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II

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Die Stadt liegt an der Saale, beiderseits des Flusses, wie viele Städte an seinen Ufern, geteilt in die Berg- und die Talstadt.

Im unteren Saaletal liegt die Stadt. Alt und ehrwürdig der Stadtkern um das Schloss, den man mit Mühe vor dem Verfall bewahrt. Schiefergedeckte Dächer mit Türmchen, Gauben und Wetterhähnen, verspielte Fassaden, Erker, säulengerahmte Türen. Erinnerungen an die Blütezeit der Stadt in den Goldenen Zwanzigern: feinstes, solidestes Bürgertum atmend.

Nun wieder Sanierungsobjekt, begehrt bei Zahnärzten, Maklern, Notaren.

Imposantestes Bauwerk: das Schloss mit dem dicken Eulenspiegelturm über dem Fluss. Konglomerat mehrerer Stilepochen und zurückdatierbar bis auf das 10. Jahrhundert.

Lauschig, die Schlossgärten zu Füßen des Bauwerkes, einst Arznei- und Gewürzgärten.

Gern besucht: der Bärenzwinger im Schloss, aufwendig erneuert. Die Stadt muss sich präsentieren.

Unten schimmert die Saale. Sie hat sich erholt seit der Stilllegung der hiesigen Papierfabrik. Die treibenden weißen Schaumkronen sind verschwunden.

Beinahe vierzigtausend Seelen zählt die Stadt, bekannt nicht nur wegen des Schlosses, dem Kurhaus, der Flutbrücke, den Kirchen, dem Tierpark und dem Carl-Maria-von-Weber-Theater.

Bekannt auch ob der hohen Zahl an Arbeitslosen: sechsundzwanzig Prozent in Stadt und Landkreis! Bundesrekord!

Wie in vielen ostdeutschen Städten klafft auch hier die Schere: die sauberen Fassaden der innerstädtischen Geschäfte buhlen um die knapper werdende Kundschaft. Auf den wenigen Parkplätzen vor den Geschäften stehen attraktive Limousinen deutscher Bauart. In den ruhigen baumreichen Wohnlagen an den Saaleufern: die Villen und Reihenhäuser derer, die es geschafft haben; nun aber der Notwendigkeit unterworfen, Wohlstand und Angepasst sein zu demonstrieren. Mancher hat einen Sitz gekauft im Theater, fünfhundert Mark teuer, und prangt ein Messingschild darunter, versehen mit dem Namenszug des edlen Stifters.

Nahe beim Schloss, das Sozialamt der Stadt. Dichtgedrängt davor, die Hoffnungslosigkeit mit Bierdosen in den Händen, Kinderwagen schaukelnd. Am südlichen Stadtrand: das Neubau-viertel, von dem die Statistik sagt, jeder Dritte sei hier arbeitslos und älter als vierzig Jahre. Unruhepotential, das Fördermittel narkotisieren helfen! Hier wohnen die Hoffnungs- und die Mutlosigkeit. Vergraben in Alkoholismus und Promiskuität, sucht man Vergessen oder ergeht sich in Anklagen gegen die, die Arbeit haben und Angst, sie wieder zu verlieren. Vergraben in Kleingärten mit standardisierten Lauben und sonnabendlichen Kegelpartien, sind die Fußballergebnisse längst wichtiger als Politik. Die Tageszeitung liest man hier kaum: zu teuer das Abo! Resignation geht um. Ganze vierzig Menschen rafften sich auf zum bundesweiten Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit. Man hofft auf ein Wunder in Gestalt eines Jobs in den wenigen Rumpfbetrieben in oder vor der Stadt. Die weniger Anspruchsvollen hoffen auf eine Maßnahme oder auf einen Lottogewinn.

Hat man die leichte Anhöhe hinter sich gelassen, am nördlichen Rand der Saalestadt mit dem Schloss, dem Kurhaus und den Kirchen, die Anhöhe, die sie den Gutsberg nennen, eine der wenigen Erhebungen in der tischartig ebenen Landschaft, dann ist man der Stadt und ihren Staus entronnen.

Und die Fernverkehrsstraße führt nun beinahe schnurgerade hinauf nach dem Norden, bis nach Magdeburg, beinahe schnurgerade durch weite Felder, öffnet zögernd den Blick auf verloren wirkende Ortschaften darin, ohne Namen, die im Gedächtnis haften und immer weiter hinauf, durch die Börde, bis in die Altmark.

Aber schon hier oben, auf dem Gutsberg, jenseits der Stadt im Tal der Saale, über ihren Dächern, schien es nun, als hätte man, nahe einem schweren Himmel, nichts weiter vor sich, als die Straße, die ins Nirgendwo führen musste.

Weit und öd liegen die Felder, Felder bis zur Krümmung des Horizonts, kaum ein Baum, selten ein dürrer Strauch, kahl, in der flimmernden Hitze des Sommers, in den Stürmen des Herbstes, unter dem klaren Frosthimmel des Winters.

Nichts als Acker: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, uferlose Versuchsfelder! Unterbrochen nur vom matten Strang der Schienen der Bahnlinie von Könnern nach Calbe, selten belebt

noch, von der trägen und schmutzig-rötlichen Silhouette des einzigen klobigen Triebwagens, der aus Rentabilitätsgründen immer seltener fährt.

Die Öde der Felder: unterbrochen nur von den Resten des stelzigen Wachturms am westlichen Horizont, rostigen Antennenpeitschen daneben über aufgeschütteten Erdwällen und löchrigem Stacheldraht – zerfallende Hinterlassenschaft der abgezogenen Sowjetarmee, verwaister Ort, gefürchtet, seit vor Jahrzehnten ein eifriger Wachposten vom Turm eine späte Radfahrerin beschoss, immer schon gemieden, auch, weil es hieß, hier waren Atomraketen gelagert.

Die Öde der Felder, selten noch unterbrochen durch die Kirchturmspitzen einzelner Orte abseits der Straße, Nadeln im trüben Licht unter schwerem Himmel. Eine Straße in bleierner Landschaft. Es fließt der Strom des Verkehrs hektischer, eiliger, durch die Öde der Felder, durch das trübe Licht, zu einem Ziel hin, jenseits von hier!

Etwa auf halber Strecke zwischen der Stadt im Tal und dem dürren Kirchturm der Ortschaft Neugattersleben, noch jenseits des verlorenen, hässlichen Haltepunktes Sprenzfeld an der Bahnlinie nach Calbe, links der Straße: um den backsteinernen Schornstein des Heizwerkes - die öde Anhäufung uniformer Gebäude, deren älteste auf das hier ansässig gewesene Junkerswerk und die Fliegergarnison zurückgehen. Uniforme Gebäude zwischen Bäumen, mitten im Acker, der Stadtteil gleichen Namens wie der Haltepunkt. Und die Aussicht: Felder bis zum Horizont, gegen die aufgehende Sonne die Umrisse von grauen Industrielandschaften.

