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Eine Betrachtung

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„Peter, ich glaube, du bist unter die Feiglinge gegangen!“ sagte mein Vater mitunter scherzend zu mir, wenn ich als kleiner Junge einige Zeit ohne Beulen und blaue Augen heimkam. Dann nutzte es nichts, dann musste ich mich schon nach Streit mit einem mindestens gleichstarken Jungen umschauen. Denn es lag mir viel an der Achtung meines Vaters. Trotz großer Güte führte er im Hause ein sehr strenges Regiment, erzog uns in Gottesfurcht und Königstreue, zu Einfachheit wie Wahrhaftigkeit und lehrte uns neben diesen ritterlichen Tugenden auch die anderen zur Stählung des Körpers. Eine auffallend schöne Erscheinung, elegant, geistreich und humorvoll, ein Kavalier und Edelmann, ein Altpreuße, herb und schlicht. Vom ersten Tag des Krieges als Frontsoldat im Felde, kehrte er 1916 mit einem schweren Herzleiden heim, an dem er 1917 starb. Auf dem Eichenkreuz seines Grabes steht: „Hier ruht in Gott ein treuer Diener seines Königs und Vaterlandes, Otto v. Heydebreck, Generalmajor.“ Das war mein Vater.

Meine Mutter schüttelte wohl oft den Kopf, wenn mein Vater Freude an meinen wilden Streichen hatte. Im Allgemeinen ließ auch sie mich ungehindert auf Abenteuer ziehen und sagte nichts dazu, kam ich zerrissen und verdreckt nach Hause. Dann sorgte sie nur, dass ich mich gleich tüchtig reinigte. Eine Angelegenheit, deren Notwendigkeit ich nie ganz einsah und die infolgedessen stete Beaufsichtigung erforderte. Konnte sie nicht zugegen sein, stellte sie meine Geschwister an: „Kinder, passt gut auf, dass sich Peter auch ordentlich wäscht.“ Es war ein geflügelt Wort in unserer Kinderstube. Wir 3 Geschwister hingen mit unendlicher Liebe an unserer Mutter und wetteifern auch heute noch vergeblich, in ihrem Herzen den ersten Platz vor den anderen zu haben. Die Stunden, da sie uns von Christi Leben erzählte, Märchen vorlas oder Volkslieder mit uns sang, gehören zu den schönsten Kindheitserinnerungen. Nur in einem Punkte war ich mit ihr sehr unzufrieden, das war die Zumutung, im Winter einen Mantel tragen zu müssen. Ich hielt solch Ansinnen für unter meiner Würde, für eine Verweichlichung, deretwegen ich mich vor meinen ärmeren Freunden, die keinen Mantel besaßen, viel geschämt habe.

Neben dieser kleinen Sorge, die ja auch nur im Winter mein Gemüt belastete, ging eine andere einher, die weit ernster war: die Schule. Diese Einrichtung hasste und verachtete ich. Meine Zeugnisse waren dementsprechend. Ja, sie wurden schließlich so schlecht, dass meine Eltern mir eines Tages erklärten, „wenn das so weiter geht, musst du von Hause fort und kommst ins Kadettenkorps.“ Das war Musik in meinen Ohren, denn nichts ersehnte ich mehr, als den Rock des Königs anlegen zu dürfen. Ich glaubte mit der Uniform zugleich auch ein Soldat und Mann zu werden. Prompt wurden meine Leistungen schlechter, und bereits im nächsten Frühjahr hielt ich meinen Einzug in der Kadettenanstalt Köslin.

Köslin war meine Geburtsstadt, hier hatte ich vor 12 ½ Jahren das Licht der Welt erblickt. Im Landkreis, nur einige Kilometer entfernt, lag Parnow, das alte Familiengut. Fast 600 Jahre im Besitz der Familie, hatte es zuletzt meinem Großvater gehört. Die Geschichte von Stadt und Land Köslin ist mit der unseres Geschlechtes seit Urväterzeiten eng verknüpft. Sieben meiner Vorfahren hatten in den letzten zwei Jahrhunderten als Landräte den Kreis verwaltet. Durch die großen Wälder des Gollenberges, an dessen unmittelbarem Fuß das Kadettenhaus lag, waren meine Ahnherren als Raubritter gezogen. So hatten am 13. Dezember 1388 zwei Mitglieder unserer Familie, Vicke und Bernhard von Heydebreck auf Parnow, den Herzog Wilhelm von Geldern, der sich auf einer Fahrt in das Ordensland Preußen befand, in den Waldungen bei Zanow überfallen, ausgeplündert und in Fesseln nach Falkenburg in der Neumark geschleppt. Unsere Familiengeschichte bezeichnet dies Unternehmen als eine Untat, fügt aber mit einem Hinweis auf die Zeitverhältnisse gottlob hinzu: „Mit der üblichen Entrüstung über die adligen Raubritter sind diese und ähnliche Erscheinungen nicht abgetan. Männer, denen die Lust am Waffenhandwerk und an Abenteuern im Blute steckt, hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es hoffentlich in Deutschland immer geben. Kann ihre unbändige Kraft nicht dem Lande dienen, so verwildern sie.“

Ich habe immer gefunden und bin allen Segnungen eines Völkerbundes zum Trotz auch heute noch der Meinung, dass die Raubritter ganz famose Leute gewesen sind. Ich bin stolz, solch Blut in meinen Adern zu wissen. Jawohl, so unmodern bin ich.

Im Kadettenkorps fand ich vieles meinen Träumen entsprechend, vieles anders. Immerhin lebte ich mich bald ein und überwand das Heimweh schneller als manche meiner Kameraden. Das Leben dort war schon für damalige Begriffe spartanisch hart, nach der heutigen Zeitmeinung gar nicht zu messen. Besonders die Frischlinge oder Säcke, wie die Neuankömmlinge genannt wurden, hatten nichts zu lachen. Sie mussten für die älteren Kadetten Putzerdienste tun, in der Freizeit Tennisbälle aufsammeln oder wintertags die bemoosten Häupter stundenlang in Schlittenrennen auf dem Hof rundum ziehen. Zur Illustrierung ein kleines Beispiel.

Mein zweiter Stubenältester war ein langaufgeschossener Junge von 15 Jahren, sein Spitzname Uhle. Er redete mich nur mit „Schwein“ und „olle Henne“ an. Nebenbei verabfolgte er mir dreimal täglich Muskelssträmmer. Das sind Schläge auf die Muskeln des leicht nach rückwärts verdrehten Oberarmes. Je nach seiner Laune und den von mir bewiesenen Fähigkeiten bei Verrichtung meiner Sackpflichten waren die Muskelssträmmer leichter oder schwerer, wurden mit der Faust oder dem Stiefelknecht gereicht. Meist waren sie leichterer Art, denn Uhle tat das nur, weil er es gut mit mir meinte. Wenigstens versicherte er mir selbiges jedes Mal mit den Worten: „Du Schwein wirst mir später noch mal dankbar dafür sein, dass ich aus dir einen strammen Menschen gemacht habe.“ Ich muss zugeben, seine Erziehung hat mir nichts geschadet. Im Übrigen war er in seiner Art gut zu mir und schützte mich vor Schikanen anderer. Nur eines hasste ich an ihm, und das waren seine Eidechsen, die er in einem Einmachglas züchtete. Ich musste diese Tiere mit Nahrung versorgen. Eines Tages fand er eine tote Fliege in dem Behälter und stellte mich zornentbrannt zur Rede: „Glaubst du olle Henne, dass meine anständigen Eidechsen deine unanständigen Fliegen fressen!“ Die nächsten zwei Wochen habe ich an allen möglichen und unmöglichen Orten Fliegen gefangen, denn ich musste Uhle als Strafe für meine Unfähigkeit jeden Tag, in Streichholzschachteln wohl verpackt, 30 lebendige und als Sühne für die seinen Eidechsen zugefügte Beleidigung noch extra 30 tote Fliegen vorzeigen.

