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2. Kapitel
Dienstag, 6 Tage zuvor

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Die Schulklingel erlöste Anne von „Faust” und ihrer letzten Stunde. Seit sechs Wochen beschäftigten sie sich mit Goethes Werk, hatten es bis ins kleinste Detail seziert und analysiert, und sie schwor, dieses Buch in ihrem ganzen Leben nie wieder auch nur eines Blickes zu würdigen.

Anne fühlte sich ausgelaugt, ihr dröhnte der Kopf und sie sehnte sich danach, endlich an die frische Luft zu kommen.

Eilig lief sie den Flur zum Westflügel entlang, folgte der Treppe zur unteren Halle, deren Ausgang von Maike blockiert wurde, die dort mitten in der Tür stand.

Die Mädchen waren sich bisher sorgsam aus dem Weg gegangen, und Anne war unschlüssig, wie sie auf dieses überraschende Aufeinandertreffen reagieren sollte. Immerhin hatte sie nicht den Eindruck, dass Maike erneut Streit suchte, die hatte beide Hände tief in den Taschen ihrer Jeans vergraben, und während ihr die Worte zaghaft über die Lippen kamen, starrte sie schüchtern auf Annes Fußspitzen.

„Du hast heute überhaupt noch nicht mit mir gesprochen.”

„Du hättest ja auch was sagen können!”

Anne blieb stur.

„Ja, ich weiß, war voll blöd! Ich war gestern nur so wütend! Tut mir echt leid.”

Nervös schabte Maikes Fuß über den Boden.

„Bist du noch sauer auf mich?”

Anne schüttelte verwundert den Kopf.

„Und ich dachte den ganzen Tag, du wärst sauer auf MICH!”

Da breitete Maike die Arme aus, umschlang ihre Freundin und beide lachten lauthals über ihre Dummheit. Sie wurden sich schnell einig, nie wieder wegen so einer Lappalie zu streiten.

Scherzhaft schimpften sie sich gegenseitig eine „Blöde Kuh“ und gelobten ewigen Zusammenhalt.

Jetzt galt es den verlorenen Tag nachzuholen und die neuesten Geschehnisse auszutauschen, als Sophie Pape, aufgeregt und hektisch winkend auf sie zustürzte.

„Endlich, hier seid ihr also! Ich soll allen Bescheid geben, dass Theater gleich anfängt! In zehn Minuten! Am besten ihr geht schon rüber! Habt ihr Isabel und Steffi irgendwo gesehen?”

Ohne eine Antwort abzuwarten, jagte sie die Treppe zum ersten Stock hinauf. Maike verdrehte genervt die Augen.

„Meine Güte macht die sich wieder wichtig!“

Ja, wenn Sophie eine Aufgabe übernahm, übertrieb sie ganz gern mal, in ihrem Übereifer wurden selbst die harmlosesten Mitteilungen plötzlich überlebenswichtig.

Seelenruhig marschierten Maike und Anne noch zur Cafeteria, weshalb sie als Letzte im Probenraum der Theatergruppe eintrafen. Während Maike genüsslich an ihrem Schokoriegel kaute, bedachte Sophie sie mit vorwurfsvollem Blick und klopfte demonstrativ auf das Glas ihrer Armbanduhr.

„Die geht mir vielleicht auf die Nerven!“, nuschelte Maike undeutlich und mit vollem Mund.

Olaf Friggen, Deutsch- und Geschichtslehrer, leitete in diesem Jahr den Kurs, und er war mit Abstand der netteste und geduldigste Lehrer, den Anne sich vorstellen konnte.

Er setzte sich auf die Requisitentruhe und bat um Ruhe.

„So, ihr wisst, in sechs Wochen ist unser Auftritt, es bleibt also wenig Zeit! Heute werden wir deshalb die Rollenverteilung vornehmen. Die Kunst AG gestaltet, wie vereinbart, das Bühnenbild, um die Musik, Sound und Lichteffekte kümmert sich Frau Rösens Gruppe, mit den Jungs der Schulband ...”

Ein Stöhnen ging durch die Reihen seiner Zuhörer.

„Beruhigt euch!“, lachte Friggen. „Ich habe mir die Proben angehört und verspreche euch, die machen das wirklich gut!“

Er klatschte munter in die Hände.

„So, und nun zu uns!”

Gespannt warteten die Schüler auf seine nächsten Worte.

„Wie besprochen, wird es eine moderne, zeitgemäße Fassung. Es war eine echte Herausforderung, den Text so umzuarbeiten, dass er unseren Vorstellungen entspricht. Der Handlungsablauf ist im Wesentlichen am Original geblieben, wenn auch stark gekürzt, doch die neuen Dialoge haben das Stück aktuell ins zwanzigste Jahrhundert katapultiert. Moderner geht es kaum.”

Sichtlich stolz holte er einen ganzen Stapel gebundener Papiere hinter seinem Sitzplatz hervor.

„Ich finde, es ist wirklich fantastisch geworden!”

Schmunzelnd gab Herr Friggen seinen Schülern die Möglichkeit, die neue Textversion zu begutachten, und wartete geduldig auf die ersten Reaktionen.

Anne überflog die Seiten des Skriptes, die Dialoge prägten sich gut ein und waren sogar total witzig geschrieben. Sie überlegte, was der alte Shakespeare wohl davon halten würde, doch ihr gefiel, was sie las, und nach den Kommentaren, die sie gerade nebenbei mitbekam, allen anderen auch.

Irgendwie war sie jetzt erleichtert. Traditionell wurde die Aufführung von allen neunten Jahrgängen in Zusammenarbeit mit fast jeder Arbeitsgemeinschaft der Schule bestritten und diente als festlicher Rahmen zum ehrenvollen Abschied der zehnten Klassen. Herr Friggen hatte lange ein großes Geheimnis um diese Aufführung gemacht. Als ihr Leiter es endlich lüftete und seine Gruppe davon in Kenntnis setzte, die Tragödie von Romeo und Julia auf die Bühne zu bringen, erntete er wenig Begeisterung. Auf diese alte Liebesschnulze verspürte kaum jemand Lust, aber als der Lehrer ihnen seine Vorschläge präsentierte, waren sie sofort Feuer und Flamme.