Die Zementwerke in der Nienburger Gegend.

Jens Klatt, fünfunddreißig Jahre alt und seit neun Jahren in dieser Gegend, steigt mit müdem Schritt die Treppen im Flur des Miethauses hinauf wie jeden Tag. Es ist ein Miethaus, wie unzählige andere, die in Städten zwischen Rostock und Suhl stehen. Mief von lange getragenen Schuhen und Küchengerüche erfüllen den Flur. Es ist Nachmittag, und Klatt steigt die Treppen hinauf ohne den Blick zu heben, bis ganz nach oben, wo seine Wohnung ist. Eine Wohnung wie viele hier: sechzig Quadratmeter, drei Zimmer, Balkon, Zentralheizung. Eine Wohnung, in der er ein Fremdkörper geblieben ist.

Klatt hat Feierabend. Er ist ein Privilegierter, denn er hat Arbeit, eine gut bezahlte noch dazu. Haustarif, in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif Ost: das sind zweitausendsechshundert netto! Klatt hat diese Arbeit. Er hat sie durch Fürsprache seines Schwiegervaters, Karl-Dieter Schrock bekommen. Und Schrock, der Patriarch, wird nicht müde, ihm dies unter die Nase zu reiben, verbunden mit dem Hinweis, dass Arbeit heutzutage Gnade ist, bei offiziell vier Millionen Arbeitslosen bundesweit und einer Quote von sechsundzwanzig Prozent hier im Landkreis.

„Also, alter Freund“, hört er Schrock deklamieren, „nur wer ein Einkommen hat, hat ein Recht auf Familie! Ohne Einkommen springst Du besser gleich in die Saale!“

Klatt zieht die Schultern ein. Er ist vor seiner Wohnungstür angekommen. Die Tapete im Flur des Treppenhauses hängt in Fetzen herab. Das scheint niemanden zu stören. Warum sollte es ihn dann stören?

Klatt schließt die Wohnung auf und blickt auf die rote Leuchtdiode des Anrufbeantworters. Dort blinkt es zweimal. Klatt kennt die beiden Nachrichten. Kristina Schrock, seine Schwiegermutter, hat sie gesprochen. Sie vermisst ihre Handcreme. Wer soll sie schon weiter haben, als er, Klatt, vor dem nichts sicher ist, auch nicht die Handcreme!

Aus der Küche dringt der ätzende Geruch nach kaltem Rauch. Der überquellende Aschen-becher steht auf dem Küchentisch, daneben noch immer eine halb leere Kaffeetasse mit roter Lippenstiftspur am Rand!

„Faules Arschloch!“, murmelt Klatt, und er sieht sich ängstlich und hastig um, ob ihn vielleicht jemand gehört hat, aber niemand ist da. Dann schließt er die Wohnungstür. Er verspürt eine überwältigende Müdigkeit und zugleich diesen Durst auf Bier, wie jeden Tag. Aber noch ist es später Nachmittag. Und wenn er jetzt trinkt, wird er einschlafen, das weiß Klatt. Also trinkt er nicht, noch nicht. Das ist besser so, denn bald kommt der Bus aus der Stadt mit seiner Tochter, und er hat noch viel zu tun: Betten bauen, aufräumen, Wäsche abnehmen und zusammenlegen, nasse Wäsche aufhängen, Geschirrspüler einräumen, Mülleimer wegbringen, damit es nicht wieder Ärger gibt, wenn sie kommt!

Klatt fühlt sich müde und ausgebrannt wie ein Greis. Er weiß nicht, ob es das Frühjahr ist oder irgendetwas anderes, dass jede Kleinigkeit, die zu tun ist, ihm schwer wird.

Mit müden Bewegungen räumt Klatt den Geschirrspüler ein, den sie von den Schrocks bekommen haben, wie beinahe die gesamte Wohnungseinrichtung. Dinge, die verpflichten; Dinge, die oft hervorgeholt werden, um Klatt zu beschämen.

Klatt nagt mit den Schneidezähnen an seiner Unterlippe, zieht kleine Hautfetzen aus der Oberfläche, bis ein Blutgeschmack seinen Mund erfüllt. Klatt stapelt schmutziges Geschirr in den Korb des Geschirrspülers, zuletzt ihr Weinglas von gestern Abend und ihre Kaffeetasse vom Morgen mit der Lippenstiftspur am Rand.

Klatt wird unruhig. Der Durst auf Bier wird stärker. Aber er weiß, dass er jetzt noch nicht trinken darf. Es würde nicht bei einem Bier bleiben, das weiß Klatt. Er würde hastig ein zweites, vielleicht ein drittes Bier trinken. Er würde seine Arbeit nicht schaffen. Es könnte Ärger geben, wenn sie kam. Ärger, Brüllerei und wochenlanges Schweigen, das Klatt nur noch schwer erträgt. Klatt ist schwach. Und er braucht einen Menschen, einen Menschen, der ihm zuhört, zu dem er zurückkehren kann in Not und Leid. Sie aber, sie verweigert sich ihm, wenn er nicht funktioniert. Sie straft ihn mit Schweigen und Verachtung. Sie kann das, denn sie ist stark. Sie braucht niemanden, vielleicht die Schrocks, ihre Eltern. Ihn aber, den Menschen Klatt, braucht sie nicht! Mag sein, dass sie sein Einkommen braucht, die Zwosechs netto, ihn aber, den Menschen Klatt braucht sie nicht! Sie, Mirjam, seine Frau. Seine Frau, die ihm nie eine Frau war. Sie ist die einzige und folgsame Tochter Schrocks geblieben, nie aber seine Frau geworden. Eine Frau ist dem Mann eine Buhne im Chaos. Sie ist ein Ort der Zärtlichkeit und des Friedens. Ein Platz des Trostes, wie der Mutterschoß. Nie ist sie ihm das gewesen!