Mit der Versetzung in die Untersekunda war die Übersiedlung in die Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde verbunden. Man war wieder Sack und musste Putzerdienste für die Unteroffiziere tun. Und das war gut so. Nach dem letzten Jahr im Vorkorps mit der Autorität des alten Kadetten, wie den Befugnissen eines Stubenältesten, hieß es jetzt wieder gehorchen, um später einmal wirklich befehlen zu können. Denn das war der Sinn dieses spartanischen Erziehungssystems: das preußische Kadettenkorps war eine Führerschule, wie sie besser nicht geschaffen werden konnte. Wer in militärischem Zwange aufgewachsen, durch lange Jugendjahre Gelegenheit hatte, seine Vorgesetzten kritisch zu betrachten, wird es später vermeiden, in Fehler zu verfallen, unter denen er einst selber zu leiden hatte. Was der von der Schule gekommene Fahnenjunker erst lernen musste, brachte der Kadett in die Armee mit. Er hatte Verständnis für Freud und Leid seiner Untergebenen und konnte mit ihnen fühlen. Eine der wichtigsten Eigenschaften für den Führer, denn sie sichert ihm das Vertrauen seiner Gefolgschaft.

In der Hauptkadettenanstalt waren wir schon in weit stärkerem Maße Soldaten. Wir trugen zur Uniform das Seitengewehr und exerzierten viel mit der Waffe. Als Teil des Gardekorps marschierten wir bei den großen Frühjahrs- und Herbstparaden auf dem Tempelhofer Felde an „S. M.“ vorbei, wie Seine Majestät der Kaiser von seinen Soldaten genannt wurde. In das letzte Jahr fällt die erinnerungsreiche Pagenzeit am kaiserlichen Hofe. Dann wurde ich, noch 18jährig, als Offizier der Armee überwiesen.

Mehr als Leutnant kann der Mensch nicht werden! Mit solchen Empfindungen meldete ich mich bei meinem neuen Kommandeur laut Allerhöchster Kabinettsorder in das 2. Schlesische Jäger-Bataillon Nr.6 versetzt. Die Garnison war Oels mit seinem berühmt schönen, Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Kronprinzen gehörenden Schloss, ein Landstädtchen dicht bei Breslau, umgeben von den herrlichsten Jagdrevieren.

Die Oelser Jäger waren einer der sogenannten feudalen Truppenteile. Dieser Tatsache waren sich nicht nur die Offiziere sondern auch jeder Oberjäger und Jäger, ja darüber hinaus die Einwohnerschaft des Städtchens stolz bewusst.

Der Person des Kronprinzen, seines späteren Chefs, war das Bataillon eng verbunden.

Die schönste Zeit meines Lebens hatte begonnen, der lange, sehnsuchtsvolle Traum einer harten Kadettenjugend ward Erfüllung: ich war Offizier! Mit der ganzen Unbekümmertheit meiner 18 Jahre zog ich ins Leben hinaus, genoss es in vollen Zügen, reitend und jagend, tanzend und küssend. Ich war in allen vier Sätteln gerecht. In den des Reiters hatte mich einst mein Vater gesetzt, zwölfjährig gab er mich in die Schule eines strengen Ulanenwachtmeisters. Zum Jäger machte mich mein Lieblingsonkel. In seinen unweit Köslin gelegenen Revieren Barzlin und Nedlin hab ich als junger Kadett schon hirschgerecht jagen gelernt. Mein erster Tanzlehrer aber war unsere alte Köchin Marie. Unter ihrer Anleitung tanzten meine Schwester und ich bereits als Kinder mit den Burschen und Dienstmädchen in der Küche Krakowjak, den wilden Nationaltanz der Polen; nicht ahnend, welch wildere Tänze ich später einmal mit den Polen noch tanzen sollte. Und schließlich das Küssen — das braucht man ja bekanntlich nicht erst zu lernen.

So schön Sport und Liebe auch waren, den Inhalt meines Lebens bedeuteten sie nicht. Den gab mir der Beruf im Dienste des Königs.

Ich war mit Leib und Seele Soldat und liebte mein Jägerbataillon über alles. 75 Prozent seines Offizierskorps, 60 Prozent der Oberjäger und Jäger blieben auf dem Felde der Ehre. Die noch lebenden Kameraden werden mit den gleichen Empfindungen an ihr altes Bataillon zurückdenken. Innerhalb unseres Leutnantskorps waren wir alle treueste Freunde, untereinander viel enger verbunden, als es bei anderen Truppenteilen der Fall war, begründet durch die verhältnismäßig kleine Gemeinschaft im Vergleich zu den großen Offizierskorps der Regimenter. Auch zu den Oberjägern und Jägern standen wir in weit persönlicherer Beziehung, als es in der Riesenorganisation Armee mit ihrem schon fast überspannten „Dienstbetrieb sonst möglich war. Das lag im Wesen der Sonderstellung, die ein Jägerbataillon einnahm. Losgelöst von den vielen höheren Dienststellen wie Regiment, Brigade, Division unterstand es nur dem Inspekteur der Jäger und Schützen. „Gar lustig ist die Jägerei“ klang nicht nur ihr Parademarsch, sondern sie war es auch. Dienstfreudigkeit und nebenbei Frohsinn in nicht zu karg bemessenen freien Stunden, das war die Eigentümlichkeit der grünen Farbe.

Unter einem, in weitesten Kreisen der Armee als scharfem Vorgesetzten bekannten Kommandeur wurde ich im ersten Jahre streng und hart rangenommen, in der Schule meines langjährigen Kompaniechefs Hauptmann v. Prittwitz zum brauchbaren Soldaten erzogen. Jochen Prittwitz, wie wir sagten, oder Jockel, wie die Jäger ihn fürchteten und liebten, war eine in seiner rassigen äußeren Erscheinung wie in seiner tapferen aufrechten Gesinnung gleich vornehme Persönlichkeit. Stets einen nur für Jochen Prittwitz möglichen Scherz auf der Zunge, hat er oft und gern mit uns Leutnants den Becher geschwungen. Schlank und elegant zu Pferde und wie auf dem Exerzierplatz mit heller, weithin schallender Kommandostimme seine Leute anfeuernd, fiel er am 22. August 1914.

