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22.12., nachmittags

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Mein erster Zeuge war also König, Kain König. Ich ging die paar Schritte zu seinem Haus, welches von außen um einiges heimeliger wirkte als die architektonische Scheußlichkeit des Opfers. Kaum hatte ich angeklingelt, öffnete sich auch schon die Tür, so dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Einen kleinen, dicken Spaniel zurechtweisend, stand ein kleiner, dicker Mann in der Tür und sprach so halbwegs in meine Richtung:

„Platz, mach Platz jetzt, komm rein, hast du Angst, brauchst du nicht, der tut nur was, wenn er die Leute nicht mag, mach jetzt Platz, und den einzigen, den er nicht mochte, schafft ihr ja wohl gerade weg. Kaffee? Mach Platz jetzt!“

Während ich die Worte noch nach ihren Adressaten sortierte, ging er voraus in die Küche, begleitet von seinem sich vor Freude über meinen Besuch windenden Hund. Er zeigte auf einen Stuhl, nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank, stellte sie neben eine erste auf den Tisch, schenkte beide halb voll.

„Milch? Zucker?“ fragend wies er auf Milch und Zucker, setzte sich, erneut auf einen freien Stuhl deutend, an den Tisch. Auf der Arbeitsplatte neben der Kaffeemaschine stand ein Netbook, aufgeklappt. Auf dem Monitor sah ich acht kleine Bildausschnitte: ich erkannte den Mühlenhof, ein Stück der Dorfstraße, Franzkowskis Garten. Die anderen Einstellungen zeigten Wege und Gebäude, die ich in der wahren Welt noch nicht gesehen hatte. König drückte eine Taste, der Garten-Ausschnitt vergrößerte sich. Ich sah die Männer von der KTU bei dem Versuch, die Leiche aus der Regentonne zu bugsieren. Das Wasser hatten sie abgelassen, nun schien sich der Körper verklemmt zu haben. Es gab keinen Ton zum Bild, aber ich ahnte ihr Fluchen.

„Danke, Schwarz.“ sagte ich und, mit Blick auf den Bildschirm: „Da sieht man so manchen kommen, bevor er klingelt. Ist natürlich besser, als sich draußen vor Neugier die Füße abzufrieren.“

„Live-Web-Cam“ sagte Kain König. „Hat der Heimatverein mal eingerichtet. Kann man immer mal gucken, wo was los ist, wenn was los ist.“ Und fügte mit einem bedauernden Lächeln hinzu: „Wird aber leider nicht aufgezeichnet.“

„Schade. Wäre ja auch zu einfach gewesen.“

Auf dem Monitor konnte ich nun beobachten, wie die KTU die Tonne umkippte, die Leiche herauszog. Fotos wurden gemacht. König tippte auf der Tastatur, zoomte das Bild heran. „Franzkowski. Hätte ihm nicht gefallen, dass ihn jetzt alle im Bademantel sehen.“ Er wandte sich wieder seinem Kaffee zu, trank einen Schluck, grinste vor sich hin und sagte: „Find ich gut.“

Wie reagiert jemand, dessen Nachbar gerade aus einer Regentonne gekippt wird? Entspannt, gastfreundlich, belustigt? Eher nicht. Wie reagiert jemand, der gerade seinen Nachbarn ermordet hat? Gleiche Antwort. Ich versuchte, mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen.

„Sie mochten ihn nicht besonders?“

„Weißt du, das wird hier ein schweres Stück Arbeit für dich.“ beantwortete König meine Frage nicht. „Franzkowski war ein Riesenarsch, viele glauben, mehr als das, und es gibt sicherlich keinen hier im Dorf, der dem nur eine Träne nachweint.“

Er hielt inne, als müsste er kurz überlegen, ob er dabei auch an alle gedacht hatte. Dann fuhr er etwas unsicher fort:

„Wie auch immer. Wenn wir mal davon ausgehen, dass er uns nicht aus plötzlich erwachter Nächstenliebe den Gefallen getan hat, sich selbst kopfüber im Bademantel in seine Regentonne zu werfen und dass es kein missglückter Versuch morgendlicher Körperhygiene war, suchen wir also einen Mörder. Das erste Problem ist: fast jeder hätte ein Motiv. Das zweite Problem: Wahrscheinlich hat niemand ein Alibi, den entweder feiern wir irgendein Dorffest oder Geburtstag, und da sind dann alle; oder wir haben kein Dorffest und keinen Geburtstag, dann sitzt jeder zu Hause und freut sich aufs nächste Dorffest.“

„Oder auf den nächsten Geburtstag.“

„Genau. Kommen wir zum dritten Problem: Niemand hier würde jemanden umbringen. Sei er auch so ein...„

Wieder stockte König, spuckte dann das nächste Wort förmlich aus:

„...Teufel wie der da."