Fremd und feind ist sie ihm geblieben. Schwer kalkulierbar, ein Fremdkörper, eine offene und schwärende Wunde! Er nennt sie deshalb bei sich immer nur „die Schrock“. Er kann von ihr nicht anders denken. Sie ist „die Schrock“ und sie bleibt „die Schrock“. Zuviel ist zwischen ihnen gewesen. Viel zu viel. Und Klatt weiß, dass er bereits zu lange geblieben ist, dass er verloren hat. Aber auch das ist jetzt egal. Es spielt für Klatt keine Rolle mehr zu siegen oder zu verlieren. Er hat hier auszuhalten, bei dem Kind, das er liebt, bis zum Untergang seiner selbst, wenn es sein muss. Er hat auszuhalten, wie ein Infanterist im Schützengraben, in die Brustwehr gekrallt und mit dem Ziel, nur zu überleben, in den Boden gekrallt auszuharren oder zu sterben, aber noch nicht zu weichen. Klatt harrt also aus, bei der Schrock, erträgt ihr Schweigen, ihre Launen, ihre Wut. Erträgt eine Ehe, die keine ist! Des Kindes wegen erträgt Klatt und hält aus und weil er irgendeinen Menschen braucht, wie kalt der auch sei. Einen Strohhalm in dieser Welt der Barbarei. Die Schrock ist sein Strohhalm, und sie weiß es genau. Das gibt ihr Macht. Macht über Klatt, die sie ausspielt!

Er, Klatt, ist ein Vehikel ihres Glücks geblieben. Ein gesichtsloses Einkommen, austauschbar theoretisch durch jedes andere Einkommen!

Klatt hat den Geschirrspüler eingeräumt. Er zieht feuchte Wäschestücke aus der Trommel der Waschmaschine und stapelt sie in einer blauen Plastikschüssel. Der schrille hässliche Schrei der Wohnungsklingel lässt ihn hochschrecken. Er weiß, es ist sechzehn Uhr, der Hortbus ist da. Es muss sein Kind sein. ‘Hat einen Schlüssel, aber benutzt ihn nicht! Hat ja einen lebendigen Schlüssel!’, denkt Klatt. Aber er bezwingt sich und öffnet die Wohnungstür. Er gibt seinem abgehetzten Kind einen fast schüchternen Kuss und nimmt ihr den schweren Scout-Ranzen ab.

Klatt fragt mechanisch, ob das Essen geschmeckt hat und nach Neuigkeiten. Er ist froh, als sein Kind in sein Zimmer geht und sich den Fernseher einschaltet. Klatt weiß, dass er ein schlechter Vater ist. Ein resignierter, am Leben verzweifelter Vater kann kein guter Vater sein! Er hat keine Träume mehr, keine Ruhe des Herzens, keine Sicherheit, keinen Humor! Dinge, die ein Kind braucht, wie die Luft zum Atmen. Klatt wollte seinem Kind soviel geben. Nichts davon kann er mehr tun. Was ihm bleibt, ist sein bisschen verzweifelte, entsagende Liebe und der Wunsch, sein Kind möge ihn niemals verachten. Dennoch liebt Klatt sein Kind. Er liebt es mehr, als alles andere auf der Welt. Es ist der Grund seines Ausharrens hier. Es ist der Grund seines Leidens und Schweigens!

Aber trotzdem ist Klatt am liebsten allein. Ganz allein! Er fürchtet die Menschen! Es kostet soviel Kraft, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu reden! Und sie drängen einen ab, sie wischen einen vom Tisch, wie ein lästiges Insekt! Sie sehen nur sich selbst, nicht den Anderen! Man konnte sich nicht bewahren im Umgang mit ihnen. Nein, man war ihnen ausgeliefert, sie ordneten einen ihren Zielen unter, spannten einen vor ihren Karren, gewissenlos. Sie zwangen ihn dazu, Dinge zu tun, die nicht die seinen waren, sich selbst aufzugeben, unterzugehen. Und stumm und hilflos sah er zu, ließ es geschehen, feige, ängstlich, Tag um Tag! Deshalb war er lieber allein, ganz allein. Doch immer allein konnte niemand bleiben, auch Klatt nicht! Nein, auch Klatt nicht! Da griff er wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm aus Frau und Kind, wieder und wieder, hastig und in Not. Und meist griff er ins Leere!

Klatt war ausgebrannt und leer. Die Arbeit war getan, die Betten, das Geschirr, die Wäsche - alles. Und es konnte nun deshalb keinen Ärger mehr geben mit der Schrock, keine Vorwürfe, keine Brüllerei und kein Schweigen. Klatt sieht den Kühlschrank und denkt an das Bier darin, an die barmherzige Decke aus Alkohol und Nacht, die er braucht, um nicht wahnsinnig zu werden, nicht Hand an sich zu legen und auszuhalten in der Barbarei für sein Kind. Er sieht den Kühlschrank und öffnet ihn schnell. Hastig gießt er sich ein Pils ein und trinkt es in schnellen Zügen aus. Er wird ein wenig ruhiger. Müdigkeit steigt in ihm auf. Draußen, vor den Fenstern, zieht die Dämmerung ihre grauen Schleier. In den anderen Neubaublocks brennt Licht hinter vielen Fenstern. Eilig lässt Klatt die Jalousien herunter und zieht die Gardinen zu. Er will nicht, dass ihn jemand sieht, wenn er trinkt. In den Blocks, erbaut vor Jahrzehnten für die Mitarbeiter der einstigen Hochschule für Land- und Nahrungsgüterwirtschaft Bornburg-Sprenzfeld, wohnt vielerorts die Verzweiflung. Die politische Säuberung der Hochschule und die Umstrukturierung haben ihren Tribut gefordert. Der eiserne Besen - die Personalkommission entschied auch hier über berufliches Sein oder Nichtsein. Schrock, Klatts Schwiegervater, hat ihr angehört und mit gekehrt. Seine Fürsprache hob Klatt in den Sattel. Er wurde Dozent. Klatt hat also Arbeit. Er ist ein Privilegierter! Er

kam, als viele gingen. Das macht ihn verwundbar! Konkurrenz, so lehrt es Klatt in seinen Betriebswirtschaft - Seminaren, ist dem Tierreich entlehntes Verhalten, trägt den Sieg des Gesunden über das Schwache in sich! Konkurrenz, so lehrt es Klatt immer wieder,

gibt es unter den Unternehmen, um Beschaffungsquellen und Absatzmärkte. Konkurrenz, auch das lehrt Klatt, gibt es unter den Arbeitnehmern, um Lohn und Gehalt! Also sieht Klatt sich vor, um sein Einkommen nicht zu verlieren, das einen Menschen ausmacht, wie Schrock, sein Schwiegervater nicht müde wird, zu deklamieren.