Sprach ich vorhin von einem brauchbaren Soldaten, den mein Hauptmann aus mir gemacht hatte, so ist das fast ein Werturteil, das unbescheiden anmutet. Doch weiß ich, Jochen Prittwitz schätzte mich als solchen ein. Im Übrigen waren die Ansichten meiner Vorgesetzten über mich geteilt. Da Sympathien meist auf Gegenseitigkeit beruhen, glaube ich, dass die Mehrzahl mir wohlgesinnt war. Auch waren es nicht meine militärischen Leistungen, die zu Klagen Anlass gaben, schnitt ich doch bei Besichtigungen stets gut ab, als vielmehr mein persönlicher Lebenswandel. Ich war etwas leichtsinnig, litt unter chronischem Geldmangel und unbezahlten Rechnungen, hatte Zeiten, wo ich viel rumbummelte und Feste feierte, wie sie fielen, häufig fielen. Stets zu dummen Streichen aufgelegt, vergaß ich mitunter, dass ich nicht mehr Kadett sondern Königlich Preußischer Leutnant war.

Im letzten Jahr vor dem Kriege hatten wir einen Kommandeur, dem meine Lebensauffassung wenig zusagte. Besonders missfiel ihm, dass ich im Kasino eine hohe, unbezahlte Rechnung und im Stall 2 Pferde unterhielt.

*

Zu gleicher Zeit wirkte in Breslau ein sehr strenger Kommandierender General, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, in den schlesischen Garnisonen Unruhe zu verbreiten. Und diese Unruhe hatte sich auch auf unseren Major übertragen. Sie steigerte sich, je näher der Tag der Kompagniebesichtigung heranrückte, zu welcher sich der General angesagt hatte.

„Leutnants, meist verbrecherlich, finden manches lächerlich.“ In diesen Fehler verfielen auch wir und damit auf einen ganz ausgefallenen Einfall.

Um das nun einmal bestehende Übel guten Zwecken nutzbar zu machen, attachierte der Major für den Tag der Besichtigung mich mit meinen Pferden dem Kommandierenden General als persönlichen Ordonnanzoffizier. Solch ein Kommando bedeutet eigentlich eine Auszeichnung. Anstatt vor den gestrengen Augen eines hohen Sachverständigen seine militärischen Künste produzieren zu müssen, ritt man neben diesem einher und besichtigte gewissermaßen mit. Ich wurde denn auch im Kasino von den andern Leutnants neidvoll beglückwünscht. Es war ein Grund zum Feiern. Leider — denn in der nun eintretenden Feststimmung verfiel ich auf die Idee, zu der Besichtigung in ganz großer Aufmachung zu erscheinen. Um Seine Exzellenz würdig zu empfangen, wollte ich auf mein zweites Pferd, angetan mit seiner schönsten Galalivree, den Kutscher eines gerade anwesenden Assessors setzen. Durch das Angebot einer Wette legten mich die anderen fest.

So sah mich denn der nächste Morgen dem Exerzierplatz zutraben. Neben mir ritt der Kutscher Paul mit Zylinderhut, Stulpenhandschuhen, Stulpenstiefeln, weißer Hose und blauem Rock mit rotem Kragen und silbernen Knöpfen. Es war ein großartiges Bild, kein Fürst konnte eindrucksvoller auftreten.

So sah mich auch der Major, als ich wenige Minuten vor der für die Besichtigung festgesetzten Zeit am Eingang des Exerzierplatzes eintraf und, mich in Galopp setzend, dem in Paradeaufstellung angetretenen Bataillon zu sprengte. Mein Anblick war so überwältigend, dass der Major die Truppe vor mir stillstehen und die Gewehre präsentieren ließ. Erst als ich bis auf 100 m herangekommen, abschwenkte und wieder zurückjagte, erkannte er seinen Irrtum. Bis zum Leutnant einschließlich hat alles gelacht.

Gleich darauf erschien Seine Exzellenz. Um die Situation zu retten, musste ich mir unbedingt seine Sympathien gewinnen und meldete mich daher äußerst laut, stramm und militärisch. Ob beide Pferde mein Eigentum seien, erkundigte er sich, mit scharf musterndem Blick die Besichtigung am ersten Objekt sofort beginnend. Dann auf den unmittelbar hinter mir mit höflich gelüftetem Zylinderhut haltenden Kutscher Paul weisend: „Und wer ist das?“ — „Mein Bereiter, Euer Exzellenz.“ Es war nicht mal eine Lüge.

Wohlwollend nickend bewies Seine Exzellenz, dass er Sinn für Repräsentation hatte. Auch war er den ganzen Tag guter Laune, was sehr selten bei ihm vorgekommen sein soll. Hatte er dem Major gegenüber einige anerkennende Worte für mein würdiges Auftreten gefunden, oder genügte schon die Tatsache, dass er es nicht monierte, die erwartete und durchaus verdiente Rüge für mein freches Verhalten blieb aus.

Ich konnte von Glück sagen, dass dieser nach militärischen Begriffen unmögliche Streich so gut abgelaufen war. Er hätte bei einer anderen Auffassung des Generals einen für mich sehr unangenehmen Sang nehmen können. In jedem Falle waren solche Scherze nicht geeignet, mir das Wohlwollen meines Kommandeurs zu gewinnen. Ein wahrer Segen, dass im Sommer der Krieg ausbrach! Für mich schon, denn ich war auf dem besten Wege, gleich meinen Vorfahren den Raubrittern, zu verwildern, um mit den Worten unserer Familienchronik zu sprechen.

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„Aller Dinge mächtigstes Krieg!“

Deswegen ist es auch so schwer, über ihn zu schreiben, deswegen sollten Literaten, die ihn gar nicht erlebt haben, ihre Finger davon lassen. Auch ich fühle mich nicht der Aufgabe gewachsen, das Fronterlebnis so zu gestalten, dass seine Niederschrift vor den Augen der Frontkameraden bestehen könnte, und werde mich daher auf eine kurze Angabe meines persönlichen Schicksals beschränken.

Ich zog begeistert aus. Selbstverständlich. Alle taten es, Alt und Jung. Das Volk stand auf. Darüber hinaus aber empfand ich etwas, was nur der junge Berufsoffizier kennt, den noch keine Sorgen um Frau und Kind ins Feld begleiten. Es war das Gefühl eines befreienden „Endlich“, der Erfüllung des Wunsches: Ernstfall. Ich fand den Krieg wunderschön, anders als ich ihn erträumt, schöner. Eigentlich strafbar, heute so etwas niederzuschreiben, denn für solche Ideologien ist kein Platz im jetzigen Deutschland. Und trotzdem, so etwas hat’s mal gegeben, des Kaisers junge Leutnants dachten alle so.

