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2. Kapitel: Stationen einer Reise

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Starnsum in der Glitta

Als Ulf am nächsten Morgen in eklig klammen und kalten Gummistiefeln zum Postamt von Starnsum gewatet kam, waren Jettchen und Dörmann bereits da. Dörmann schob eben das dunkeläugige Flusskind über den Tresen hinüber zu Frau Niemeyer, die öfter mal die Kinder der Starnsummer in Verwahrung nahm. Ulf selbst hatte einen Großteil seines Lebens in Frau Niemeyers Postamt zugebracht.

Er wuchtete seinen schweren Koffer ebenfalls auf den Tresen und stellte fest, dass er noch einige Minuten Zeit hatte, bis der Traktor kam, um sie zum nahegelegenen Bahnhof von Barkhenburg zu transportieren. In Zeiten des Hochwassers wagte sich grundsätzlich kein Bus in diese Gegend. Nur Hoffmeisters Traktor fuhr dreist weiter querfeldein und nahm schon mal ab und zu Passagiere mit. An solchen Tagen wurde dann die kleine Post von Starnsum zur Traktorhaltestelle.

Johanna wurde zusammen mit dem posteigenen Teddybären Rolfi, mit dem schon ganze Generationen von Starnsummern gespielt hatten, in der Paketablage verstaut. Da war sie gut aufgehoben, solange Dörmann in der Stadt zu tun hatte.

Ulf kramte ein Fünfmarkstück aus der Hosentasche und kaufte noch rasch ein paar Briefmarken. Die würde er zwar in Hannover auch nicht wesentlich teurer kriegen, glaubte er, aber über dem Tresen von Frau Niemeyer schwebte nun einmal seit der Zerschlagung der Post unverscheuchbar der Pleitegeier, und wenn der Umsatz nicht hoch genug war, würde der Schalter bald unweigerlich geschlossen werden. Da musste man wenigstens noch ein paar Mark investieren, fand Ulf.

Er sah sich noch einmal um in dem kleinen Raum, der bei seiner Rückkehr vielleicht schon leergeräumt sein würde. Die Wände waren seit Jahren schon nicht mehr gestrichen worden, und das ständige Hochwasser trug auch nicht gerade zur Verschönerung bei. Dafür stand aber immer eine Schale mit Bonbons bereit, aus der er, Dörmann und Jettchen sich auch heute wieder reichlich bedient hatten, das machte das Zimmer wieder etwas wohnlicher. An der Tür hingen die Fahndungsfotos von Terroristen, die schon vor 25 Jahren geschnappt worden waren, daneben der vergilbte Steckbrief von Simon Fischer aus derselben Zeit; der hatte damals in Hildesheim das Hauptpostamt überfallen und 20.000,- DM erbeutet. Die Polizei bat immer noch um sachdienliche Hinweise und versprach eine Belohnung. Ulf lachte leise. Er würde denen nicht mal die Uhrzeit sagen.

„Da ist noch Post für Sie, Herr Pastor“, sagte Frau Niemeyer und kramte einige an „Herrn Peter Dörmann, Pastor in Starnsum“ adressierte Briefe hervor. Einer trug den Stempel des Hildesheimer Bischofs. Dörmann stopfte sie alle zusammen in seine Jackentasche. Dann fuhr draußen der Traktor vor, und die drei verließen die Post.

*

Einziger und Hauptbahnhof Barkhenburg

Hoffmeister hatte Ulfs Koffer noch bis zum Bahnsteig getragen. Das wollte Ulf zwar eigentlich lieber selbst tun, aber Hoffmeister bestand darauf, „wo der Junge doch bald einen studierten und gebildeten Menschen werden würde.“

Der Koffer war wirklich sehr schwer. Ulf hatte ihn randvoll mit Büchern gepackt. Seine anderen Sachen wollte ihm die Mutter mit der Post nachschicken, aber von den Büchern trennte er sich eben nicht so gern.

„Weißt du, Ulf“, sagte Hoffmeister abschließend, „ich denke mir ja, wenn du erstmal alles gelernt hast, was in den Büchern steht, dann kannst du auch was gegen das mit dem Hochwasser machen.“

Ulf wusste nicht so recht, was er darauf sagen sollte. Er würde nicht als Jurist oder Hydrostatiker zurückkommen. Aber er brachte es nicht fertig, Hoffmeister über die Natur seines Studiums aufzuklären. Außerdem hatte er den alten Bauern noch nie im Leben einen so langen und zusammenhängenden Satz sprechen hören. Hoffmeister, der aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft von den Starnsummern immer wieder mit überwältigender Mehrheit zum Ortsvorsteher gewählt wurde, war leider alles andere als ein brillanter Redner. Stotternd, herumdrucksend und undeutlich artikulierend war er stets von jedem Behördenvertreter ohne Probleme über den Tisch zu ziehen. Kein Wunder, dass der aalglatte Gemeindedirektor Vettermann da Oberwasser behielt. Und nun so ein langer Satz von Hoffmeister. Ulf versprach, sein Bestes zu geben (das hatte er sowieso vor), und überlegte, ob Starnsum nicht einfach medienwirksamer absaufen konnte. Das würde vielleicht zu machen sein ...