Schrock muss es wissen. Er ist geachtet und gefürchtet: Geschäftsführer, CDU-Mitglied und Stadtrat, Mitglied des Städtischen Bauausschusses, Inhaber eines Sitzes im Carl-Maria-von-Weber-Theater. Ein Machtmensch, der die Machtausübung über andere Menschen braucht, der keinen Widerspruch, keine andere Meinung duldet. Der den Schmerz und die Demütigung nicht fühlt, die er damit anderen bereitet. Er lebt in der Macht, wie ein Fisch im Wasser. Und er meint, er gebraucht sie gerecht. Er erdrückt jede eigenständige Ansicht in seinem Schatten. Er war wie eine Kiefer im Wald der Gesellschaft. Eine Kiefer, deren aggressive Nadelschicht den Boden bedeckt und kein anderes Wachstum duldet. Kein junger Baum kann gedeihen in seinem Umkreis. Schrock muss es wissen, und er gibt vor, alles zu wissen. Auch, dass ein Einkommen den Menschen ausmacht. Ein Einkommen, nicht aber sein Wissen, sein Können, seine Seele, seine Menschlichkeit! Er hat diese Welt nicht gemacht, sagt Schrock. Sie sei nun einmal barbarisch, und man müsse sich anpassen, um nicht unterzugehen. Sie, Mirjam, die Schrock, hängt an seinen Lippen, den Lippen ihres Gottes. Sie ist gläubig. Sie glaubt an die Weisheit und Allmacht Schrocks. Sie ist sein erster Jünger. Er Klatt, steht dabei, entsetzt und machtlos vor soviel Kälte! Er, Klatt, ist schwach und allein. Die Schrock aber ist stark! Klatt bräuchte sie. Die Schrock aber braucht ihn nicht. Sie ist nicht allein wie er, sie hat ihre Eltern, die im Nachbarblock wohnen und durch das Wohnzimmerfenster bis auf den Tisch von Klatt sehen können, wenn sie wollen. Aber Klatt ist allein! Er hat sich aufgegeben mit Haut und Haar, bereits damals, bei seiner Hochzeit. Er hat alles aufgegeben, um ihretwillen und nichts dafür bekommen: seine Heimat, die Mark Brandenburg, ihre Seen und Kiefernwälder, die er liebte; seine Familie, die er höchstens noch zweimal im Jahr sieht; seine Freunde, seine Ideen, seine Träume, seinen Glauben an sich, seine Vorstellungen von der Erziehung seines Kindes! Alles hat er willig dreingegeben, hat es geopfert. Sie, die Schrock, hat nichts gegeben! Sie hat gefordert, hat selbstverständlich genommen! Und ihm, Klatt, ist nichts geblieben als sein Kind und eine Frau, die es nur auf dem Papier ist! Eines Tages wird sie ihn hinauswerfen, das weiß Klatt. Er ahnte es erst. Aber sie hat es ihm oft genug prophezeit. Er wird eines Tages ganz allein sein. Verloren! Und er wird sein Kind nie wieder sehen, das weiß Klatt! Wann es sein wird, dass weiß er nicht. Vielleicht dann, wenn die Schrock wieder jemanden gefunden hat, der Gnade vor den Augen ihrer Eltern gefunden hat! Vielleicht dann, wenn er seine Arbeit verliert oder krank wird! Wann? Er weiß es nicht! Er weiß nur, dass es geschehen wird, wie der Winter, der auf den Herbst folgt, mit Schnee, Stürmen und Frost! Und das macht ihm Angst! Aber er kann es nicht abwenden! Er kann die Dinge nicht ändern! Er muss die Dinge hinnehmen, wie sie sind!

Klatt weiß, dass er einige Fachbücher lesen müsste. Er müsste seine Seminare vorbereiten, denn er glaubt nicht mehr an sich und sein Wissen, lange schon nicht mehr! Klatt hat Angst, vor dem Seminar zu versagen, obwohl er weiß, dass er das nie tat. Klatt hat Angst, seine Arbeit zu verlieren und damit sein Einkommen. Er hat Angst, seiner Familie nichts mehr bieten zu können, kein Einkommen mehr und kein Sparguthaben, zum Parasiten zu werden. Er hat Angst, hinausgeworfen zu werden, die Familie zu verlieren, an jemanden, der ein Einkommen hat! Klatts Hände zittern. Er hat Angst. Angst vor der ganzen Welt, die sein Feind ist. Klatt trinkt hastig sein Glas aus. Aus dem Kinderzimmer dringt Musik und Lachen. Seine Tochter sieht fern, ihre abendliche Trickfilmserie. Ein warmes Gefühl der Zärtlichkeit überkommt Klatt. Seine Hände zittern stärker. Er braucht die barmherzige Decke aus Alkohol und Nacht und Vergessen. Er trinkt sein Glas leer und greift schnell nach der Bierflasche. Mit geübter Bewegung hebt seine Linke die Flasche an und schüttelt sie probeweise hin und her. Bereits beim Anheben stellt Klatt fest, dass die Flasche zu leicht, also leer ist. Er ist enttäuscht. Aber irgendwie entsetzt ihn die Geschwindigkeit, in der er das Bier konsumiert. Aber er braucht diese barmherzige Decke.