Unvergesslich gleich die ersten 3 Wochen, da das Bataillon als Teil der 3. Kavallerie-Division den Aufmarsch unserer Armeen verschleiernd, den des Feindes erkundend, zwischen Longwy und Montmedy, zuletzt in Südbelgien in kühnen Vorstößen die ersten blutigen Lorbeeren pflückte. Dann die großen Schlachten im Rahmen der Gesamtfront, der Siegeslauf über die Maas bis zur Marne; lachend und singend zogen wir durch Feindesland. Wohl sah ich Kameraden bluten und Freunde sterben, das Kriegserlebnis war zu gewaltig, nichts trübte die Freude am Handwerk. Ihr Tod spornte an. Ihm stand man als etwas Selbstverständlichem gegenüber, er gehörte zu unserem Beruf, und nur ein Wann trennte uns von den Gefallenen. Natürlich gab es auch ein wehmütig Zurückschauen in Zeiten, die endgültig vorüber, nie wiederkehren würden. Dort, wo der Tod hinpackt, wird das immer so sein. Bezeichnender jedoch als solch Erinnern, nur uns eigentümlich, in seiner Einmaligkeit wertvoller. war ein Empfinden der Scham vor den Gebliebenen, Scham, noch zu leben, Zweifel an sich selbst, ob man sich ohne Rücksicht auf die eigene Person auch so eingesetzt hätte, wie der Beruf es verlangte. Hatte die Erhebung von 1914 eine Umwertung aller Begriffe über ideelle und materielle Güter, ja über den Wert des Lebens selbst ausgelöst, so fühlten wir aktiven Offiziere uns berufen, Träger dieser Erhebung zu sein. Wir waren es vor dem Feinde und haben unser Können unter Beweis gestellt. Für das, was in der Heimat geschah, sind die anderen dem deutschen Volke die Rechenschaft schuldig geblieben. Wir verschwendeten uns selbst, die anderen — den Geist von 1914.

Fast eine Übersteigerung unseres Standesbewusstseins führte dazu, dass wir Leutnants glaubten, uns besonders exponieren zu müssen. Es war eine Blasiertheit gegenüber dem Tode, wenn wir in der feuernden Schützenlinie aufrecht von Mann zu Mann gingen oder, allen Verfügungen zum Trotz, uns weigerten, Degen und silberne Feldbinde abzulegen. Der Leutnant v. Geyso, blutjung, noch Fähnrich, als der Krieg ausbrach, putzte vor dem Argonnensturm am 8. Januar 1915 die Schuppenketten seines Tschakos parademäßig blank. Es war sein Todesweg. Unvergesslich das Bild der langen in schwerem Feuer vor . . . zigfacher Übermacht liegenden Schützenlinie des Jägerbataillons, sie mit ruhigen Schritten entlangschreitend, um den Kompagnien den Befehl zur Loslösung vom Feinde zu überbringen, der Adjutant Leutnant Graf Pfeil. So geschehen am 21. August 1914 im Gefecht von Izel.

Erst der Stellungskrieg zwang uns zum Verzicht auf solche Standesvorrechte.

Ich habe ihn nicht mehr erlebt. Kurz vor seinem Beginn, am 26. September um die Mittagszeit, schossen mir die Franzosen den linken Arm ab. Es war im Handgemenge beim Sturm auf eine Barrikadenstellung mitten im Dickicht des Argonnenwaldes. Ich sah noch, neben mir wurde einer meiner Zugführer, Feldwebel Wollenzin, mit Bajonetten erstochen, da erhielt ich den Schuss. Auf drei Schritt Entfernung zerschmetterte er meinen Oberarmknochen so restlos, dass lediglich der Unterarm noch an einigen Muskelfetzen im wahrsten Sinne des Wortes rumbaumelte. Es tat sehr weh, besonders das scharfe Abbinden erhöhte die Schmerzen; die Besinnung verlor ich nicht. Unser Sturm war von den Franzosen abgeschlagen worden. Dementsprechend gestaltete sich mein Rücktransport sehr schwierig, immer wieder unterbrochen durch Feuergefechte, zu denen der scharf nachdrängende Feind die braven, mich betreuenden Jäger zwang. Zunächst waren es wenige, die, abwechselnd schießend und mich in einer Zeltbahn durch den Urwald schleppend, mich vor der Gefangenschaft retteten. Bald fand sich einer nach dem anderen dazu, so dass sich im Laufe der Zeit ein starkes Widerstandszentrum um mich versammelt hatte. Nach Stunden erreichten wir die Römerstraße, die neue Stellung des Bataillons, an der die französische Verfolgung ihr blutiges Ende fand. Weitere Stunden, Warten und Transport in Eselskarre und Lastauto, einbrechende Nacht, Feldlazarett Very.

Hier befreite mich die erste Morphiumspritze meines Lebens von den wirklich unerträglichen Schmerzen. Verbinden, stundenlanges Liegen im Dämmerzustand auf dem Strohlager in einem Schulsaal, Stöhnen verwundeter Kameraden, sie waren alle von meinem Bataillon, Feuerüberfall schwerer Artillerie des Feindes, furchtbares Krachen.

Die nächste Erinnerung war der Weitertransport am folgenden Tage. Erst ein Jahr später erfuhr ich in Oels, dass ich in jener Nacht durch eine schwere französische Granate verschüttet war. Leichtverwundete Jäger hatten mich nach einviertelstündiger Arbeit wieder ausgebuddelt.

Trauernd, dass dieses größte Erlebnis, Krieg, für mich nun abgeschlossen sein sollte, lag ich dann dreiviertel Jahre in der Tübinger chirurgischen Universitätsklinik. Es war eine schwere Zeit mit sechs Monaten Fieber, Blutvergiftung und acht Operationen. Doch Gottes Wege sind wunderbar. Das von mir oft zehnmal verfluchte Krankenlager wurde bestimmend für den Lebensweg eines mir sehr lieben Menschen. Meine Schwester, die für einige Wochen zu meiner Pflege nach Tübingen gekommen war, lernte hier denjenigen meiner Ärzte kennen, den ich besonders verehrte. Zwei Jahre später schloss sie mit ihm den Bund zu einer sehr glücklichen Ehe.

Pfingsten 1916 rückte ich wieder ins Feld aus. Hinter mir lag ein Winter Rekrutenausbildung beim Ersatzbataillon. Die besonders gut verlaufene Endbesichtigung der jungen Jäger hatte mir das Wohlwollen des Kommandierenden Generals gesichert. Die Gunst des Augenblicks nutzend, wiederholte ich eine bisher nur vergebliche Bitte und erreichte die Wiederverwendung in der Front.

Ich wurde Adjutant meines guten Bekannten, des Rittmeisters Frhr. v. Werthern, der Kommandeur der Munitionskolonnen beim Alpenkorps war. Als ich bei der Truppe eintraf, war diese im Großkampfgebiet von Verdun am Ostufer der Maas eingesetzt.

Hier habe ich die großen Leistungen dieser Waffengattung, die mir, dem Jägeroffizier, bisher nur als halbe Etappenformation vorgeschwebt hatte, erstmalig kennengelernt. Das allnächtliche Munitionskarren durch Feuer- und Gassperren bis zu den Batteriestellungen war aufreibend und verlustreich.

Der Husarenrittmeister Hans Werthern war mir mehr als ein ritterlicher Kommandeur, er war mein guter Kamerad. Und als Freunde sind wir im Herbst des Jahres im Roten Turmpass an der rumänischen Grenze voneinander geschieden.

