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Der Türmer von Sankt Marien

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Am feierlichen Eröffnungstag der Sankt-Georgen-Plattform und des neuen Fahrstuhles im Mai des Jahres 2014 gab es einige technische Probleme. Eine unsachgemäße Verlegung der elektrischen Leitungen wurde vermutet, aber die wahre Ursache liegt Jahrhunderte zurück...

Hinrich Pirsdorp schaute grummelnd aus der Türmerkammer von Sankt Marien hinüber nach Sankt Georgen. „Die Georgskirche soll wieder keinen Turm bekommen, morgen gehe ich zum Rat. Sie müssen mir erklären, warum sie ihr Versprechen nicht halten wollen.“

Wir schreiben das Jahr 1606, und Hinrich Pirsdorp ist einer der Türmer auf Sankt Marien. Sein Groll gegen den Rat scheint berechtigt. Die Verantwortung auf den Türmen der Stadtkirchen ist groß, der Lohn dafür eher bescheiden klein. Bekommt er für seine Dienste gerade einmal 40 Mark jährlich auf die Hand, so erhält Bartold Bolmeyer auf Sankt Nikolai 43 Mark. Diese Ungerechtigkeit schreit gen Himmel, muss doch der Bolmeyer viel weniger dafür tun. Um halb neun Uhr abends geht er das letzte Mal hinauf und dann braucht er sich erst morgens um vier Uhr die Stufen wieder hoch zu quälen. Pirsdorp dagegen muss die ganze Nacht stündlich von allen vier Seiten des Turms das Horn blasen. Noch dazu verdient sich Bartold den einen oder anderen Schilling als Kunstpfeifer bei Hochzeiten und dergleichen.

So konnte es nicht weitergehen.

Beim letzten Vorsprechen im Rathaus hatte man zu Hinrich Pirsdorp gesagt, dass nun endlich, nach Jahrhunderten, die Sankt Georgen Kirche einen Turm bekommen sollte. Höher und schöner als die der beiden anderen großen Stadtkirchen sollte er sein. Die Türmer würden umziehen und ihre Feuerwache künftig von der Georgskirche aus halten.

Wie hatte er sich gefreut, sollte doch sein Lohn um 6 Mark und 9 Schillinge im Jahr steigen. Nun aber gingen Gerüchte um, dass der Rat den Turmbau zurückgestellt hätte.

So zog er sein bestes Wams an und überlegte sich auf dem Weg zum Marktplatz, ob er der Ratsversammlung als Bittsteller oder fordernder Wismarer Bürger gegenübertreten sollte. Wohl war ihm bei der Sache nicht, aber zu Hause war bald ein neues Maul zu stopfen, also musste er diesen Schritt wagen.

Die wenigen Stufen zur Rathaustür empor schienen ihm schwieriger zu erklimmen, als der tägliche Weg in die Kirchturmspitze. Auf jedem Absatz blieb er stehen und atmete tief durch. Beklemmung legte sich auf seine Brust. Hinrich drehte sich um und schaute auf das Markttreiben hinter ihm. Schon lange hatte er seiner Frau kein Stück Stoff mehr mitgebracht, oder seinen Kinder eine kleine Honigleckerei. Das Geld dafür fehlte ihm einfach.

Also los, es würde ihn nicht das Leben kosten, nur etwas Mut, um berechtigt nach mehr Lohn zu fragen.


So einfach war es dann aber doch nicht. Zitternd stand er vor den hohen Herren in ihren schwarzsamtenen Umhängen. Die weißen Kragen an ihren Hälsen leuchteten ihm scheinbar verächtlich entgegen.

Hinrichs Herz schlug einen Takt an, den er nicht kannte. Obgleich er durch das viele Treppensteigen gut beieinander war, schien ihn die Aufregung schier umzuhauen.

Leise und zögerlich trug er dann auch sein Begehren vor.

„Hoher Rat, mir ist zugetragen worden, dass der Turm von Sankt Georgen nun doch nicht erbaut werden soll. Entspricht dieses Gerücht der Wahrheit, und wenn ja, kann ich trotzdem eine Bitte um mehr Lohn vorbringen? Meine Familie wächst. Sind die Herren geneigt, mir darauf eine förderliche Auskunft zu geben?“

Die Ratsherren schauten sich kurz an und ohne lange zu überlegen warf man ihm die knappe Antwort an den Kopf.

„Auf der Insel Poel muss eine Festung gebaut werden und das kostet. Die Spanier haben Wismarsche Schiffe beschlagnahmt und in ihre Dienste gepresst, Verluste, die niemand ersetzt. Das Stadtsäckel ist leer, aber er, der Türmer, ist anscheinend mit Dreistigkeit voll bis an den Hals. Sei er froh, dass die Stadt weiterhin so viele Türmer beschäftigen werde, und außerdem, für die Anzahl seiner Kinder sei keiner der hohen Herren verantwortlich.“

Lautes Lachen ertönte im Saal, man wies ihm die Tür und lies ihn hinauswerfen.

Hinrich Pirsdorp griff sich an die Brust. Sein Herz pumpte ihm alles Blut in den Kopf. Er sackte zusammen und schlug auf dem feinen Parkett des Rathaussaales auf. Der Ratsdiener beugte sich über ihn. Hinrich schaute ihn mit flatternden Augen an und flüsterte ihm zu: „Ich werde keine Ruhe geben. Sollte der Wismarer Rat jemals einen Turm auf die Georgskirche setzen, werde ich nicht zulassen, dass er ungestraft bestiegen werden kann.“

Dann starb er.

Die Sankt Georgen Kirche hat nie einen Turm bekommen.

Im Jahr 2014 wurde eine Aussichtsplattform auf dem Turmstumpf errichtet. Ein Fahrstuhl bringt die Besucher hinauf. Am feierlichen Eröffnungstag schlug dieser gleich zweimal Funken. Die Gäste sahen sich gezwungen die Plattform über eine Wendeltreppe zu verlassen. In der allgemeinen Aufregung hörte niemand das leise Lachen von Hinrich Pirsdorp, der den Spieß seiner Turmwächterausrüstung in die Elektronik gestoßen hatte.

Sagenhaftes Wismar

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