Lediglich Anne hatte ihren ganz eigenen Grund, sich dieser AG anzuschließen, und der hieß Jan. Für den Jungen aus Maikes Klasse schwärmte sie schon länger heimlich, aber heute suchte sie ihn vergeblich. Leise stupste sie ihren Nachbarn an.

„Wo ist eigentlich Jan?“

„Der ist beim Zahnarzt“, gab der schadenfroh Auskunft.

Sophie, die vor ihnen saß, hatte die Ohren gespitzt.

Unaufgefordert schnappte sie sich ein weiteres Manuskript verkünden eilig, es dem Jan persönlich zu überbringen.

„Na, der wird sich aber freuen!“, bemerkte Maike zynisch, während Anne dem Mädchen finster auf den Hinterkopf starrte. Insgeheim ärgerte es sie gewaltig.

„Kommen wir jetzt zur Rollenverteilung!“

Aufmerksam blickte der Leiter in die aufgeregten Gesichter seiner Schützlinge.

„Ich habe lange nachgedacht, wer den jeweiligen Charakter am besten wiedergeben könnte. Ihr habt in den letzten Wochen viel dazugelernt und gezeigt, was in euch steckt. Nun habe ich folgende Vorschläge und bin gespannt, was ihr dazu sagt.”

Er nahm einen handbeschriebenen Zettel und begann mit feierlicher Stimme von diesem abzulesen.

„Den Benvolio sollte Maike spielen, bei Romeo hatte ich an Jan gedacht, seine Eltern Jasmin und Torben, die Capulets Sophie und Chris, bei Tybalt dachte ich an Tobias, an der Julia sollte sich Anne versuchen, für Pater Lorenzo halte ich Oliver für am besten besetzt ...”

Nachdem ihr Name gefallen war, hatte Anne bereits nicht mehr zugehört. Die Hauptrolle! Damit hätte sie nie gerechnet!

Im ersten Moment wollte sie sofort aufbegehren und ablehnen, bis ihr bewusst wurde wem der Romeo zugedacht war.

Dem unheimlich süßen Jan! Und sie, Anne, könnte seine Julia sein! Wann würde sie noch einmal so eine Chance kriegen?

Langsam drang Maikes Stimme an ihr Ohr, vermutlich redete diese schon eine ganze Weile auf sie ein.

„Anne, das musst du einfach versuchen. Bitte! Tu‘s für mich! Du wirst eine wunderbare Julia sein, bitte, du kannst das!“

Auffordernd stieß Maike sie an.

„Ist ja gut! Vielleicht mach ich‘s ja wirklich.“

Annes Herz raste vor Glück.

Herr Friggen schloss soeben die Stunde.

„Wie gesagt, jeder kann erst mal ausprobieren, ob ihm seine Rolle liegt. Dann sehen wir uns am Donnerstag wieder.“

Zwei Tage bis Donnerstag, Anne konnte es kaum erwarten.

***

Für Silke Imhoff war dies ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, wie immer saß sie verborgen hinter dem hohen halbrunden Tresen an der Buchhaltung und einem Berg von Abrechnungen. Der Empfangsraum der Anwaltskanzlei war großzügig gestaltet, es gab einen Kaffeeautomaten und eine Sitzecke für die wartenden Mandanten, mit zwei Ledersesseln und einem kleinen Glastisch. An den Wänden setzten Halogenleuchten die surrealen Drucke bekannter Künstler gekonnt in Szene, und ein riesiges Blumenbukett, das eigens jeden Montagmorgen angeliefert wurde, zierte ein kleines antikes Cabinet.

Bei ihrer Anstellung vor fast dreizehn Jahren hatte Silke noch ihr eigenes kleines Bürozimmer, mit ihrem Namenszug an der Tür. Sie war zwar kein Volljurist, aber sie hatte den Magister Juris an der Hochschule erworben und durfte in juristischen Angelegenheiten beraten.

Jetzt bekam sie keine eigenen Klienten mehr, und ihr Büro bestand nur noch aus diesem Schreibtisch im Vorzimmer.

Silke grübelte oft, wie es dazu hatte kommen können.

Lag es tatsächlich daran, dass sie die einzige weibliche Person in dieser Kanzlei war? Sie hegte schon lange den Verdacht, dass man sie deshalb benachteiligte. Rechtsberufe waren nach wie vor eine Männerdomäne. Das wurde zwar öffentlich bestritten, doch es reichte schon, sich genau anzuschauen, wie wenige Frauen tatsächlich im höheren Justizdienst oder als Amtsanwälte und Rechtspfleger arbeiteten. Waren ihre männlichen Kollegen, frisch von der Uni, vielleicht kompetenter? Jedenfalls beherrschten sie ihre Selbstdarstellung in Perfektion.

Selbstsicher und jung, dynamisch! War sie ihrem Chef zu alt?

Die Beschneidung ihrer Befugnisse hatte schleichend und unbemerkt begonnen. Die damalige Sekretärin der Kanzlei stand kurz vor dem Ruhestand und hatte dank einer ständig neuen Krankschreibung oder Kur viel zu oft durch Abwesenheit geglänzt. In diesen Zeiträumen übernahm Silke notgedrungen deren Aufgabenbereich wie Terminvereinbarungen und Aktenführung. Doch irgendwann hatte sie wohl den Absprung verpasst, und für alle wurde es selbstverständlich, dass sie Schriftsätze und Rechnungen erstellte. Bei einem klärenden Gespräch hatte ihr Chef unmissverständlich klargemacht, dass sie sich gerne neu orientieren könne, falls sie mit den ihr zugewiesenen Arbeiten nicht einverstanden wäre, er es aber natürlich sehr bedauern würde, auf ihre gute Mitarbeit zu verzichten. Nach dieser unverblümten Drohung gab Silke sich vorerst geschlagen, gleichwohl in der Hoffnung, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde und ihre Leistungen nach gegebener Zeit die entsprechende Würdigung fänden.