Ich war in den Stab des Oberkommandos der 9. Armee versetzt worden. Die Aufmerksamkeit ihres genialen Führers, des Generals v. Falkenhayn, hatte ich kurze Zeit vorher in etwas eigentümlicher Weise auf mich gelenkt. Werthern, zwei Fliegeroffiziere und ich hatten einige Ruhetage zu einer zwar ergebnislosen aber sehr lustigen Bärenjagd in den siebenbürgischen Wäldern ausgenutzt. Zurückkehrend beschlossen wir unseren Ausflug bei fröhlichem Umtrunk im ersten Hotel von Kronstadt. In unsere vergnügte Gesellschaft geriet ein Kürassiermajor aus der engeren Umgebung des Oberbefehlshabers. Diesem erzählte ich eine lange Geschichte von einem starken Bären, den ich angeblich geschossen haben wollte, so anschaulich und bis in alle Einzelheiten das von fernher schon hörbare Brummen wie das wütende Brüllen des dann von mir getroffenen Tieres nachahmend, dass er mir begeistert gratulierte: „Dann sind Sie ja der erste, dem es von unserer Armee geglückt ist, einen Bären zu schießen, ist das wirklich wahr?“

„Na klar, wo Emil Nitzschke dabei war!“ beteuerte Emil Nitzschke aus Stolp in Hinterpommern, denn er hatte die Gewohnheit, von sich selber nur in dritter Person zu reden. Den Ausschlag aber gab das Urteil des anderen Fliegers Poldi Fugger. Er war ein reichsunmittelbarer Graf aus Süddeutschland, und das überzeugte den Major. Am nächsten Tage begegnete ich dem Oberbefehlshaber in den Straßen der Stadt, begleitet vom Chef des Generalstabes und unserem leichtgläubigen Kürassier. Ich sah, letzterer machte den General auf mich aufmerksam. „Schon reingetreten“, dachte ich. Und richtig, Falkenhayn winkte mich zu sich.

„Ich gratuliere zu Ihrem Jagdglück!“

„Eure Exzellenz befehlen?“ fragte ich möglichst ahnungslos.

„Na, Sie haben doch einen Bären geschossen.“

„Nicht dass ich wüsste, Euer Exzellenz“, wehrte ich erstaunt ab.

„Ja, aber der Major v. B. hat mir das doch soeben in allen Einzelheiten erzählt!“ rief der General ungeduldig.

„Da muss jemand dem Herrn Major aber einen schweren Bären aufgebunden haben“, meinte ich kopfschüttelnd.

Einen Augenblick Schweigen, dann haben wir alle furchtbar gelacht. Bis auf den Major natürlich, der hatte sich noch nicht wieder verfangen.

Wie alle Angehörigen des Oberkommandos stand auch ich gleich im Banne der schönen Persönlichkeit des Generals von Falkenhayn. Nicht nur verantwortlicher Oberbefehlshaber im Sinne letzter Entscheidungen, sondern in allem alleiniger Führer seiner 9. Armee, ergänzten tiefes Verständnis für die Bedürfnisse und seelischen Schwingungen der Truppe wie kameradschaftliches Empfinden seine großen Feldherrngaben. Zu mir persönlich stets wohlwollend, fand er bei den gemeinsamen Mahlzeiten oft ein besonders freundliches Wort für mich.

Mein unmittelbarer Vorgesetzter, dessen erster Hilfsoffizier ich wurde, war Hauptmann Huth, Nachrichtenoffizier der Obersten Heeresleitung, ein Mann von großen Gaben und starken Charaktereigenschaften, gleichermaßen Soldat wie Organisator, politisch begabt mit klarem, treffsicherem Urteil, einst aktiver Offizier, dann Begründer der Albatroswerke. Großzügig mit vielseitigen Interessen, war er, abgesehen von rein militärischen Fachbegriffen, die bedeutendste Persönlichkeit im Stabe. Ich habe viel bei ihm gelernt und gern für ihn gearbeitet. Besonders wenn die Arbeit an die Front führte, war ich dabei, denn dann war Huth in seinem Element. Ja, ich habe ihn begleitet bei Fahrten, die an der Front nicht haltmachten. So jene Fahrt im Kraftwagen von Herrmannstadt in Siebenbürgen durch das von unseren Truppen kaum geöffnete Alttal über den Pass des Gebirges an zurückflutenden rumänischen Abteilungen vorüber, quer durch die Ebene der Walachei über die Donau nach Bulgarien in 48 Stunden hin und zurück. Die sofortige Verbindung zwischen Falkenhayn, der die rumänischen Gebirgsstellungen der Transsylvanischen Alpen durchbrochen, und Mackensen, der von Bulgarien aus die Donau bei Swistow überwunden hatte, war damit geschaffen. Ein andermal fuhren wir zu dreien, Prinz Stephan von Schaumburg-Lippe war mit dabei, nach Bukaresk hinein, und zwar zwei Stunden vor Einnahme der Stadt. Wir sahen den Abtransport rumänischer Bataillone mit Hilfe des gesamten städtischen Straßenbahnwagenparkes, ein wohl einzig dastehendes Kriegsbild, und veranlassten durch das plötzliche Erscheinen unseres Kraftwagens eine Schwadron Rosiori — rumänischer Husaren — zur kopflosen Flucht durch die Straßen der Stadt.

Der Vormarsch fand am Sereth sein Ende. Stellungskrieg. Ein kurzes Frühjahr, ein langer, heißer Balkansommer, dazu ein ruhiger Frontabschnitt, so ließ sich der Krieg schon ertragen. Und doch war es nicht das, was ich gewollt, als ich aus dem Gleichmaß des Garnisondienstes auf den Schauplatz des Krieges zurückdrängte. Ich wollte hineingestellt sein in die gewaltige Handlung und fühlte mich nun in die Rolle des Zuschauers versetzt. Ich bangte, um mein Fronterlebnis zu kommen. Das konnte ich nur dort finden, wo ich aufgewachsen war, in den Reihen der Oelser Jäger. Darum bat ich um Verwendung als Kompanieführer bei meinem Bataillon. Exzellenz von Falkenhayn war inzwischen auf einen anderen Kriegsschauplatz berufen worden, sein Nachfolger lehnte mein Besuch ab. Ich gab nicht Ruhe, sondern wandte mich direkt an die Oberste Heeresleitung, und zwar an ihn, der dort in Wahrheit bestimmte, wenn auch sein Name nur an zweiter Stelle genannt wurde, an Ludendorff. Ihm schrieb ich einen persönlichen Brief und schon zwei Wochen später erhielt ich die Antwort. Ich war probeweise für 8 Wochen zum Reserve-Jäger-Bataillon Nr. 6 versetzt. Nach Ablauf dieser Zeit sollte berichtet werden, ob meine Verwendung mit nur einem Arme in der Front möglich sei.

