, dass du wirklich nicht mehr im Ausland arbeiten gehen willst?«

»Das wünsche ich mir vom Herzen! Glaube mir!«

»Quatsch. Auf keinen Fall. Du wirst hier, wie schon deine Mutter sagt, unter den nymphomanischen Frauen einen Herzinfarkt kriegen. Wenn du es nicht schaffst, mich mitzunehmen, ist das nicht so schlimm. Du musst aber auf jeden Fall unseren Sohn aus dem Lande schaffen. Sein Leben ist hier nicht mehr sicher. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Jungs, die von gierigen Frauen erwischt werden, nach einer Weile aussehen. Sie werden nicht richtig groß, ihre Rücken werden krumm, ihre Gesichter sind voll von Falten wie bei alten Männern, und sie seufzen stets, dass ihnen der linke Unterbauch wehtut. Was soll ich dir erzählen? Du hast noch keinen von ihnen gesehen. Sie sehen aus wie ein Skelett. Ich schwöre bei Gott, unser Sohn wird blitzschnell weggeschnappt, falls wir nichts dagegen unternehmen. Oh Gott! Ich mache mir solche Sorgen um ihn. Lauf´ schneller! Er ist alleine zu Hause … Komm´ schon Mäuschen!«

Während der heimgekehrte Mann größere Schritte nahm, fragte er seine Frau misstrauisch:

»Sag´ mal, in den letzten vier Jahren, als ich nicht hier war, hast du auch wie die anderen Frauen …«

Seine Frau, die ihn schon verstanden hatte, unterbrach ihn und antwortete:

»Nein! Ich schwöre bei Gott, dass ich mich nicht mit anderen Männern eingelassen habe! Die ganze Zeit musste ich auf unseren Sohn achtgeben, damit er nicht aufgegabelt wird.«

Der verdutzte Mann murmelte vor sich hin:

»Unglaublich! Man kann diese Welt einfach nicht verstehen! Im Ausland gibt es Geld, aber keine Frauen, und wenn es eine gibt, will sie für „fünf Minuten“ dein ganzes Vermögen. Hier dagegen …«

Kurz vor ihrem Haus, das die Frau schon von Weitem mit Sorge beobachtet hatte, bleib sie erschrocken stehen, ließ abrupt den Koffer fallen und ihren Mann unvermittelt auf der Straße allein. Während sie eilig auf die offen stehende Türe zu lief, schrie sie aufgebracht:

»Die Haustür hatte ich von außen abgeschlossen. Oh Gott, mein Kind?!...«

Weinend und dabei laut den Namen ihres Sohnes rufend, durchsuchte sie das ganze Haus samt allen Ecken. Paralysiert von so vielen bizarren Nachrichten, vom Verschwinden seines Sohnes sowie von dem Geschrei seiner Frau, blieb der besorgte Vater erst eine Weile regungslos stehen, dann begab er sich wortlos überall im Haus an die Orte, an denen der Junge sich eventuell versteckt haben könnte. Nirgendwo war aber auch nur eine Spur von ihm zu sehen. Nach langer Zeit vergeblichen Suchens ging er schließlich in eine Abstellkammer, in der er früher seine wichtigen Werkzeuge deponiert hatte. Er kramte da hastig herum, nahm ein Päckchen in die Hand und öffnete es vorsichtig. Eine alte Pistole glänzte vor seinen Augen. Sein linker Nasenflügel begann vor lauter Nervosität pausenlos zu zucken. Kurz darauf, ohne genau über seine Tat nachzudenken, eilte er zur Haustüre. Als er die Gasse betrat, hob er seine Pistole hoch, schoss einmal in die Luft und brüllte drohend:

»Ihr Schlampen, gebt mir meinen Sohn zurück, sonst wird hier Blut fließen!...«

Das Dorf der Frauen

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