Heute konnte sie ihre eigene Naivität nur belächeln.

Schon lange schwelten Frust und Unzufriedenheit in ihrer Brust wie ein hässliches Geschwür, das mit jedem Tag ein bisschen größer und unerträglicher wurde.

An ihrem Arbeitsplatz bemühte sie sich, ein zuvorkommendes und freundliches Wesen zu zeigen, aber kaum dass sie am späten Nachmittag die Bürotür schloss, vermochte sie diese Fassade nicht länger aufrechtzuerhalten. Wenn sie nach Hause kam, war sie oft übelgelaunt, erschöpft und äußerst reizbar. Sie wusste nur zu gut, dass sie die eigene Frustration an ihrer Familie ausließ. Der jahrelange Kampf um Anerkennung forderte seinen Tribut, ihr Nervenkostüm war dünn geworden.

Sollte es so weitergehen, würde die aufgestaute Wut und Verbitterung sie unweigerlich zerfressen.

Es wurde Zeit, eine klare Entscheidung zu treffen und diesen unbefriedigenden Zustand zu beenden. Sie brauchte neue Herausforderungen, eine Arbeit, die sie wieder ausfüllte.

Das Leben bot immer vielfältige Möglichkeiten und Chancen, sie musste nur den Mut aufbringen, diese auch wahrzunehmen.

Ihr Chef hatte recht, sie sollte sich neu orientieren!

Sie hatte gute Kontakte zu anderen Kanzleien. Warum sollte sie diese nicht zu ihrem eigenen Vorteil nutzen?

Die letzte Klientin betrat den Empfang und erkannte Silke auf Anhieb. Kathrin Bösch, ganz aus dem Häuschen, ihre ehe-

malige Klassenkameradin hier anzutreffen, sprudelte vor Redseligkeit fast über, sodass ihr völlig entging, wie überaus reserviert sich Silke verhielt. Die hatte auch nach all den Jahren nicht vergessen, wie gemein und geringschätzig sie früher in der Schule von den anderen Kindern behandelt worden war.

Nur weil sie anders war!

Dabei hatten ihre Mitschüler nur das weitergeplappert, was sie im eigenen Elternhaus aufgeschnappt hatten.

Seitdem verachtete und fürchtete Silke nichts mehr als Gerede. Fast schon paranoid mied sie alle Dorffeste, den Einheimischen ging sie sorgsam aus dem Weg, und selbst ihren Einkauf erledigte sie in der Stadt.

Nie wieder würde sie sich zum Gespött der Leute machen!

An jedem anderen Ort hätte sie Kathrin schnell abgewimmelt, aber hier war sie ihr vorläufig ausgeliefert.

Wo blieb der Rahmann eigentlich, um die Nervensäge endlich in sein Büro zu bitten?

„Lass uns doch mal was zusammen machen”, flötete Kathrin

gerade, was Silke äußerst geschmacklos fand.

Wie sie diese falsche Freundlichkeit hasste!

Was sollte das ganze Theater überhaupt?

Demonstrativ beschäftigt blätterte Silke in einer Akte. Kathrin ließ sich davon nicht stören und plauderte munter weiter.

„Wird deine Mutter denn nun zu dir ziehen?“

Verblüfft schaute sie auf. Wie kam sie bloß darauf?

„Na, irgendwo muss sie ja nun wohnen. Oder behält sie das Haus? Kommt sie denn überhaupt noch alleine klar?“, fragte die Bösch neugierig. „Also ich weiß ja noch, wie das bei meinem Onkel war, pflegebedürftig, aber stur wie ein alter Esel. Wollte partout nicht ins Altersheim, hat gesagt, jeder, der versucht, ihn dahin abzuschieben, wird enterbt!“ , kichernd fügte sie hinzu: „Er hat seinen Dickkopf durchgesetzt!“

Silke verstand gar nichts von alledem. Was redete die da nur? Kathrin fuhr unbeirrt fort.

„Respekt, dass deine Mutter überhaupt so lange den Hof bewirtschaftet hat. Sie muss doch inzwischen fast an die siebzig sein? Man weiß ja nie, wie viele Jahre einem noch bleiben. An wen verkauft deine Mutter eigentlich? Ich habe gehört, die Köpkes wollen das Grundstück haben?“

„Wo hast du das gehört?”, fragte Silke scharf.

Erschrocken sah sie in Silkes verkniffenes Gesicht.

„Sag mal, weißt du etwa noch gar nichts davon?“

Welche Demütigung! Heiß überzog die Röte ihr Gesicht.

„Silke, ich konnte doch nicht ahnen. Ich dachte ...“

Pikiert hievte sich Kathrin aus dem schweren Ledersessel hoch, während Silke sichtlich um Fassung rang.

Der Rahmann stand plötzlich neben ihnen und bat Frau Bösch in sein Büro, die peinlichst berührt und dankbar entschwand. Bestürzt überlegte Silke, wie lange der Kollege wohl dem Gespräch gelauscht hatte, als der ihr süffisant ins Gesicht grinste und sie im Befehlston anwies, ihm und seiner Mandantin frischen Kaffee und Gebäck zu bringen.

Perplex, starrte sie auf die geschlossene Tür.

Die Empörung brachte sie schnell zur Besinnung. Wie konnte er es wagen, sie so herablassend zu behandeln? Als wäre sie seine persönliche Sekretärin! Was bildete sich dieser geschniegelte Affe eigentlich ein? Der arbeitete gerade mal ein paar Wochen in der Kanzlei und benahm sich wie der neue King, dabei hatte er auch nur das erste Staatsexamen, dieser eingebildete Gockel!

Sollte er sich doch selber um seinen Kaffee kümmern.

Morgen würde sie mit dem Rahmann noch ein Hühnchen rupfen, aber jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun.