Inzwischen war ich an Ruhr erkrankt, zwar heftig doch kurz. Die Nachricht meiner Versetzung ließ mich gesunden. Mit nur wenigen Tagen Verspätung reiste ich ab; mit mir meine 4 Getreuen aus Oels. Joseph Filla, nur Fillax genannt, der außer mir noch seinen unzertrennlichen Freund, meinen Schäferhund Wolf, betreute, und Paul Bogon, der meine schwarzbraune Stute Tamara nicht minder liebte wie der Fillax den Wolf. Wir trafen unser Bataillon in der Gegend von Kraienburg. Dort war es für die Offensive gegen Italien bereitgestellt und erwartete den Aufmarschbefehl für den Angriff. Hauptmann Fritz von Blanckenburg, mein Vetter und Gefährte schöner Friedensjahre in Oels, war der Kommandeur, Leutnant Range, einer der unerschrockensten Stoßtruppführer, sein Adjutant. Der Führer der 2. Kompagnie, Oberleutnant v. Lippa, hatte noch wenige Monate vorher beim Armee-Ober-Kommando den Schreibtisch mit mir geteilt. Sie alle waren treueste Freunde, groß daher die Wiedersehensfreude, ein Einleben unnötig, allerorten alte Bekannte und Kampfgenossen, man war zu Hause. Der Feldzug gegen Italien war Jungbrunnen für den Soldaten. Von Tolmein aus das Gebirge durchbrechend, fielen wir auf demselben Wege wie einst die Goten in Italien ein, zogen sieggewohnt durch seine Lande, freuten uns seiner Schönheit, tranken vom Überfluss seines Weines, verträumten die Tage in warmer südlicher Sonne, lauschend der Stimme unseres Blutes und seiner unversiegbaren Kraft Germanenerbgut!

Erst der Dezember mahnte uns wieder mit Frost und Eis an unsere nordische Heimat. Er führte uns nochmals und zwar zu erbitterten Kämpfen auf die Berggipfel der italienischen Alpen und forderte blutige Verluste. Das Ziel unserer Angriffe war der Monte Grappa. Wohl entriss der Sturm der Jägerdivision dem Feind verschiedene Höhen und Spitzen des großen Gebirgsmassivs, der Grappa selber mit seinen in den Fels gesprengten Gräben und Kavernen erwies sich als eine gewaltige Feste. Sie zu nehmen, blieb uns versagt. Wir hätten uns vor ihr verblutet, drum wurde das Unternehmen abgebrochen. Nach einem frostigen Weihnachten auf nacktem Fels in den über 1700 m hohen, schwer errungenen Stellungen wurden wir in der Neujahrsnacht 1918 abgelöst. In einer mehrwöchigen Ruhe- und Ausbildungszeit an den warmen Südhängen der Alpen tranken wir noch einmal in vollen Zügen die milde Luft, den süßen Wein, die ganze weiche Schönheit Italiens. Dann rief uns die Heeresleitung zur großen Entscheidung nach Frankreich.

Auch ich stand jetzt dem Krieg nicht mehr mit dem lachenden Gesicht wie 1914 gegenüber. Dazu hatte er selber in diesen 3 ½ Jahren das seinige zu sehr verändert. Verwundung und Krankenlager, die Mehrmaligkeit des Erlebens eigener wie anderer Not vor der grausamen, wenn auch nur scheinbaren, Zufälligkeit des Todes, die ganze Notzeit Deutschlands war naturgemäß an mir nicht spurlos vorübergegangen. So sah auch ich den kommenden Ereignissen weit ernster entgegen. Mir war wie allen anderen bewusst, welch Übermaß an Opfern der Angriff, zu dem die in jahrelanger Abwehr erstarrte Front nun antreten sollte, von uns verlangen würde. Und doch, die Stimmung war gehoben wie schon lange nicht mehr.

So wurde die große Schlacht in Frankreich im Frühjahr 1918 zu einem gewaltigen Sieg der deutschen Waffen. Erinnerungen an 1914 wurden wach.

Als der Vormarsch zum Stehen kam, lag unser Bataillon beiderseits der großen Straße nach Amiens an dem am weitesten nach Westen vorgeschobenen Punkt des gesamten Kriegsschauplatzes. Harte Wochen, ja die für mich schwerste Zeit des ganzen Krieges folgte. Vor uns der Franzose mit seinen besten Truppen und Massen von Artillerie an dieser für ihn wichtigsten Stelle seiner Front, unmittelbar hinter uns in sumpfigen Ufern die Avre. Eine Brückenkopfstellung mit nur einer rückwärtigen Verbindung und auch diese infolge feindlicher Artilleriewirkung oft stundenlang unpassierbar.

Ein Befehl der Division berief mich zum Führer des benachbarten Jäger-Bataillons Nr. 18, sein Kommandeur war gefallen. Ich kannte hier niemanden, fühlte mich einsam, und das tut in solchen Zeiten nicht gut. Nur einer war bei mir, der mir nahestand. Wenn die Luft am dicksten, die feindliche Artillerie am unnachgiebigsten war, dann sprang er zu mir, mein Jäger Fillax. Eine belanglose Frage, ein Scherz: wann ich mich zu rasieren gedachte. Wenn das Feuer für Viertelstunden verebbte, dann krochen wir aus unseren Löchern, hockten zusammen, hingen mit unserm Sorgen und Hoffen wie Kettenglieder ineinander. Wenn der Sturm wieder anheulte, war es jedes Mal ein Abschied. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, er tat mir so unendlich leid, und wusste doch nicht warum. Ich hatte eine unbeschreibliche Angst, ich könnte ihn verlieren. Er war der einzige, dem ich mich vermitteln konnte, und das musste ich. Denn oft glaubte ich die Grenzen des Möglichen erreicht zu haben, so hilflos fühlte ich mich in meiner Einarmigkeit. Dies Ausharren durch Stunden und Tage, zusammengerollt wie ein Igel in irgendeinem Granatloch, war für mich doppelt schwer zu ertragen. Die Zeit schlich. Und dann, doch viel zu früh, kam ein trüber Aprilabend. In einem Hohlweg. Der gesamte Bataillonsstab war auf engem Raum versammelt. Eine schwere Granate krepierte am Stamm der Pappel über uns. Senkrecht schlugen die Splitter zur Erde. Die Wirkung war furchtbar. Alle außer mir tot oder verwundet. Wie stets bei Katastrophen, wenn der Tod unvermittelt in eine Gemeinschaft trat, vielstimmiges Rufen: „Sanitäter!“ Nur eine Stimme klagte anders: „Herr Hauptmann, Herr Hauptmann!“ Das war der Fillax! Angst vor dem Anblick seines zerrissenen Leibes ließ mich erstarren, wie lange weiß ich nicht. Als ich hinzusprang, hatten sie ihn bereits abseits gelegt. Granatsplitter in Brust, Rücken und Knie. Ich sah sofort: der Tod. Auf einmal begriff ich mein Mitleid. Seit Tagen schon hatte er ihn gezeichnet. Morphium war alles, was hier noch zu tun blieb. Ich rief nach dem Arzt, der war selber verwundet. Als er trotzdem kam, wurde ich ihm grob. Ich musste, sonst hätte ich geheult. Ein Händedruck, leb wohl, Kamerad, dann trugen sie den Freund zurück, auf Nimmerwiedersehn.