Die drei sahen Hoffmeister nach, wie er auf seinen Trecker kletterte und langsam davontuckerte.

„Tja", sagte Dörmann. „Das war das.“

Jettchen wuselte ein wenig auf dem Bahnsteig herum und studierte schließlich zum hundertsten Mal in ihrem Leben die Tafel mit den Ankunftszeiten der Züge. In den großen Bahnhöfen gab es ja immer zwei Tafeln: eine, über der „Ankunft“ stand, und eine mit der Überschrift „Abfahrt“. Aber in Barkhenburg hielten sich die Züge nie lange auf, und so brauchte man nur eine Tafel. Es gab auch nur noch zwei Gleise, man konnte sich nicht irren. Vor Jahren waren es einmal drei gewesen, und es war noch gut zu erkennen, wo die Schienen damals gelegen hatten, aber nun ging die Fahrt entweder nach Nordwesten oder nach Südosten. Sie wollten nach Nordwest.

„Was soll nun eigentlich aus Johanna werden?“, fragte Ulf und tastete nach seinem Semesterticket, das ihm eine Fahrtermäßigung von ca. 5,- DM bescheren würde. Der Fahrkartenschalter von Barkhenburg war schon lange zugenagelt, und daher würde der Zugschaffner den Preis für die Reise nach Hannover berechnen müssen. Ulf freute sich schon auf dessen angestrengt rechnendes Gesicht ...

„Sie ist sehr laut“, meinte Dörmann. „Was hältst du von Opernsängerin?“

Die Ankunft des Zuges enthob Ulf der Antwort.

*

Hildesheim, Stadt an Innerste und Treibe


Als der Zug im Hauptbahnhof von Hildesheim einlief, hatte sich Dörmann immer noch nicht darüber geäußert, was er mit Johanna anzufangen gedachte. Ulf schloss daraus, dass er die Kleine behalten wollte. In Starnsum war man es gewohnt, sich an das zu halten, was der Pastor nicht sagte.

Ulf schaute den beiden nach, wie sie in Richtung der Schule Jettchens davonzogen, dann öffnete er seinen Koffer und holte die Schachtel Schokoladenkekse hervor, die seine Mutter ihm eingepackt hatte. Oben auf die Bücher hatte er zwei Bilder gepackt, zur Erinnerung. Das eine war ein Foto und zeigte seine Eltern und Harraß am Ufer der sommerlichen Glitta. Das andere hatte er gestern Abend noch gezeichnet, zuerst mit Bleistift; die Linien hatte er dann mit einem schwarzen Roller-Pen nachgezogen: der Kröpke, auf dem die aufgebrachten Rindviecher ihr Transparent entrollten. Das Bild war ihm nicht gelungen. Er hatte zwar mit Schattierungen einiges überdecken können, aber es ließ sich nicht verbergen, dass er einfach keine Kühe malen konnte. Die Tiere sahen bei ihm immer etwas wie dalmatinergemusterte Pferde aus; und die Gesichter der Schweine schauten ihn wie Harraß an: gerunzelte Nase, Schlappohren; Augen, in denen man fast nur das Weiße sah: wie ein Dackel kurz vor dem Zubeißen. Eigentlich hätte er noch gern ein Bild von Dörmann, Jettchen und Johanna mitgenommen. Aber Dörmann gab nicht gern ein Foto von sich aus der Hand. Klar.

Und Johanna? Ulf zermalmte einen der Schokoladenkekse zwischen den Zähnen und hob den Koffer zurück in die Ablage. Dörmann hatte sich an den Spekulationen über ihre Herkunft nicht beteiligt, aber der fehlerhaft geschriebene Zettel und der dunkle Teint des Kindes wiesen auf die ihrer Abschiebung harrenden Asylbewerber von Barkhenburg hin. Nur eine Vermutung, wohlgemerkt. Und was sollte nun werden. Er schob das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Jettchen und Dörmann waren schon verschwunden, genau wie auch er bald verschwinden würde, wenn der Zug weiterfuhr.