Hastig räumte sie ihren Schreibtisch auf, griff nach dem Autoschlüssel und verließ mit eiligen Schritten die Kanzlei. Die schwere Tür fiel dröhnend ins Schloss, als Silke bereits zu ihrem Wagen eilte. Feindselig starrte sie zu dem neben ihr geparkten schwarzen Sportwagen und unterdrückte den starken, aber kindischen Wunsch, mit ihrem Schlüsselbund einen fetten Kratzer in die Seitentür zu ritzen.

Genüsslich stellte sie sich vor, was für Augen der Rahmann angesichts dieser schändlichen Entweihung seiner geliebten Protzkarre wohl machen würde!

Bevor sie noch in Versuchung kam, knallte sie schnell die Fahrertür zu, startete den Motor und brauste mit ihrem alten Mercedes davon.

***

Ungeduldig blickte Charlotte aus dem Fenster. Seit Stunden wartete sie auf den Käufer und ärgerte sich über die verlorene Zeit. Sie hatte wirklich Besseres zu tun!

Pavel hatte längst mit der Wartung der Wasserpumpen begonnen. In der Nacht war die Beregnung ausgefallen, weil sich die Filter wieder mit Wasserpflanzen aus den Wettern zugesetzt hatten. Sie sollte dort draußen sein und Pavel helfen, die Arbeit machte sich schließlich nicht von allein. Marek und Georg waren in aller Früh zum Gemeinschaftslager gefahren, um Charlottes vorjährige Ernte zu sortieren, die in den Kühlhäusern der Firma Elbe Obst lagerten. Es wurde höchste Zeit, das letzte Obst an den Großhändler zu liefern, bevor es verdarb. Seufzend blickte sie zur Uhr.

Warum rief der Kerl nicht wenigstens an, wenn er sich schon verspätete? Entweder konnte er den Hof nicht finden oder er steckte im Stau.

Sobald die Baumblüte beginnt, wälzen sich wahre Touristenströme durch das Alte Land. Die Straßen werden durch unzählige Reisebusse und Autos verstopft, die dann mit vierzig Stundenkilometern über die Landstraßen zuckeln. Gerade während des Feierabendverkehrs und an den Wochenenden ist dieser Zustand kaum ertragbar und eine echte Geduldsprobe, so kommt es durch riskante Überholmanöver immer wieder zu schweren Unfällen. Für viele Bauern stellt dieser Fremdenverkehr einen Segen dar, und sie haben sich früh auf die Ausflügler eingestellt. In den Cafés gibt es Drängeleien um die besten Sitzplätze, und der Absatz von Obst und Gemüse steigt. Es ist hier auf dem Land üblich, die Waren auch auf den Höfen zu verkaufen. Die Städter sind geradezu verrückt nach eingekochten Marmeladen und hochprozentigen Obstbränden. Wer ein Gespür für gute Geschäfte und entsprechende Mittel zur Verfügung hat, baut den Verkaufsstand der Scheune zum Hofladen aus, wo man neben selbstgemachten Torten auch Altländer Kochbücher, Weidenkörbe und allerlei Nippes erwerben kann. Selbst die Patenschaft für einen Obstbaum kann man kaufen.

Charlotte blieb diese Einnahmequelle verwehrt, dafür lag ihr Hof zu abgelegen. Es war ihr nur recht, dass sich die Blüte dem Ende näherte und nun wieder etwas mehr Ruhe einkehrte.

Von ihrem Käufer fehlte jede Spur, doch Anne brauste statt seiner die Einfahrt herauf und winkte fröhlich ins Fenster. Die alte Dame freute sich über ihren Besuch.

Neugierig steckte Anne ihre Nase in den Kochtopf, dem der verlockende Duft von Frikadellen entstieg. Zufrieden sah Charlotte zu, wie das Mädchen sich ihr Essen schmecken ließ. Zwischen den Bissen erzählte ihr Anne aufgeregt vom Theaterstück, sie war sehr stolz über ihre Hauptrolle, und Charlotte freute es aufrichtig.

„Wenn du Lust dazu hast, kann ich deinen Text abfragen.“ „Das wär echt super. Glaubst du, ich schaff das?“ „Warum denn nicht? Man kann alles schaffen, wenn man will! Und wenn ich dir so zuhöre, willst du es ja wohl unbedingt!“

Anne strahlte über das ganze Gesicht und berichtete gleich, warum sie am gestrigen Tag nicht hatte kommen können. Charlotte schmunzelte: „So, so. Er hat also dein Fahrrad repariert, ganz selbstlos. Und ist er süß?“

„Ich kenn ihn ja gar nicht richtig, doch ich finde, er ist ganz nett. Aber süß? Mmh. Weiß nich!“ „Na, vielleicht findest du das noch heraus.“ Als es an der Tür klingelte, sprang Charlotte sofort auf.

„Ha. Das wird er sein. Anne, drück mir die Daumen, dass ich den Fendt heute verkauft kriege.“ Zum Abschied bekam Charlotte einen Kuss auf die Wange gehaucht, und schon fegte Anne hinaus, stürzte an dem Wartenden vorbei, der erschrocken zur Seite sprang.

„Meine Enkelin“, erklärte Charlotte ohne weitere Begrüßung.

„Sie kommen wegen des Traktors?“ „Albert Schneider aus Schleswig, wir hatten telefoniert.“

Charlie hatte die Annonce für den Fendt erst letzte Woche in die Zeitung gesetzt und war überrascht gewesen, dass sich sofort jemand auf die Anzeige meldete.

„Ich habe Sie mittags erwartet, gab's Probleme?“ „Kann man so sagen. Von einem Stau zum nächsten, und überall wird gebaut. Für die letzten zwanzig Kilometer hab ich fast eine Stunde gebraucht. Ganz schön viel Verkehr bei euch!“ „Leider!“

Verdammte Touristen, dachte Charlotte.