Zu stark ist die Angst, zu stark ist der Druck in seiner Brust, seinen Schläfen! Zu stark ist das Zittern seiner Hände, das sein Kind nicht sehen soll und auch sonst niemand! Rasch holt er die dritte Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Das Zischen beim Öffnen ist wie eine Erlösung. Zitternd gießt Klatt sich ein. Schaum rinnt über den Rand des Glases bis auf den Tisch, aber Klatt merkt es nicht. Er trinkt jetzt langsamer. Ruhe und Dumpfheit machen sich in ihm breit. Er spürt jetzt weder körperlichen noch seelischen Schmerz. Klatt schaltet den Fernseher ein. Der Privatsender, den die Schrock gewöhnlich Abend für Abend sieht zeigt irgendein Magazin. Visuelle Bildzeitung für den Zeitgenossen, der zwischen Abendessen und Einschlaftrunk die Bestätigung brauchte, dass es anderen noch viel schlechter ging. Die übliche bunte Mischung aus Sex, Kriminalität, Wunderglaube und UFOs. Klatt war es beinahe gleich, was da über den Bildschirm flimmerte: blinder ausgesetzter Husky wird nach von Zuschauern finanzierter Operation wieder sehend; strapstragende Chefin einer Drückerkolonne in der Oberpfalz richtet Drücker im Wald mit Kalaschnikow hin; Polizeiobermeister lässt sich auf chirurgischem Wege zur Frau machen - Rückkehr in den Polizeidienst versperrt. Und so weiter. Aus dem Kinderzimmer dringt Lachen. Die Trickfilmserie: kommerzialisierte Kinderträume! Klatt trinkt. Er weiß, er sollte das nicht tun. Er weiß, dass er zu viel und zu schnell trinkt und morgen Kopfschmerzen haben wird! Aber das ist jetzt egal! Es wird sein letztes Bier sein, für heute Abend, vielleicht sein vorletztes..., denn er muss dem Kind noch sein Abendessen machen und es ins Bett bringen. Es ist jetzt dunkel draußen. Die Schrock aber ist noch immer nicht da! Er weiß, sie hat vor zwei Stunden Feierabend gehabt. Das weiß Klatt, mehr weiß er nicht! Er weiß nicht wann sie kommt, nein, er weiß nicht einmal, ob sie kommt. Früher hat ihn das bis zum Wahnsinn gequält. Er hat gewartet, Stunde um Stunde. Er hat sich das Hirn zermartert, was geschehen sein könnte. Aber er hat zu oft und zu lange gewartet. Warten ist eine Art der Gleichgültigkeit, ja der Grausamkeit, die man demjenigen antut, den man warten lässt. Es ist eine Vergewaltigung der Gefühle, eine Abwertung, eine Demütigung, derjenigen nicht unähnlich, wie sie Behörden dem Bürger angedeihen lassen, wenn er ein Anliegen hat. Klatt hat all dies durchlebt, neun lange Jahre lang. Neun lange Jahre lang hat er das Warten kennengelernt: durchwachte Nächte voller Angst und Eifersucht, Einsamkeit und Verzweiflung! Tod der Seele, der die Liebe blind werden lässt, wie altes stumpfes Glas. Klatt ist durch Warten nicht mehr verletzbar. Zu langes Warten hat ihn abgestumpft. Er weiß nicht, ob sie ihn aus Vergesslichkeit warten lässt, aus Gleichgültigkeit - oder ob es ein böses Spiel ist. Ein Machtspiel, um den Anderen zu demütigen und zu brechen. Nein, zu langes Warten hat ihn abgestumpft, und sie kann ihn damit nicht mehr treffen, der Pfeil wird ihn verfehlen, Klatt ist immun gegen die Folter des Wartens! Er weiß nicht wo sie ist, die Schrock; er weiß nicht, ob sie kommt, nicht, wann sie kommt! Er hat es akzeptiert! Abwesenheit der Schrock bedeutet Abwesenheit von Kälte und Demütigung. Er fürchtet nur die Fragen seines Kindes nach der Mutter, die er nicht schlüssig beantworten kann. Das Kind hängt an seiner Mutter, mehr, als an ihm. Und Klatt akzeptiert die Dinge so, wie sie sind. Klatt hat immer alles akzeptiert, hat sich ein- und untergeordnet bei der Familie Schrock. So war er nun einmal beschaffen und erzogen. Und etwas anderes als Unterordnung hätte es ohnehin nicht gegeben!

Klatt meint, dass er sein Kind vernachlässigt. Es bereitet ihm Scham und Sorge. Aber er kann es nicht ändern, denn er hat keine Kraft. Er kann dem Kind sein Einkommen geben, nicht aber seine Kraft. Dennoch liebt er es. Er liebt es mit allen Fasern seines resignierten Wesens!

Und das Kind scheint es zu verstehen. Es versteht viel zu viel für ein gerade erst eingeschultes Mädchen. Es weiß um Dinge, die man so lange wie möglich fernhalten sollte von Kindern. Auch das kann Klatt nicht ändern. Er hat diese Welt nicht gemacht! Er kann nicht allein an allem Schuld tragen!

Klatt geht in die kleine enge Küche und schmiert dem Kind einige Schnitten. Er weiß, was es gern isst: eine bestimmte Art Mettwurst, die er immer vorrätig hat, Frischkäse mit Kräutern. Frisches Obst. Klatt schneidet Erdbeeren klein, in eine Schüssel. Gibt Zucker dazu und Milch, weil es das Kind gern mag. Die Erdbeeren, die ersten, die es in diesem Jahr im „Real“ gab, sind sehr groß, grell rot und wässrig. Sie schmecken kaum nach Erdbeere.

„Alles künstlicher, wässriger Mist!“, würde Schrock höhnen: „So werden die Menschen betrogen!“ Klatt hat es oft von ihm gehört, immer wieder. Mit der Aggressivität eines fanatischen Wanderpredigers, dessen Rezept zur Rettung der Welt niemand hören will, hat er solche Kommentare oft von sich gegeben, während er Zigarette um Zigarette verschlang.

Klatt ist es egal, ob die Erdbeeren wässrig sind. Er weiß, sie schmecken seinem Kind, und das zählt für ihn! Sie waren sehr teuer, diese ersten wässrigen Erdbeeren. Aber Klatt kann es sich leisten, sie für sein Kind zu kaufen. Und das erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung, so als könne er damit etwas von dem wieder gutmachen, was seinem Kinde mitunter vorenthalten bleibt!

Klatt bringt seiner Tochter das Abendessen in ihr Zimmer. Sie sitzt vor dem laufenden Fernseher auf dem Boden, auf ihrem Schafsfell. Ihre Augen leuchten. Klatt stellt die Mahlzeit auf den Schreibtisch und fährt ihr durchs weiche braune Haar. Es ist Haar wie seines, weich und glatt. Dann bringt er Nase und Mund ganz nah an den Kopf seines Kindes. Er nimmt die Fülle des warmen Kinderduftes, den das Haar seiner Tochter verströmt, in sich auf und schließt die Augen. Eine ungeheure Welle der Zärtlichkeit und des Beschützenwollens steigt mit fast schmerzhafter Intensität in Klatt empor, so dass er sich schnell losmacht. Es ist eine der wenigen Gesten der Zärtlichkeit, zu denen Klatt noch fähig ist. Zärtlichkeiten zeigen, heißt Verletzbarkeit zeigen, heißt, eine Blöße offenbaren, in die die Schrock die Dolchspitze setzen konnte: ihr Schweigen! Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Er weiß, dass es falsch ist. Er weiß, dass er das Kind abspeist, dass er sich wieder in seiner Schwäche und Resignation zurückzieht von seinem Kind und dem Fernseher seinen Part zuschiebt. Er weiß, dass ein Kind die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten mit den Eltern, das Gespräch mit ihnen braucht. Aber er kann es nicht mehr. Er hat keine Ruhe mehr in sich, kein bisschen Ausgeglichenheit und Freude ist in ihm, so dass er oft ungerecht wird und launisch. Klatt ist so hilflos. Hilflos steht er der Verarmung des Miteinanders in der Familie gegenüber, einer Familie, die keine ist! Hilflos sieht er die Kontaktarmut mit an, die Verheerungen in seiner Seele und den verletzten Rückzug von jedermann. Aber er kann nichts ändern. Er ist wie ein Mensch mit gebrochenem Rückgrat, schwach, unfähig, selbstbestimmt zu handeln. Und eine Angst erfüllt ihn, Angst, etwas falsch zu machen, bei jeder Entscheidung, die er zu treffen hat. So gewöhnte er es sich ab, zu entscheiden. Er ist eine Marionette, willenlos, schwach. So lässt er die Dinge geschehen, und er nimmt sie hin, wie sich kommen. Dabei hilft ihm das Bier!