Er nickte Richtung Netbook und atmete tief durch.

"Wir sind ziemlich friedliebende Leute, und wir haben schon seit langem für uns beschlossen, dass ein Arschloch auf siebzig Einwohner eine Quote ist, mit der man ganz gut leben kann.“

Erneut hielt König kurz inne, lächelte, und fuhr fort:

“Ohne den wird’s natürlich noch schöner, weißt du?“

Königs Duzerei wollte ich nicht länger ignorieren und fragte betont förmlich:

„Was war denn IHR Problem mit dem Verstorbenen?“

König ignorierte im Gegenzug sowohl mein Siezen als auch meine Frage: „Pass auf, wir machen das anders. Ich habe noch einen Termin, deswegen bin ich auch so aufgebrezelt.“ Im Aufstehen wies er beidhändig auf den seine Leibesfülle umschmeichelnden grauen Anzug, „aber vorher bring ich dich zu Paul, der hat ein Ferienzimmer oder zumindest so was Ähnliches. Und in etwa zwei, drei Stunden treffen sich da die üblichen Verdächtigen, also fast alle außer den Alten und Gebrechlichen und Irrelevanten. Dann erzählen wir dir alles, was du wissen willst, okay?“

„Weil der Paul Geburtstag hat.“ riet ich.

„Genau.“ bestätigte König nickend.

Er stand auf, griff sich seinen Pott, rief den Hund.

„Nimm deinen Kaffee ruhig mit, ist gleich um die Ecke“ sagte er und ging vor. Die Männer von der KTU schoben gerade die eingesackte Leiche zum Abtransport in ihren Sprinter. Die Zeiten, in denen dafür extra ein Leichenwagen angefordert wurde, waren, ebenso wie die Zeiten ermittelnder Teams, vorbei. Das Eine war mir egal, das Andere war mir nur recht.

„Und?“ fragte ich den KTU-Chef.

„Genickbruch, unschwer zu erkennen. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen. Fingerabdrücke an der Leiche eher unwahrscheinlich nach der Nacht im Eiswasser. Wir packen noch die Regentonne ein, vielleicht gibt es da was. Drinnen sind wir soweit fertig, im Erdgeschoß keine Hinweise auf Gewaltanwendung, Kampfspuren oder sonst was, Oben desgleichen, Keller hat‘s keinen. Tür war nicht abgeschlossen, Schlüssel steckt noch von innen. Mehr dann nach Weihnachten.“

„Ach, Scheiße ja, Weihnachten! Also...“

„In einer Woche.“ sagte der KTU-Chef und grummelte noch etwas, was ich lieber nicht verstehen wollte.

Im Vorbeigehen sagte König zu den beiden Polizisten: „Ist noch Kaffee da, bedient euch.“ Sofort machten sich die Beiden auf den Weg zu Königs unverschlossener Haustür.

„Schöner 1501,“ sagte König mit Blick auf meinen Wagen, und fügte dann, seine Augen mit einer Hand theatralisch vor dem Anblick des franzkowskischen Eigenheims schützend, hinzu: „Herber Kontrast!“

Wir liefen, die qualmenden Kaffeebecher in den Händen, etwa einhundert Meter den Weg zurück. Unter den Linden stützte sich dort auf seinen Besen der Weihnachtsmann, wie er im Kinderbuche steht. Um die Siebzig, schätzte ich (ziemlich falsch, wie ich später erfuhr), groß, korpulent, ohne fett zu wirken, weißhaarig, weißbärtig, mit buschigen Koteletten und ebensolchen Augenbrauen. Hochschaftige Lederstiefel, Kleppermantel. Und als wäre sie einem tschechischen Märchenfilm entsprungen, kam seine um einige Jahre jünger wirkende Weihnachtsfrau in ein Lodencape gehüllt, ein neckisches Hütchen mit Feder auf ihrem grauen Haar balancierend, soeben den frisch gefegten Weg von einem sonnengelb verputzten Häuschen daher, zwei qualmende Kaffeebecher in den Händen. Winterliches Outdoor-Kaffeetrinken schien hier Sitte zu sein. Zugleich erreichten wir die Linde und König stellte, nacheinander auf Weihnachtsfrau, Weihnachtsmann und mich weisend, vor: „Paulchen. Paul.“ und nach kurzem Zögern: „Polizei.“ Da mein Nachname die Alliteration gestört hätte, beließ ich es dabei, reichte meine Hand und bekam sie von ihr überraschend und von ihm schmerzhaft kräftig gedrückt zurück. „Der Ermittler hier braucht erstens eine Bleibe für die Nacht und zweitens eine Einladung für deine Geburtstagsfeier.“ erläuterte König. „Ach ja, richtig,“ fiel mir ein, „Glückwunsch auch.“ Leichtsinnig reichte ich meine Hand aufs Neue. „Danke,“ sagte Paul fröhlich, „dass schönste Geschenk habe ich ja mit dem Ableben des Stinkstiefels schon bekommen. Einladung geht klar, gibt ja ordentlich was zu erzählen heute, und die Unterkunft, die zeigt dir Paulchen, nöch?“ „Gerne“, sagte die Weihnachtsfrau, „dann komm mal mit.“ Ich gab Kain König meine leere Kaffeetasse, kontrollierte möglichst unauffällig mit meiner linken Hand die Intaktheit der Knochen in meiner Rechten und folgte Paulchen.