„Da geht`s lang!“

Sie wies zum Schuppen hinüber, in dem es etwas wüst aussah, da hier nicht nur die Maschinen standen, die oft benötigt wurden, sondern auch diverse Ersatzteile, Werkzeuge und Wasserschläuche lagerten. Schneider schien es nicht zu stören, er hatte nur Augen für den Traktor. Mit prüfendem Blick ging er um das Gefährt herum, beklopfte die Reifen, legte sich unter den Schlepper und besah sich die Achsen. Danach startete er den Trecker, überprüfte die Hydraulik, fuhr eine Runde auf dem Hof und ließ ihn laufen.

Pavel kam über den Hof marschiert, Charlotte schickte ihn per Handzeichen fort, allerdings machte ihr Vorarbeiter keine Anstalten zu verschwinden. Breit grinsend lehnte er sich an die Holzwand, um das Schauspiel zu genießen. Er war weit genug entfernt, sie nicht zu stören, aber in Hörweite, dass ihm auch ja kein Wort entging. Sichtlich zufrieden beendete Schneider seine Inspektion, nickte selbstvergessen mit dem Kopf und machte sein Angebot.

„Soweit ich das sehen kann, scheint alles in Ordnung zu sein, ich gebe Ihnen dreitausend dafür.“ Lächelnd sah Charlotte ihn an. Versuchte er sie doch glatt übers Ohr zu hauen. Na, der wird sich gleich wundern.

„Das gute alte Dieselross hier hat 20 PS, Heckhydraulik, Ackerschiene und Zapfwelle. Der Fendt läuft sauber im Einzylinder, es gibt keinerlei Probleme mit dem Getriebe, das schaltet einwandfrei. Ein wirklich zuverlässiger Schlepper. Bisher hat er mich noch nie im Stich gelassen, egal ob Sommer oder Winter, der springt immer an. Er hat noch fast ein Jahr TÜV, und selbstverständlich bekommen Sie alle Papiere für den Traktor ausgehändigt. Der ist mindestens viertausend wert!“

Herausfordernd schaute sie den erstaunten Mann an und fügte gutmütig schmunzelnd hinzu: „Sie müssen wissen, mein Vater hat den Traktor 1953 gekauft, und seitdem ich alt genug bin, fahre ich ihn auch.“ „Nichts für ungut. Einen Versuch war es wert. Viertausend, sagten Sie? Wie wär‘s? Ich gebe Ihnen drei fünf, in bar! Das ist eine Menge Geld, und Sie wären den Trecker sofort los!“ „Drei acht, in bar, und wir machen beide ein gutes Geschäft!“

Schneider überlegte kurz, dann schlug er in die Hand ein, die Charlotte ihm reichte.

„Abgemacht!“

Sie nickte zustimmend.

„Warum verkaufen Sie ihn denn? Ich mein‘, er läuft wirklich gut, und er ist ein echtes Schmuckstück.“ „Es ist mein letztes Jahr, ich schließe den Hof.“

„Und da brauchen Sie keinen Trecker?“ Charlotte lachte über seine Unwissenheit.

„Ich brauche sogar mehr als einen. Schauen Sie!“

Sie führte Herrn Schneider ganz in den Schuppen hinein.

„Da steht ein Fendt, Baujahr 86, 45 PS, und hier ist mein UTB, ein rumänisches Fabrikat, sehr robust und zuverlässig, mit zwei Arbeitsgruppen, der wurde extra für den Obstbau entwickelt.“

Mit Begeisterung schaute sich der Mann alles an, er war tatsächlich interessiert. „Na, Sie sind wohl ein echter Liebhaber! Aber ich kann diese Traktoren erst im nächsten Jahr verkaufen. Melden Sie sich im Frühjahr wieder, dann sehen wir weiter.“

Die Papiere tauschten den Besitzer, das Geld wurde überreicht und der Traktor auf den Anhänger verladen.

Zufrieden blickte sie auf das Geldbündel.

„Charlie, das war wirklich gut. Wie sagt man? Du lässt dir nicht Butter von Brot nehmen!“

Pavel legte ihr verschmitzt lächelnd den Arm um die Schulter. „Es ist gut gelaufen, und das Geld kann ich auch gebrauchen. Komm Pavel, darauf sollten wir anstoßen. Ich glaube, ich habe da noch einen richtig guten Slibowitz im Haus.“ „Da sag ich nicht nein! Du bist ja nun eine richtig reiche Frau! Bekomme ich nicht noch Lohn von dir?“ „Ha, schon kommen die Geier! Lohn gibt's am Monatsende, du altes polnisches Schlitzohr!“

Scherzhaft versetzte sie ihrem treuen Freund einen Klaps auf den Hinterkopf, bevor sie lachend das Haus betraten.

***

Die kleinen Dörfchen zogen sich wie eine Perlenschnur an der Elbe entlang, und wütend jagte Silke Imhoff ihren alten Mercedes durch die Ortschaften. Trat fluchend auf die Bremse, als hinter einer Doppelkurve ein Traktor auftauchte, und setzte mit aufheulendem Motor zu einem halsbrecherischen Überholmanöver an. Adrenalin pur schoss durch ihre Adern, als sie ihre rasante Fahrt vor dem alten Bauerngehöft stoppte. Sie blieb für einen Moment hinter dem Steuer sitzen, um sich zu beruhigen und wieder zu klarem Verstand zu kommen, bevor sie den Kieselpfad zum Haus hinaufstapfte.

Die Klingel ignorierend trat sie durch die unverschlossene Tür.

„Mutter?“, rief sie hörbar missgelaunt in den dämmrigen Flur, lenkte eilig ihre Schritte zu den Wirtschaftsräumen, als Charlotte erstaunt den Kopf aus einer der Türen steckte.

„Silke? Was machst du denn hier? Musst du nicht arbeiten?“

„Sicher, aber ich habe extra für dich eine Stunde freigenommen!“

Der sarkastische Tonfall verhieß nichts Gutes, sie wollte, dass Charlotte ihre Verärgerung deutlich spürte.