Sein Kind isst in seinem Zimmer und sieht fern. Er, Klatt, sitzt im Wohnzimmer, trinkt Bier und sieht fern. Er hat zu viel und zu schnell getrunken, wie jeden Abend. Und er merkt die Betrunkenheit, die sich in ihm breitmacht. Wie eine Welle, die von unten heraufkommt, strömt die Trunkenheit in sein Hirn. Der Druck der Plattenwände des Zimmers weicht für einen Moment, ja, sogar die Angst, die Arbeit zu verlieren und damit das Einkommen und die Familie. Die Angst, vor dem Seminar zu versagen weicht, die Angst vor den Schrocks, alles ist weg, solange der Rausch anhält und alles betäubt. Klatt redet jetzt, im Rausch, mit vielen Freunden. Aber er tut das nur in Gedanken. Er kann kaum noch sagen, was er fühlt und leidet. Er hat scheinbar die Fähigkeit verloren, sich offen und laut zu artikulieren, zu beschreiben, was ihm fehlt, weil niemand ihm zuhört. Jetzt aber, im Rausch, in Gedanken, jetzt aber ist er ein leidenschaftlicher Redner, so wie ganz früher. Ein Redner, über dessen Lippen kein Sterbenswörtlein kommt!

Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Ein Privatsender ist eingestellt, der Lieblingssender der Schrock, der nicht verstellt werden darf. Klatt, der nie gern fernsah, hat sich daran gewöhnt, das allabendlich die Kiste flimmert. Er hat sich daran gewöhnt, wie an so vieles in den neun Jahren seiner Ehe. Nur an den ätzenden Qualm ihrer beinahe achtzig Zigaretten, die sie Tag für Tag konsumiert, kann sich Klatt nicht gewöhnen. Der Geruch nach kaltem Rauch ist überall: in den Tapeten, den Teppichen, in den Seiten der Bücher im Regal, nachts im Kopfkissen, ja selbst in Klatts Jackett, wenn er morgens vor seinem Seminar steht. Für ihn ist es der Geruch nach Egoismus und Rücksichtslosigkeit!

Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Irgendeine der ewigen amerikanischen Serien flimmert. Reiche, schöne, gesunde amerikanische Bürgerfamilie mit schmuckem Häuschen im mittleren Westen wird gekidnappt. Schwarzer, einsamer, erfolgreicher Detective, der nur gelegentlich zur Flasche greift, ermittelt. Großkalibrige automatische Pistolen bellen, Patronenhülsen fliegen durch die Nachmittagssonne vor einem Supermarkt, wie Karnevalskonfetti. Polizeisirenen jaulen, Telefone klingeln. Verdeckte Ermittler mit Pumpaction-Guns fuchtelnd, wie die Ritter der Tafelrunde mit ihren Zweihändern, machen schnell ein Ende! Wer war’s? Der intelligente, aber drogenabhängige Sohn des Kindermädchens mit seiner Gang aus gestrauchelten Brutalos. Verhaftung, Verurteilung, Elektrokution! Schönes Märchen vom Sieg des gerechten Tüchtigen!

Klatt ist es gleich, was da im Fernseher läuft. Darin hat er langjährige Übung. Sein Blick ist starr auf das Muster des Teppichs gerichtet. Fast schläft er ein. Aber er darf noch nicht einschlafen. Sein Kind ist jetzt im Bad. Er muss es noch in sein Bett bringen, Zudecken, Gutenachtküsschen. Es beruhigen, weil immer drängender nach der Mama fragt.

Sein Kind ist gewaschen und im Schlafanzug. Klatt bringt es ins Bett. Sein Gang ist schwankend. Er merkt es nicht mehr. Er verspricht seinem Kind, die Mama ins Zimmer zu schicken, wenn sie kommt.

Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Eine scheinbar heile Märchenwelt bleibt dahinter zurück. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Und die lange Übung, Stumpfheit in ihm und das Bier in ihm verhindern jetzt, in diesem Moment, dass er sich Sorgen macht oder sich das Hirn mit Eifersucht zermartert. Er weiß nicht, wo die Schrock ist, er weiß nicht, wann sie kommt, nein, er weiß nicht einmal, ob sie überhaupt kommt! Abwesenheit der Schrock bedeutet Abwesenheit von Kälte und Demütigung! Er weiß sein Kind im Nebenzimmer, er weiß noch zwei Flaschen Pils im Kühlschrank, das macht ihn ruhiger. Weiter denkt er jetzt noch nicht! Es ist nicht gut, zu weit zu denken! zu viele Unwägbarkeiten tauchen dann auf! Zu groß sind Unsicherheit und Angst! Und jetzt, betrunken, ist er stark, da braucht er keinen Menschen! Wenigstens nicht, solange der Rausch anhält! Solange seine Kraftquelle in ihm ist: das Bier!

Es ist jetzt stockdunkel vor den Fenstern. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Falls sie kommt, wird er sie nichts fragen, wie immer. Die Fragerei würde sie reizen. Sie würde ihm nicht antworten, weil sie eine Schrock ist und niemandem Rechenschaft schuldet. Ihm, Klatt, schon gar nicht! Das Bier, das gute Bier in ihm, das ihm morgen Sodbrennen und Kopfschmerzen bereiten wird und womöglich zitternde Hände, das Bier also, verhindert, dass diese Bilder in Klatts Kopf kommen. Bilder der Schrock, im Bett eines Kollegen! Bilder, die nicht allein seiner Phantasie oder einer krankhaften Eifersucht entstammen! Aber darüber darf er nicht sprechen! Danach darf Klatt nicht fragen! Also wird er nicht fragen, wie immer! Er wird ja sehen, ob sie kommt, wann sie kommt. Er hofft, dass sie kommt und wünscht zugleich, sie möge fortbleiben! Er hofft, irgendetwas, ein Wunder vielleicht, möge geschehen und dem allen ein Ende setzen. Klatt kann ohne einen Menschen an seiner Seite nicht leben, dazu ist er zu schwach. Aber mit diesem Menschen an seiner Seite wird er zugrunde gehen! Also braucht er das Bier, um zu ertragen und zu schweigen, um auszuharren im Schützengraben. In die Brustwehr gekrallt und nur den einen Gedanken: Überleben! Halten! Aushalten!