Die letzten Tage bis zu unserer Ablösung waren qualvoll, ich hatte den hübschen, weißblonden Jungen zu gern gehabt.

Erste Herbstwinde wehten über die Schlachtfelder Frankreichs. Ein Jahr gewaltigen Erlebens lag hinter mir, seit ich mit meinen 4 Getreuen zu froher Kriegsfahrt nach Italien zog. Und wieder reifte der Entschluss, zur Front zurückzukehren. Doch nicht wie damals lockten vom Krieg noch unerschlossene Reviere zu fröhlichem Jagen. O nein, ich war der wilde Jäger nicht mehr, so leicht mit Horrido und Hussasa wie in die große Streife nach Italien ging’s diesmal nicht.

Vor drei Monaten hatte ich die Truppe verlassen, als ich Ende Juni zum Armee-Ober-Kommando 2 versetzt worden war. Ich konnte dem Schicksal nur dankbar sein, hatte es mich doch in Verhältnisse geführt, wie ich sie mir schöner nicht wünschen konnte. Meine Tätigkeit als erster Ordonnanzoffizier, interessant und lehrreich, gewährte mir unmittelbaren Einblick in alle operativen Maßnahmen der Armeeführung. Der erste Generalstabsoffizier und damit die maßgebende Persönlichkeit der Operationsabteilung, zu der ich gehörte, war ein Onkel von mir. Auf seinem schönen Besitz Wusterhanse in Pommern hatte ich in Friedenszeiten frohe Sommerwochen verlebt. Nun lernte ich ihn auch als Vorgesetzten verehren. Als Anfang August an unserm Frontabschnitt der Großkampf wieder auflebte, schickte die Oberste Heeresleitung zur Entlastung der Tag und Nacht in Arbeit gespannten Operationsabteilung einen jüngeren Generalstabsoffizier, der Zufall fügte es, — meinen Bruder. So waren wir zu drei unseres Namens um den Oberbefehlshaber Exzellenz v. d. Marwitz versammelt. Selber Hinterpommer und angesessen im Kreise Köslin, verbanden den General viele gemeinsame Beziehungen mit uns. Es war nicht schwer für mich, sein Wohlwollen zu erringen. In dem um ihn versammelten Stab herrschte ein schöner kameradschaftlicher Geist, der von dem großen Zug im Wesen dieses vornehmen Mannes ausging. Wir alle bewunderten an ihm die Tapferkeit und das Gottvertrauen, mit dem er seine Armee durch diesen letzten langen Sturm führte, den der Weltkrieg am 8. August entfesselt hatte. An jenem Tage überrannte der Feind unter Ausnutzung seiner vorzüglichen rückwärtigen Verbindungen und begünstigt durch das undurchdringlich neblige Wetter mit Massen von Tanks die Stellungen unserer Armee. Die deutsche Front zu durchbrechen, gelang ihm nicht. Ludendorffs eiserne Energie hat das verhindert.

Zwei Monate waren seitdem vergangen, und noch immer währte der Sturm, verstärkte sich, hielt schließlich die Westfront vom Meer bis zur Mosel in Atem. Durch den ganzen Spätsommer raste er mit unerhörter Stärke. Ununterbrochen in ewig gleichbleibendem Rhythmus drang er tagein, tagaus in die Bewegtheit unserer Arbeit, in das Kommen und Gehen sich überstürzender Meldungen, in die wechselvollen Bilder ständig sich wandelnder Situationen. Ich registrierte ihn in allen seinen Phasen und Auswirkungen. Es war meine Aufgabe als erster Ordonnanzoffizier. Als solcher musste ich die Verbindung zur Front halten. So blieb ich fortlaufend in enger Beziehung zur Truppe, erlebte fast stündlich Einzelheiten und Gang der Ereignisse, sah, wie sie sich formten zu einem Geschehen von grandiosen Ausmaßen.

Erste Morgenmeldungen, die ich zur Weitergabe bis an die Oberste Heeresführung am Fernsprecher einsammelte, kündeten die blutigen Tage an. Häufige Fahrten als Begleiter des Oberbefehlhabers führten zum unmittelbaren Eindruck an der Front. Übermittlung letzter Befehle in die nächtliche Hölle hielten mich noch im Schlafe gefangen. Dann zogen oft durch meine Träume die müden, ausgezehrten Gestalten der Kameraden da vorne. Mit einem, fast schien es mir, vorwurfsvollen Blick schauten sie mich an, mit einer Frage: und wo bist du?

Da meldete ich mich zur Front.

Ich weiß es nicht, was mich dorthin zog. Vielleicht Bewunderung, vielleicht neidete ich den Kameraden die Seelengröße ihrer Hingabe. War es nur der Wunsch, vor Schluss des großen Krieges noch einmal mit dabei gewesen zu sein, oder Flucht vor den erbärmlichen Nachrichten aus der Heimat? Möglich, dass mich die Erkenntnis leitete: das ist der Endkampf um Sein oder Nichtsein, um Deutschland geht jetzt die Entscheidung, jeder halbwegs Waffenfähige gehört der kämpfenden Truppe. Gleichviel ob die Beweggründe heroisch oder primitiv waren, ich dachte damals nicht darüber nach, sondern ging.

Der Entschluss war allmählich gereift, seine Ausführung geschah plötzlich. Im Abschnitt unserer Armee war die 2. Radfahr-Infanterie-Brigade eingesetzt worden. Mit 6 Radfahr-Jäger-Bataillonen erst vor zwei Wochen ausgeruht aus Finnland an die Westfront beordert, zahlenmäßig stark und unverbraucht, eine Truppe von größtem Kampfwert. In einem der ersten Gefechte auf dem neuen Kriegsschauplatz war der Kommandeur eines der Jäger-Bataillone gefallen. Bei Aufnahme der Abendmeldung erfuhr ich diese Nachricht kurze Zeit später. Ich ließ mich mit dem Kommandeur der Brigade, Oberst Tümmel, verbinden und erinnerte ihn an ein altes Versprechen, das er mir vor dreiviertel Jahren in Italien gegeben hatte. Dort war er Kommandeur eines Jägerregiments und ich während der Kämpfe um das Monte-Grappa-Massiv Führer eines der ihm unterstellten Jägerbataillone. Kurze Zeit darauf wurde Oberst Tümmel als Kommandeur der Radfahrbrigade nach der Insel Ösel berufen. Als er sich von uns verabschiedete, fragte er mich, ob ich Lust hätte, ihm dorthin zu folgen. Falls ein Bataillon frei würde, wollte er mich dann als Führer anfordern. Heute nun erinnerte ich ihn an diese Worte und mit Erfolg. Bereits am nächsten Tage war ich an Stelle des gefallenen Führers zum Kommandeur des Radfahr-Jäger-Bataillons Nr. 7 ernannt.