„Ich bin gekommen, um mit dir über einige Dinge zu reden!“, fügte sie in strengem Ton hinzu.

Charlotte zog hörbar Luft durch die Nase, spitzte beleidigt die Lippen und eilte forsch an Silke vorbei.

„Wenn du dafür schon eine Stunde deiner kostbaren Zeit opfern musstest, wird es wohl wichtig sein! Könnten wir uns vielleicht so lange setzen, während du redest?“ Überrumpelt folgte Silke ihrer Mutter in die Küche.

„Kaffee?“, fragte diese mit unbewegter Miene.

„Neeein, Mutter!“

Um deutlich zu zeigen, dass sie nicht etwa zum Kaffeekränzchen gekommen war, blieb sie demonstrativ am Türrahmen stehen. Seelenruhig füllte Charlotte ihre Tasse.

Das sah ihrer Mutter ähnlich, immer die Ruhe bewahren und so tun, als ginge sie das alles gar nichts an! Silke hätte vor Wut platzen können, zwang sich aber, sachlich zu bleiben.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Was gesagt?“

Ungläubig schaute sie die Mutter an.

„Dass du unser Land verkaufst!“, erklärte Silke empört.

„Unser Land?“

„Immerhin habe ich ja wohl ein Recht, es zu erfahren, oder?“

„Also bitte, Silke, sei nicht albern. Seit wann interessiert dich denn ‚unser‘ Land?”

Charlotte hob die Augenbrauen.

„Wolltest du plötzlich den Hof übernehmen?“

Irritiert öffnete Silke den Mund, ohne eine passende Antwort zu finden. Natürlich war beiden klar, dass sie sich einen Teufel um den Hof scherte. Darum ging es doch überhaupt nicht! Machte ihre Mutter sich etwa über sie lustig?

Charlotte erwartete keine ernsthafte Erwiderung.

„Ich denke nicht! Dann gibt es auch nichts weiter zu bereden! Also geht es dir etwa um das Geld oder dein Erbe?“

Unwillkürlich wurde Silke laut.

„Natürlich nicht! Ich hätte es einfach gern von dir selbst erfahren als von irgendeinem aus dem Dorf! Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist? Warum tut du mir das an?“

Schmerzhaft brannte das Gefühl der erlittenen Demütigung, das Silkes Zorn erneut entfachte.

„Warum beachtest du das Geschwätz der Leute? Es geht niemanden an, was ich mache, und bisher interessierten dich meine Angelegenheiten doch auch nie!“, versuchte sich Charlotte zu verteidigen.

„Mein Gott, ein Satz hätte genügt, um mich zu informieren!“

Seufzend nahm Charlotte einen Schluck Kaffee.

„Ach ja? Wann warst du denn mal hier oder hast angerufen?“

„Mutter, du hast auch ein Telefon!“, widersprach Silke bissig. Die Tasse landete scheppernd auf dem Unterteller.

„Seit Wochen habe ich dich nicht zu Gesicht gekriegt! Glaubst du ernsthaft, ich könnte bis zu meinem Tod hier wirtschaften? Ich werde fünfundsechzig, die alten Knochen plagen mich, und durch die Kälte und Feuchtigkeit krieg ich Rheuma, ich schaff das nicht mehr! Wenn du an Weihnachten oder meinem Geburtstag nicht immer nur mal kurz vorbeigehuscht wärst, hättest du das vielleicht sogar bemerkt.“

Der Vorwurf war nicht zu überhören, doch Silke dachte gar nicht daran, sich davon reizen zu lassen. Zumindest wurde sie nun über den Gesundheitszustand ihrer Mutter aufgeklärt, bevor sie auch das aus dem Dorftratsch erfuhr. Nachher hieß es noch, sie würde sich zu wenig um Charlotte kümmern.

Nach einem Augenblick des Schweigens gab Silke dieselbe Frage weiter, die ihr Kathrin gestellt hatte.

„Wo wirst du wohnen? Gehst du in ein ... Altenheim?“

„Das ist mein Haus, und hier bleibe ich auch. Wenn ich tot bin, kannst du damit machen, was du willst“, kam die Antwort verärgert zurück.

Was sollten sie tun, falls ihre Mutter gebrechlich wurde?

„Bist du dir sicher? Ich meine mit dem Haus?“

„Oh, ja!“

Misstrauisch beäugte Charlotte ihre Tochter, die beschloss, diesen Punkt vorläufig ruhen zu lassen.

„Trotzdem verstehe ich diesen überstürzten Verkauf nicht ganz! Du hast doch Arbeiter? Du musst doch nicht mehr den ganzen Tag draußen schuften!“

Kopfschüttelnd legte sich Charlotte die Hand auf die Stirn. „Diese Arbeiter müssen auch entlohnt werden! Der Hof rentiert sich einfach nicht mehr. Mein Anbaugebiet ist mit zehn Hektar viel zu klein, um große Gewinne zu erzielen. Ein eigenes Kühlhaus kann ich mir nicht leisten, also muss ich die Einlagerung bezahlen. Der Schlepper, die Traktoren und Pflückzüge, die Spritze, alles muss regelmäßig gewartet werden. Im nächsten Jahr müssen die Baumbestände teilweise durch Neuanpflanzungen ersetzt werden. Die Kosten steigen Jahr für Jahr, und ich bin zu alt und zu müde, um wirklich noch nützlich bei der anstehenden Arbeit zu sein.“

Resignierend drehte sie ihr Gesicht zum Fenster, sodass Silke es nicht sehen konnte, und fügte leise bedauernd hinzu: „Es ging nicht anders. Es war das Vernünftigste.“

Ruckartig wandte Charlotte sich ihr zu und funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen böse an.

„Und wenn du in Bezug auf meine Belange nicht so verdammt gleichgültig wärst, wäre dieser Verkauf auch nicht so eine Überraschung für dich gewesen!“

„Was soll das denn nun wieder heißen? Überhaupt warst du doch immer so fanatisch mit dem Hof. Hast dir nie von irgendwem reinreden lassen! Der Hof war doch dein Leben, der war dir schon immer wichtiger als alles andere!“

Silkes Stimme hallte dröhnend durch den kleinen Raum.