Klatt gießt die letzten Tropfen Bier sorgsam in sein Glas. Dann stellt er die leere Flasche in die Küche, zurück in den Kasten unter der Spüle. Leise flackert die Gasflamme im Boiler, der als großer weißer Kasten an der Küchenwand hängt. Der Boiler und das große verchromte Rohr, welches von ihm zum Schornstein führt, sind wie eine große Telefonanlage, durch die man ungewollt Zeuge der Gespräche in den anderen Wohnungen werden kann. Klatt hat sich deshalb bemüht, nicht mit den Bierflaschen zu klimpern. Es braucht hier niemand zu wissen, dass er abends Bier trinkt. Zuviel Arbeitslosigkeit, zu viel Neid und Häme wohnen in den Blocks um die Hochschule. In der Wohnung unter Klatts bellt ein Hund, dann streiten die Hilschers, wie so oft:

„...such Dich endlich Arbeet! Miete, Auto, Fressen: woher soll ich’s noch nehm’?“

„Habe sechzich Bewerbungen jeschrie’m! Was soll noch wer’n mit dreiunfuffzich Lenze? Se` ha’m nischt for mich uf' s Arbeetsamt! Oder soll ich Straße fegen oder Wochenspiegel austrag’n for achthundert netto?! Kriege ja mehr Hilfe!“

„Nischt mehr im Kopp als Schnaps und Videos! Kann ja nischt werden!“

„Bin über achtzehn! Mache, wat ich will...!“

„Aber nich' in meine Wohnung!“

„Meine Wohnung, meine Wohnung!“

„Jawoll, meine Wohnung! Zahle Miete, also ist Wohnung meine!“

Klatt kennt diese Gespräche. Es waren vielen Wohnungen hier die gleichen! Er will nichts mehr hören. Er geht zurück in das Wohnzimmer. Er setzt sich vor den Fernseher und schließt die Augen. Müde und ausgebrannt, fix und fertig wie er ist, hätte er auf der Stelle einschlafen können.

Aber das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das harte Rasseln des Schlüsselbartes im Sicherheitsschloss der Wohnungstür, lässt ihn hochfahren. Die Schrock! Ein kalter Luftzug weht vom Treppenflur herein und mit ihm die Küchengerüche, die zum Treppenflur in diesem Haus gehören mussten, wie die heruntergerissene Tapete, die Fußabtreter und die Schuhe vor den Türen und die Warnungen vor Rattengift im Erdgeschoß. Die Wohnungstür knallt hart ins Schloss. Klatt hört Kleidung rascheln. Die Schrock zog sich im Flur aus. Dann hört Klatt das Geräusch ihrer vielen schweren Ringe, die sie abstreifte und achtlos auf den Telefontisch plumpsen ließ. Fiel einer dahinter und war am Morgen nicht auffindbar, wurde sie aggressiv, schob ihm die Schuld zu! Er kannte das alles! Er sitzt jetzt ganz still und wie gelähmt. Er fühlt sich ertappt, und er verspürt das heftige Verlangen, aus dem Sessel aufzuspringen und irgendeine Hausarbeit anzufangen, wie als Schutzschild gegen irgendeinen möglichen Vorwurf. Aber er war zu müde und zu betrunken. Deshalb bleibt er teilnahmslos sitzen. Er hatte genug Bier in sich, um gewappnet zu sein, gegen jede Art von Gleichgültigkeit, von Kälte oder Aggression, die ihm nun widerfahren mochte. Er fand noch die Zeit, darüber nachzudenken, ob die Schrock mit ihm sprechen würde oder nicht. Hatte sie einen schlechten Tag, dann konnte es geschehen, dass sie tage- oder wochenlang schwieg. Sie antwortete dann nicht, wenn er sie etwas fragte, und die kleinste Störung seinerseits machte sie bösartig. Hatte sie einen guten Tag gehabt, dann begrüßte sie ihn förmlich und kalt. Dann konnte es geschehen, dass er ihr stundenlang zuhören musste. Er musste dann zuhören und schweigen, wenn sie ihm in einem vorwurfsvollen Ton von ihrem Arbeitstag im Jugendwerkhof erzählte, so, als hätte er nicht auch einen anstrengenden Arbeitstag und eine Menge Hausarbeit hinter sich, sondern hätte den ganzen Tag lang nur geschlafen. Klatt wartet also mit verkrampften Fingern in seinem Sessel. Aber heute schien ihr Tag mittelmäßig gelaufen zu sein. Vielleicht war sie von ihren männlichen Kollegen nicht genügend beachtet worden, fand Klatt, denn sie steckt ihren kurzgeschorenen Kopf mit den großen Ohrringen kurz in das Wohnzimmer. Sie blickt Klatt aus kleinen bösen Knopfaugen an wie ein Terrier seine Beute. Wobei der Eindruck der Bosheit noch durch ihre braunen Augen verstärkt wird. Sie blickt ihn an, als sei er eine Art Ungeziefer und bellt grundlos und laut in seine Richtung: „Guten Abend der Herr! Begrüßung haben wir wohl nicht mehr nötig, wie?!“ Klatt schweigt. Er sieht zur Erde, wie ein geprügelter Hund, und er schweigt. Er weiß, dass es jetzt besser war, zu schweigen. Jedes Wort hätte sie nur provoziert. Jedes Umarmen hätte in ein Wegstoßen gemündet und in den Schrei: „Fass mich nicht an!“ Das wusste Klatt alles längst aus Erfahrung. Also schwieg er besser. Und sie, die auch gar nichts anderes erwartet hatte, von diesem Trottel, der ihr eh nicht gewachsen war, wie sie wusste, kommentierte sein Schweigen mit einem verächtlichem Grunzen und dem Standardsatz: „Du ödest mich an bis zum Erbrechen!“ Dann war er für heute erledigt. Sie hat es ihm wieder einmal gegeben! Sie hat es ihm wieder einmal gezeigt! Aber das Ausbleiben jeglicher sichtbarer Reaktion nahm ihr die Freude am Spielchen. Sie lässt ihn links liegen, mochte er tun und lassen, was ihm beliebte. Und sie sieht noch kurz nach dem schlafenden Kind, ehe sie sich in die aufgeräumte Küche setzt, die Beine auf den kleinen Bistrotisch legt, sich eine Zigarette anzündet und eine Illustrierte liest. Mochte er, Klatt, der Trottel, das Spielzeug, tun, was ihm beliebte! Sie war nicht für sein Glück verantwortlich! Nur für ihres! Für ihres ganz allein, nicht für seines oder das Glück irgendeines anderen Menschen auf dieser Welt! Ihr Leben war ganz in Ordnung: sie wusste das Kind gut versorgt. Sie wusste die Wohnung aufgeräumt und die Miete bezahlt. Sie wusste ihre Wäsche ordentlich zusammengelegt im Schrank und ihr Bett aufgeschüttelt und gemacht. Sie brauchte nur noch ihre Beine hochzulegen und zu entspannen. Sie gießt sich ein Glas Wein ein, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Qualm in die kleine Küche. Durch die offenen Türen verbreitet er sich im Schlafzimmer, im Bad, im Flur, im Wohnzimmer. Sie greift nach ihrer Illustrierten und liest zum zweiten Mal die Serie über die Ehe von Frank Schöbel. Ihr Leben war ganz in Ordnung, wie sie fand! Alles war an seinem Platz! Sie hatte die Dinge fest im Griff! Gedanken um andere waren gänzlich unnötig! So sollte es sein! Es war so einfach! Man musste nur rücksichtslos genug sein und bereit, weiter zu gehen, als andere es wagten. Der Vati hatte Recht, wie immer: Menschen waren so leicht zu beherrschen, zu manipulieren! Man musste ihnen nur den Eindruck vermitteln, dass man gar keine Menschen um sich brauchte! Dass man härter war, als jedes andere Individuum auf der Welt! Schon fraßen sie einem aus der Hand, und man konnte sie an irgendeinen Platz stellen, ihnen irgendeine Tätigkeit zuweisen, sie würden sie ausführen. Und war das nicht richtig? Kam es nicht darauf an, so einfach und bequem durch das Leben hindurch zu kommen, so etwa, wie ein scharfes Messer durch Butter? Es war eine Kunst, sich sein Leben derart einzurichten und zu organisieren. Das hatte sie aus den vielen Gesprächen mit dem Vati und der Mutti schon gelernt. Sie beherrschte diese Kunst auch! Sie war stark! Sie brauchte neben ihren Eltern keinen weiteren Menschen! Nein, das brauchte sie nicht! Er, der Trottel, hatte das einmal, vor Jahren, als er noch zu diskutieren wagte, mit ihr und dem Vati, „unsozial“ genannt! Es war egal, wie er diese Art von Leben nannte! Es blieb die einzige Art und Weise von Leben, die sie zu führen gedachte, die sie zu führen imstande war! Sie war eine Schrock, und sie würde wie eine Schrock leben! Und sie führte auch keine Debatten mehr mit dem Idioten! Mochte er sich doch selbst Leid tun!