Am 15. Oktober traf ich bei meiner neuen Truppe ein. Sie war Armeereserve und lag etwa 15 km hinter der Front in Le Quesnois. Ein Umstand, den ich begrüßte, denn er gab mir die Möglichkeit, persönliche Beziehungen zu meinen Untergebenen zu knüpfen. Am selben Tage noch suchte ich sämtliche Oberjäger und Jäger der sechs Radfahrkompagnien wie der Kraftwagen-Maschinengewehr- Kompagnie in ihren Quartieren auf. Ich habe damals mit jedem einzelnen Mann einige Worte gewechselt und den stolzen Eindruck gewonnen, an die Spitze einer Truppe gestellt zu sein, die mit heiligem Ernst entschlossen war, den Schicksalskampf des Vaterlandes bis zum letzten Manne durchzukämpfen. So war der Weg des Vertrauens bereitet. Schon am nächsten Tage sollten wir ihn gemeinsam beschreiten.

Früh 8 Uhr Alarm! Die Engländer waren mit starken Kräften während der ersten Morgenstunden über den Solesmes-Kanal vorgestoßen und hatten unsere Front bei Haussy eingedrückt. Ein Halbkreis von mehr als Divisionsbreite, ragten die feindlichen Linien nach Osten in die deutschen Stellungen hinein.

Das Bataillon hatte Befehl, den Gegner von Süden her durch Gegenangriff über den Kanal zurückzuwerfen, während von Norden her eine Infanteriedivision gegen die Einbruchsstelle angesetzt war.

Schon um die Mittagszeit war die bewegliche Truppe dicht hinter der Front versammelt. Hier, im Sichtbereich des Feindes, wurden die Fahrräder den Lastkraftwagen übergeben. Essenausgabe, dann Weitermarsch zur Ausgangsstellung. Gegen ½ 2 Uhr stand das Bataillon zum Angriff bereit. Unsere Artillerie schoss ununterbrochen, aber nur mäßig stark nach Haussy hinein. Eine unmittelbare Artillerievorbereitung war nicht vorgesehen.

Um 2 Uhr trat das Bataillon zum Angriff an. 3 Kompagnien in erster, 2 Kompagnien in zweiter Linie, hinter der Mitte eine Kompagnie in Reserve; alles dicht aufgeschlossen. Ich ging mit der vordersten Welle. Hügliges, im Übrigen deckungsloses Gelände, das unter allmählich stärker werdendem Granatfeuer lag, führte bis zur eigenen vorderen Linie. Als wir sie durchschritten, ging ein Gemurmel durch die Reihen der Infanteristen, halb erstaunt, halb beifällig: „Dunnerwetter, gehen die Jäger noch druff!“ Das spornte an. Da, vereinzelte Rufe hinter uns her: „Streikbrecher!“ Ich traute meinen Ohren nicht, war wie vom Schlage gerührt, denn das war Verrat! Folge marxistischer Verhetzung der Heimat oder Gift der Feindpropaganda? Ich wollte zurückspringen und den Schuft abknallen. Doch der Angriff rollte weiter und ich mit ihm.

„Gasmasken raus!“ Einen weiteren Kilometer mussten wir so vorwärts gehen, dann hatten wir die Sperre durchschritten. Gewehrschüsse peitschten vereinzelt.

Diesiges Wetter, kein Feind zu erblicken. Ein Höhenzug, heftiges Infanterie- und Maschinengewehrfeuer — 150 m vor uns lag das Dorf.

Ich blieb oben stehen, sah die lange Front meines Bataillons die Höhe überspringen, noch 50 m vorstürzen, dann wirft sie sich hin.

Nur durch 100 Schritt getrennt verbeißen sich die Linien im Feuerkampf. Die vorderen Kompagnien überschießend, greift vom Höhenzug aus die zweite Welle in den Kampf ein. Im Marsch-Marsch eilt die Reservekompagnie heran. Ich dirigiere sie hinter den äußersten rechten Flügel, dort am vorspringenden Kirchhof sind wir dem Gegner am nächsten. Als ihre dichtgedrängte Schwarmlinie auf der Höhe sichtbar wird, erhebt sich wie von einem Magneten gleichzeitig angezogen, das ganze Bataillon in allen seinen Teilen, von Flügel zu Flügel, und stürmt — ein großartiges Schlachtenbild — mit weithin schallendem „Hurra!“ die feindliche Stellung, verschwindet in Haussy, durchrennt das Dorf, erreicht den Kanal. Hunderte von Gefangenen kennzeichnen den Erfolg.

Einige Minuten später heult es von allen Seiten heran. Das Dorf liegt unter dem zerkrachenden Feuer der gesamten feindlichen Artillerie. Ich orientiere mich.

Die Meldungen der Kompagnien vervollständigen das Bild. Der Angriff der von Norden angesetzten deutschen Division ist missglückt.

Im Rücken unseres rechten Flügels und von da nach Norden liegt der Engländer in seinen am Morgen gewonnenen Stellungen diesseits des Kanals. Eine unmögliche Lage.

Dazu nur noch eine Stunde Tag. Wir sind gezwungen, aus eigenem Entschluss zu handeln. Besprechung mit den Kompanieführern, oft konnten wir uns wegen der rundum einschlagenden schweren Kaliber kaum verständigen. Ergebnis: ein freiwilliger zweiter Angriff, zu dem ich drei Kompagnien aus der Front ziehe.

Der errungene Sieg, die geringen Verluste, das Tempo der Handlung — ihre Stimmung ist glänzend! Bei einbrechender Dunkelheit gehen sie vor, packen im Stoßtruppangriff die feindlichen Stellungen in Rücken und Flanke, rollen auf, schlagen tot, machen weitere Gefangene, jagen den Tommy vor sich her, hetzen ihn aufs andere Ufer, erreichen den Kanal.

Als die Nacht über das Schlachtfeld sinkt, ist die gesamte Stellung wieder in deutscher Hand.

Heeresbericht vom 18. Oktober 1918:

„Am Selle-Abschnitt drang der Gegner bei Haussy in unsere Linien ein. Radfahrer-Bataillone warfen den Feind im Gegenangriff zurück und nahmen die alte Stellung wieder.“

So erfüllten wir Frontsoldaten bis zum legten Tage des Krieges unsere nur selbstverständliche Pflicht.

*

Zu gleicher Zeit spielten sich in Berlin jene gewaltigen parlamentarischen Kämpfe ab, wochenlange Rede- und Verhandlungsschlachten, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten. Schließlich gelang es den hinter der Erzbergerschen Friedensresolution stehenden schwarzen, roten und goldenen Parteien die „frivolen“ Bestrebungen eines „verbrecherischen Militarismus“ zu verhindern, welcher durch eine Erhebung des deutschen Volkes die Widerstandskraft der Front stärken und damit die Grundlage für einen annehmbaren Frieden schaffen wollte . . .

Die Beurteilung dieses schwarz-rot-goldenen Sieges, der zum Zusammenbruch Deutschlands, zum Verlust des Krieges und zum Schmachfrieden von Versailles führte, ist verschieden.

Scheidemann, eine der markantesten Erscheinungen aller Heimatkrieger, pries ihn von den Treppenstufen des Reichstages herab und angesichts des Monuments seines Vorgängers als Reichskanzler, eines gewissen Bismarck, mit den Worten: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt.“

Anders unsere Feinde! Die prägten das Wort vom Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres.

Wir Wehr-Wölfe

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