„Was wirfst du mir eigentlich vor? Dass ich mich nicht um dich gekümmert habe?“, gab ihre Mutter genauso laut zurück.

„Ja, genau das! Wann hattest du mal Zeit für mich? Zuerst kamen immer deine Äpfel und deine Arbeiter und deine Maschinen und erst dann, ganz zum Schluss, kam ich!“ Charlotte saß steif wie eine Statue am Tisch.

„Silke, ich habe außer Landwirtschaft nichts gelernt. Dies ist der Hof meines Vaters, und ich war es ihm und meinem verstorbenen Mann schuldig, ihn so lange es geht zu halten. Allein mit einem Baby, kannst du dir auch nur im Entferntesten vorstellen, was das bedeutet? Ich habe mich als Bäuerin mehr als genug beweisen müssen, ich habe mehr und härter als mancher Mann gearbeitet, um uns beide über Wasser zu halten. Diese Äpfel haben uns ein Einkommen gesichert und ein gutes Leben beschert. Ja, ich hatte wenig Zeit, aber du warst mir immer wichtig. Du ... du bist doch das Einzige, was mir noch blieb!“ Die Erklärung war einleuchtend, trotzdem weigerte sich Silke, dies auch nur im geringsten Maße anzuerkennen.

Ihre Mutter war einst ihre einzige Vertraute gewesen, vielleicht hasste sie deshalb diesen Hof so eifersüchtig. Silke konnte sich selbst nicht eingestehen, was sie der Mutter eigentlich vorwarf. Sie wollte Charlotte nicht verzeihen, was man ihr in der Kindheit angetan hatte. Wusste sie überhaupt, wie sehr sie darunter gelitten hatte?

Es lag so lange zurück, inzwischen war Silke achtunddreißig, hatte einen Mann und ein Kind. Manchmal konnte sie die Vergangenheit schlicht vergessen, bis sich die Erinnerung erneut an die Oberfläche kämpfte.

Diese Wunden wollten einfach nicht heilen.

„Warum ist er fortgegangen? Warum hat er nie nach mir gesucht?“

Sie hatte diese Fragen nicht stellen wollen, die Worte entschlüpften ihren Lippen, bevor es ihr richtig bewusst wurde.

„Silke, es tut mir so leid. Hätte Chrishan gewusst, dass ich ein Kind erwarte, er hätte uns ... hätte dich nie verlassen!“

***

Es war ein perfekter Tag. Das sonst so verhasste Putzen und Aufräumen war ihr leicht von der Hand gegangen. Die Küchenzeile glänzte, frei von benutztem Geschirr. Jacken und Schuhe fanden ihren Platz in der Garderobe statt davor, und im Wohnzimmer hätte man vom Boden essen können. Auf dem Tisch stand nun ein silberner Kerzenleuchter, neben dem Anne einen kleinen Blumenstrauß aus dem Garten platzierte, als sie überraschend die Schritte ihrer Mutter im Flur vernahm, deren Absätze über das Parkett klackerten.

„Wieso bist du denn schon zu Hause?“

Grußlos marschierte Silke an ihrer Tochter vorbei, nahm sich ein Glas und füllte es an der Spüle mit Leitungswasser.

„Stör ich vielleicht?“ Mann, hatte die wieder schlechte Laune! Anne startete einen neuen Versuch.

„Ich hab aufgeräumt!“, verkündete sie stolz. Durstig trank Silke das kühle Wasser und schielte über den Glasrand zu ihrer Tochter.

„Aha.“

Es klang belegt.

„Schön, dass du auch mal was tust!“ Was sollte das denn nun wieder heißen? Anne schluckte schwer und verkniff sich gerade noch eine freche Erwiderung. Zufrieden beobachtete sie, wie ihre Mutter sich in der Küche umsah, durch die offene Tür ins Wohnzimmer schaute, bis ihr Blick nun misstrauisch bei Anne hängen blieb.

„Willst du mir irgendwas mitteilen?“

„Was?“, verwirrt schaute Anne sich um.

„Also, was hast du wieder angestellt?“ Wieso denn angestellt? Glaubte sie wirklich, Anne hätte den ganzen Nachmittag geputzt, weil sie etwas ausgefressen hatte? Und was meinte ihre Mutter eigentlich mit wieder? Das klang ja, als würde es mit ihr ständig Ärger geben! „Ich hab gar nichts angestellt!“, erklärte sie entrüstet. Argwöhnisch wurde der Raum ein zweites Mal inspiziert. „Das hast du wirklich toll gemacht!“

Lächelnd streichelte Silke über Annes Arm.

„Es war ein anstrengender Tag. Komm, setzen wir uns eine Weile aufs Sofa!“ Das klang ja wie ein Friedensangebot! Vergessen war die launische Begrüßung, und voller Vorfreude hüpfte Anne ins Wohnzimmer, um ihrer Mutter die Neuigkeit zu verkünden.

„Wie war‘s in der Schule?“ Endlich, Anne hatte schon befürchtet, sie würde nie fragen.

„Super!“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Warum guckte sie denn schon wieder so komisch? Egal, jetzt ließ sie die Bombe platzen, bevor sie noch daran erstickte!

„Wir hatten wieder Theater AG, du weißt doch, wir führen bald dieses Stück für die Abschlussklassen auf ...“

Aufgeregt wippte Anne auf ihrem Platz.

„Jedenfalls hat Herr Friggen mich für die Julia vorgeschlagen!“

Jetzt musste die Mutter einfach stolz auf sie sein!

„Hast du dir das auch gut überlegt? Es ist ja keine Kleinigkeit, vor der ganzen Schule zu stehen und so ein anspruchsvolles Stück vorzutragen. Also ich weiß nicht, du bist sonst so ängstlich, am Ende blamierst du dich noch!“ Anne hatte einen großartigen Moment erwartet, auf diese Reaktion war sie nicht vorbereitet.