Ihr war es egal! Sie konnte und wollte sein Gelaber nicht mehr ertragen! Sein ewiges Geheul, wie schlimm ihre Ehe doch sei! Seine ewige Suche nach Wegen und Lösungen! Sie wollte keinen Weg und keine Lösung! Ihr ging es gut, verdammt gut, saugut! Sie war da, wo sie schon immer hingewollt hatte! So musste es sein, denn sie hatte immer genau das bekommen, was sie wollte, schon als kleines Kind! Sie brauchte also keine Wege und keine Lösungen! Ihr ging es gut! Und wenn der Wege oder Lösungen brauchte, dann konnte er sich ja scheiden lassen – oder, wenn er den Mumm hatte, ja das Leben nehmen oder sonst irgendwas! War alles nicht ihr Problem, verdammte Scheiße! Was ging sie der Trottel an?!

Klatt sitzt im Wohnzimmer, und er sieht den Zigarettenqualm hinein wabern, sieht die Rauchwölkchen an der Decke. Klatt schweigt. Er wirkt jetzt trotz seiner Trunkenheit gehemmt und scheu, wie in Erwartung einer großen Bedrohung. Er würde noch ein Bier trinken! Sein viertes Pils heute, längst mehr, als er vertrug!

Klatt geht in die Küche und öffnete die Bierflasche. Sie, am Tisch sitzend, über der Zeitung, nahm keine Notiz von ihm. Gierig saugt sie an ihrer Zigarette, inhaliert tief, etwa so, wie jemand, der bewusst frische Waldluft einatmen will und bläst den Qualm genüsslich zur Decke. Klatt hätte neben ihr zusammenbrechen können, nichts hätte sie gehindert, unbeteiligt in ihrer Lektüre fortzufahren.

Klatt sitzt im Wohnzimmer und gießt das Bier in sein Glas. Er muss jetzt sehr langsam und fast widerwillig trinken. Es fällt ihm schwer, den letzten halben Liter Pils zu schaffen. Er beruhigt sich damit, dass er ja keinen Schnaps trinkt. Seine Augen brennen. Es geht auf elf. Werbung dröhnt aus dem Fernseher. Klatt stellt den Ton leiser. Er hört das genüssliche Inhalieren des Zigarettenrauches aus der Küche, das Rascheln der Seiten der Illustrierten. ‚Ehe! ‘, denkt Klatt verächtlich! Und er hätte jetzt ausspeien können vor Abscheu.

Er weiß, er hat nichts, nur sein Kind, seine Arbeit und sein Bier. Jetzt, betrunken, ist er scheinbar stark und unverwundbar, so wie die Schrock. Aber er ist es nicht wirklich! Nur sie ist so! Die Schrocks sind so! Stark und unverwundbar! Und sie brauchen keine anderen Menschen! Er, Klatt, ist nicht wie sie! Nie kann er so werden! Er kann die Schrock nicht beeindrucken! Sie kennt ihn zu genau! Alles hat ohnehin keinen Zweck, weil sie stärker ist als er mit ihren Eltern im Rücken und ihren Großeltern! Er aber ist allein.

Klatt trinkt mit Mühe sein Bier. Dann sieht er noch einmal nach dem schlafenden Kind. Nimmt den friedvollen Anblick in sich auf, streicht über die weichen glatten, braunen Haare. Haare, die sind, wie seine eigenen. Dann wankt Klatt in sein Bett, und er legt sich zusammengekrümmt auf seine Hälfte, zieht die Decke bis zu den Ohren und weiß, dass ihm morgen das Aufstehen schwer werden wird, nach dem kurzen Schlaf.

Die Schrock sitzt noch immer in der Küche. Sie nimmt von alledem keine Notiz. Sie wird noch ein Weilchen lesen oder fernsehen, ehe sie ins Bett geht. Sie ist zufrieden. Alles ist so, wie es sein soll!

Unter Barbaren

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