Der Weg führte am Haus vorbei durch eine kleine Tannenschonung zu einer Blockhütte, die am Ufer des schmalen Flusses lag. In der einsetzenden Dämmerung entfaltete ein Fischreiher gemächlich seine Flügel, stieß sich kraftvoll vom Boden ab, gewann mit zwei, drei ausladenden Schlägen an Höhe und glitt dann einer ruhigeren Uferstelle entgegen. Auf der kleinen Veranda vor der Hütte war in einer Ecke ein Stapel Feuerholz aufgeschichtet. Obenauf schnäbelte ein Entenpaar und ließ sich dabei auch nicht stören, als Paulchen die Tür öffnete. Sie ging vorweg in den einen, großen Raum und kniete sich sogleich vor einen offenen Kamin, nahm einen Kien und zwei dünne Scheite aus einem Weidenkorb, schob sie unter den vorbereiteten Holzstapel und zündete mit einem langen Streichholz das Feuer an. Während sie sich so routiniert am Kamin zu schaffen machte, schaute ich mich im einzigen Raum der Holzhütte um. Ein Tisch, drei Stühle, breites Bett, Kochecke, Schrank, Bücherregal. Decke, Boden, Wände: Helles Holz, Tanne, Fichte, so was. Das Mobiliar: Dunkel. Das Holz der Tischplatte schimmerte walnussgrün, das des Bücherregals kirschrot. Der Schrank schien neben der Gastgeberin das einzig wirklich Alte in diesem Raum und aus Eiche zu sein. Schlicht, aber gemütlich. Vorausgesetzt, man mochte Holz.

Schon loderten die Flammen und sandten erste Wärmestrahlen aus. Ebenso behände wie sie sich niedergekniet hatte stand Paulchen wieder auf. Ihre Bewegungen wirkten auf mich beeindruckend ... unalt.

„Das Bad ist hinten bei uns im Haus, Hintertür ist immer offen. Holz liegt reichlich auf der Veranda, hast du ja gesehen. Ich muss mich jetzt mal ums Geburtstagsessen kümmern, geht ja bald los. Du kommst dann nach vorne, wann immer dir danach ist, ja?“ Sprach‘s, erwartete keine Antwort, lächelte herzerwärmend und verschwand.

Ich wärmte mich ein wenig am Feuer, dann warf ich einen Blick auf das Bücherregal. Ich hatte nicht unbedingt Readers Digest erwartet, war aber doch überrascht: Die fünfteilige Trilogie des „Anhalters“ von Douglas Adams zwischen einer Carlo-Schmid-Biografie und Madame Bovary. Der Flaubert war im Original, die Shakespeare-Ausgabe daneben in der Übersetzung von Erich Fried. Sah alles ziemlich gelesen aus.

Als Buchstütze diente auf einer Seite des Regals eine bauchige Flasche mit bernsteinfarbenem Inhalt. Ich nahm die Flasche vom Regal. Kein Etikett. Der letzte Shakespeare kippte rechts vom Regal, landete mit dumpfem Ton auf seinem Rücken und blieb aufgeschlagen liegen. Ich zog langsam den Korken aus der Flasche und roch vorsichtig Torf, Asphalt, Gummi und Aprikose. Von den vier schlichten Wassergläsern, die kopfüber mittig auf dem Tisch standen, nahm ich mir eines und füllte es behutsam nicht ganz bis zu einem Viertel. Ich zog einen der Stühle vor den Kamin, setzte mich, schaute ins Feuer, roch und trank. Wenn das mal nicht der Whiskey war, den der Beerhunter zur Morgenzigarre empfohlen hatte. In einer Hand das Glas, hob ich mit der anderen den offenen Shakespeare vom Boden und las: „Ich schwör bei dieser Flasche, ich will dein treuer Untertan sein. Denn dieser Trank ist nicht von dieser Welt!“

Das Häuschen gemütlich, die Leute freundlich, das Kaminfeuer wärmend, der Whiskey f a n t a s t i s c h!

Warum war ich nur so wütend?

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