„Außerdem musst du sicher eine Menge Text lernen, nicht dass die Schule darunter leidet! Die ist nun mal wichtiger!“

„Aber das Schuljahr ist doch fast um und die Arbeiten ...“

Natürlich fiel ihrer Mutter sofort die Englischarbeit ein,

und Anne musste gestehen, dass diese wohl nicht ganz nach ihren Wünschen ausfallen würde.

„Du weißt, wie wichtig Englisch ist! Das brauchst du dein Leben lang und du willst doch Abitur machen!“ Nein, SIE wollte, dass Anne das Abitur machte! Und wieso mussten sie ausgerechnet jetzt darüber diskutieren?

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Anne zu Boden.

„Mensch, Kind. Dass du mir immer solchen Kummer machst! Du musst endlich mal begreifen, dass du für dich lernst. Später willst du doch studieren und einen guten Job bekommen! Dafür muss man sich aber anstrengen und gute Noten schreiben!“ Trotzig spitzte Anne die Lippen, sie hatte ihren Beruf.

„Tierpflegerin! Anne, werd endlich erwachsen! Das ist doch

völlig indiskutabel!“

Das war zu viel. Ihre Mutter hatte wieder diesen verhassten Ton an sich, der keine weitere Diskussion duldete. Widerspruch war zwecklos, er würde obendrein den Zorn ihrer Mutter heraufbeschwören und die Situation nur verschlimmern.

Für Silke war das Thema damit abgeschlossen, für sie noch lange nicht. Warum nahm sie Anne nicht einmal ernst?

Sie musste heftig schlucken, um die Tränen aufzuhalten.

Die Mutter hielt ihren Vortrag, ohne Annes Regung zu bemerken, bis diese deren Rede brüsk unterbrach und plötzlich Hausaufgaben vorschob. Verwirrt blickte Silke der Tochter kopfschüttelnd nach, die übereilt die Treppe hinaufstürzte und in ihrem Zimmer verschwand.

Anne schloss die Tür, als der Kummer sie mit aller Macht traf und ihre Tränen unaufhaltsam flossen. Schnell verkroch sie sich unter der Bettdecke, die ihre Schluchzer etwas dämpfte, bevor ihre Mutter es noch hören konnte.

Sie wollte ihr nicht in die Augen schauen, ihren Blick könnte sie jetzt nicht ertragen. Der Blick, mit dem die Mutter sie viel zu oft ansah und der Anne erzählte, wie abgrundtief enttäuscht sie war. Was auch immer sie tat, wie viel Mühe sie sich auch gab, es war nie genug. Sie, Anne, war niemals gut genug!

Alles machte sie falsch!

Den ganzen Tag hatte sie sich darauf gefreut, Silke von ihrem Erfolg zu berichten, und hatte sich vorgestellt, wie begeistert die wäre, wie sie beide jubelten und feierten.

Aber ihre Mutter hatte wie immer recht, Anne würde sich nur lächerlich machen, jämmerlich versagen, den Text vergessen oder sonst was Dummes tun.

Wie sehr sie sich wünschte, dass ihre Mama einmal, wenigstens ein einziges Mal stolz auf sie sein könnte.

Anne bewunderte sie für ihre Schönheit und Klugheit und wäre ihr gern ähnlich gewesen. Aber sie schaffte das nicht!

Bald gab es Zeugnisse, und Anne wusste schon jetzt, wie enttäuschend ihre Mutter die Noten und ihre Leistungen fände! Und dieses blöde Abitur würde sie erst recht nicht schaffen! Außerdem hatte sie auch gar keine Lust dazu!

Wie sollte sie ihr das nur erklären?

Bestimmt schämte sie sich sehr, so eine dumme und unfähige Tochter zu haben! Wie konnte sie da stolz auf Anne sein?

Ja, sie war eine einzige große Enttäuschung!

Wie sollte ihre Mutter sie denn jemals lieben können?

***

Charlotte war früh zu Bett gegangen, die überreizten Muskeln brannten, ihr Körper brauchte die wohltuende Erholung.

Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, schlug das Kissen zurecht, versuchte ihr Kreuz zu entlasten und eine bequeme Position zu finden. Wartete!

Das hatte keinen Sinn! Der ersehnte Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen, da half nur noch eine heiße Milch mit Honig. Resignierend kämpfte sie sich aus dem zerwühlten Daunenbett, die Finger fanden tastend die Nachttischlampe, die mit matten Licht eben noch genügend Helligkeit spendete, damit sie sich zurechtfand. Im Schlafanzug schlich sie hinunter in die Küche.

Tiefe Stille lag über dem Haus. Der volle Mond schien durch das Fenster herein, tauchte den Hof in sein mildes silbriges Licht, und wo es sich brach, schuf es dunkle Schatten.

Die Tasse halb geleert, verspürte Charlie wohltuende Schläfrigkeit, als plötzlich etwas in der Dunkelheit ihre Aufmerksamkeit erregte. Alarmiert rückte sie näher zum Fenster und blinzelte ins Mondlicht hinaus.

Ihr Körper reagierte sofort, sie verspürte ein stechendes Kribbeln im Nacken und gefror buchstäblich zu Eis.

An ihrem Tor sah sie die Gestalt. Die dastand wie ein Gespenst! Ganz still verharrte und zum Haus hinaufstarrte.

Charlie konnte kaum glauben, was und wen sie da sah.

Das war eindeutig Martha Köpke, ihre Nachbarin!

Was um Himmelswillen tat sie da? Mitten in der Nacht?

Die Minuten verstrichen, doch Charlie stand weiter wie angewurzelt am Fenster, lange nachdem Martha genauso still und unheimlich verschwand, wie sie gekommen war.

Selbst wenn ihr die heilige Jungfrau höchstpersönlich erschienen wäre, es hätte Charlotte nicht mehr aus der Bahn werfen können als diese Begegnung.

Sieben Tage

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