Draußen lag Hildesheim, die Stadt von Dörmanns Bischof, der sich wahrscheinlich auch seine Gedanken machen würde, wenn er davon erfuhr, dass im Hause des Pastors ein Säugling aufgetaucht war. Der Bischof saß in seiner trockenen Stadt an der Innerste und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, aber Dörmann hatte nun einmal an der Glitta seine Schäflein ins Trockene zu bringen, das war etwas anderes.

O Hildesheim an der Innerste, du traditionsreiche und wohlkanalisierte Stadt des heiligen Bischof Bernward, reich an Kunstschätzen aus Ägypten, dem vom fruchtbaren Nil regelmäßig überschwemmten Lande, und selbst so gesegnet mit deinem Flusse. Ulf lachte leise, und es klang ein wenig schadenfroh. Ja, wenn man es nicht besser wusste. Er wusste es besser. Er wusste, dass es neben der friedlichen Innerste auch noch die Treibe gab, den reißenden unterirdischen Strom, die kostenverschlingende Treibe. Es gab mehrstöckige, prächtige Gebäude in Hildesheim, bei denen das Fundament um einiges teurer war als alles, was sich über der Erde befand. Nur kein Neid.

„Ist hier noch frei?“

Ein kastanienbrauner Irish Setter mit glänzendem Fell und dunklen, intelligenten Augen schob sich zur Tür herein. Sein Mensch sah etwa so aus, wie Ulf sich immer die Gaby Glockner aus den TKKG-Büchern vorgestellt hatte.

„Bitte“, sagte Ulf und streckte die Hand nach dem Jagdhund aus, der schwanzwedelnd seine Hosenbeine beschnupperte. Harraß hatte an Ulfs Jeans einen kräftigen Dackelgeruch hinterlassen; Ulf bekam daher immer sehr schnell Kontakt zu fremden Hunden, und auch mit diesem hier hatte er Freundschaft geschlossen, noch bevor Gaby ihren Koffer in die Ablage gewuchtet hatte.

„Das macht er mit Fremden sonst nicht“, stellte sie anerkennend fest, als das Tier Ulfs Hand leckte.

„Ich hab 'n Dackel“, klärte Ulf auf.

Gaby mochte Dackel, wenn sie auch ihren Falk nicht gegen einen eintauschen wollte. Sie nahm einen von Ulfs Schokoladenkeksen an und brachte ihn ohne Probleme hinunter.

„Andrea Hardenstein“, stellte sie sich vor. „Ich studiere Bio und Kunstgeschichte auf Lehramt.“

„Ulf Wiekbold“, sagte Ulf und fügte lauernd hinzu: „Magister.“

Andrea lachte fröhlich. „Magister Wiekbold“, lachte sie.

Ulf lachte auch. Man verstand sich.

Dann fuhr der Zug an.

*

Landeshauptstadt Hannover

Ulf und Andrea trennten sich auf dem Hauptbahnhof von Hannover und versprachen, einander bald wiederzusehen. Er schaute ihr und Falk noch eine Weile nach, bis die Rolltreppe sie ins Reich der U-Bahn davonge- - was immer U-Bahn-Rolltreppen eben mit Menschen und Hunden so tun.

Er konnte Menschen nicht leiden, die ihren Hunden das Stadtleben zumuteten. Aber bei Andrea und Falk lagen die Verhältnisse etwas anders.

Ulf zerrte den Koffer hinter sich her zum Ausgang. Sie hatten die ganze Fahrt über nur von Settern und Dackeln geredet. Bis auf die Zeit, wo Andrea ihm - flüchtig, mit drei Kugelschreiberstrichen - eine DIN-gerechte Kuh aufs Papier geworfen hatte. Naja, die studierte das ja auch.

Vor dem Bahnhof wäre Ulf beinahe in ein Denkmal hineingerannt, das ihm dort den Weg versperrte, König Ernst August, hoch zu Ross. Stirnrunzelnd las er die Inschrift am Sockel: „Dem Landesvater sein treues Volk.“ Dem Genitiv sein Aussterben griff wirklich beängstigend schnell um sich. Er würde Sorge tragen müssen, dass er sich sein gepflegtes Hochdeutsch in dieser Stadt nicht vollkommen ruinierte ...

Ulf schleppte sein Gepäck zum nächsten Taxi, ließ sich dann auf den Sitz fallen und gab seine neue Adresse an: „Theodor-Mundt-Straße 25 bitte.“

Ja, und das war es dann. Exakt eine Stunde und siebzehn Minuten nach seinem Aufbruch von Starnsum warf er sich in seiner Wohnung aufs Bett und blieb dort liegen. Er war zu Hause.

Ulf

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