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Von nun an geht’s bergab?

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Allzu oft wird das Alter als defizitär beschrieben, als eine Zeit des Verfalls, die genau genommen bereits kurz nach der Kindheit einsetzt und sich spätestens jenseits der vierzig rapide beschleunigt. Fünfzigjährige machen, sobald sie eine Erinnerungslücke bei sich feststellen, Alzheimer-Witze. Doch so richtig lachen können sie nicht darüber. Es ist einfach zu schrecklich, jedenfalls in ihrer Vorstellung. Dabei sind körperliche Scherereien keineswegs ein »Vorrecht« des Alters.

Als Teenagerin hatte ich Kreislaufprobleme. Bei passender, aber öfter noch bei unpassender Gelegenheit gab ich vorübergehend meinen Geist auf und verabschiedete mich in minutenlange Ohnmachten. Mal brach ich mitten in der größten Hamburger Einkaufsstraße zusammen, mal bei einem Schützenfestumzug in Bad Bevensen. Maximale Aufmerksamkeit war mir auf diese Weise garantiert. Doch niemand, ich eingeschlossen, kam auf die Idee, es könne sich um »etwas Ernstes« handeln. Ich erlangte einfach das Bewusstsein wieder, klopfte mir den Staub von der Hose und hatte allenfalls ein paar blaue Flecken mehr. Der Menschenauflauf verflüchtigte sich, und alle gingen wieder ihren gewohnten Beschäftigungen nach.

Würde mir dasselbe heute mit vierundsechzig passieren, ich glaube, niemand – nicht einmal ich selbst – könnte dermaßen gelassen über so ein Ereignis hinweggehen. Wahrscheinlich wäre ich schon mehrfach mit Blaulicht in das nächste Krankenhaus befördert worden, um vom Kopf bis zu den Zehen durchgecheckt zu werden.

»Von nun an geht’s bergab«: Das ist der Gedanke, der uns im fortgeschrittenen Alter typischerweise bei allem und jedem in den Kopf kommt. Es knirscht im Knie: unheilbare Arthrose. Die Hüfte tut weh: künstliches Gelenk, Rollator. Der Name der Nachbarin ist wie weggeblasen: beginnende Demenz, geistige Umnachtung. Ein Fleck auf dem Kinn: Hautkrebs. Kündigung: dauerhafte Arbeitslosigkeit, Altersarmut. Der Lieblingsmensch trennt sich: Das war‘s dann mit der Liebe. Und so weiter und so fort.

Das Schlimmste an solch schwarzen Gedanken ist, dass sie die Tendenz haben, zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen zu werden. Der Mechanismus, der dem zugrunde liegt, ist gut erforscht. Geht man in jüngeren Jahren davon aus, im Alter von fünfundsechzig an mehreren chronischen Krankheiten zu leiden und nicht mehr in der Lage zu sein, ein aktives, sinnerfülltes Leben zu führen, wird man entsprechende Entscheidungen treffen und dazu passende Gewohnheiten ausbilden. Spätestens ab sechzig schaltet man zusätzlich in einen Das-hat-doch-eh-alles-keinen-Zweck-mehr-Modus.

Wer alles sinnlos findet, erlebt Sinnlosigkeit. Wer sich nichts (mehr) zutraut, erlebt seine Unfähigkeit. Doch wie entstehen solche Überzeugungen? Gesellschaftliche Denkgewohnheiten spielen eine wichtige Rolle. In Gesellschaften, die das Alter abwerten, fühlen sich viele Alte wertlos. Doch dasselbe gilt auch umgekehrt. Dort, wo die Erfahrung und Souveränität von Älteren geschätzt wird, halten auch diese selbst ihre Fähigkeiten für wertvoll.

Es gibt eben nichts, was an und für sich gut oder schlecht wäre. Alles lässt sich so, aber auch ganz anders interpretieren. Für das Älterwerden trifft das ganz besonders zu.

Regelmäßig raten mir wohlmeinende (übrigens ausschließlich männliche) Mitmenschen dazu, mir doch endlich einen Hackenporsche (auch Einkaufsroller genannt) für meine Einkäufe zuzulegen. Ich würde zu schwer tragen. Ein Taxifahrer, der vor vielen Jahren meine Reisetasche aus dem Kofferraum hob, sagte ebenfalls: »Das ist zu schwer für Sie!« Tatsächlich erhalte ich auf exakt diese Art und Weise meine Kraft, und das ganz ohne Mitgliedschaft im Sportstudio.

Als ich Kind war, nahmen Männer Frauen alles aus der Hand, was ihnen für weibliche Menschen im wahrsten Sinn des Wortes untragbar erschien. Das galt nicht nur für schwere Lasten, sondern auch für vieles andere, was Frauen gut und gerne selbst getan hätten. Heute haben sich die Vorstellungen darüber, was Frauen können und was nicht, erheblich gewandelt. Frauen spielen professionell Fußball, stemmen Gewichte, nehmen an Bodybuilding-Meisterinnenschaften teil und zeigen, dass sie Bundeskanzlerin und Vorstandsvorsitzende sein können. Nur Ewiggestrige wundern oder empören sich gar noch darüber.

Während ich dies schreibe, poltert übrigens die erste Kolonnenführerin der Berliner Müllabfuhr, die ich leibhaftig zu sehen kriege, mit ihren Kolleg*innen über unseren Hof. Ihre Kommandos machten mich aufmerksam und ich lief ans Fenster, um zu prüfen, ob es sich nicht doch um einen Mann mit besonders hoher Stimme handelt.

Laut lachen musste ich dann, als ich las, was das größte Problem der männlichen Müllwerker mit ihren frischgebackenen Kolleginnen ist: »Wenn die morgens in den Wagen steigen, wollen sie reden!«

Vor über hundert Jahren erledigten Bäuerinnen in Deutschland selbstverständlich schwere körperliche Feldarbeit ohne den Einsatz von Maschinen. In anderen weniger industrialisierten Ländern tun sie dies noch heute. Gerade las ich, dass die Knochen unserer archaischen Vorfahrinnen so kräftig waren, wie es heutzutage nur noch die von Weltklasseathletinnen sind. Wer bestimmt eigentlich, was möglich ist und was nicht?

Ja, Neandertalerinnen wurden nicht so alt wie wir, und so manche Bäuerin war von ihrer Arbeit gebeugt und gezeichnet. Doch inzwischen haben wir die Sache ins Gegenteil verkehrt. Viel zu viele Menschen bewegen sich im Alltag kaum noch. Maschinen nehmen uns noch die kleinste körperliche Anstrengung ab. Und das Ergebnis? Schon Kinder können nicht mehr rückwärts gehen, und Ältere kommen bei ein paar Treppenstufen aus der Puste.

Muskeln, die nicht beansprucht werden, verkümmern. Allein diese Minderbeanspruchung führt – nicht nur bei älteren Menschen! – zum Verlust von Kraft. Das Herz ist ein Muskel, der gefordert werden will, wenn er optimal funktionieren soll.

Und abgesehen von der körperlichen Verfassung: Wer plant schon jenseits der siebzig sein weiteres Leben, sagen wir: bis hundert? Anders als SiebZEHNjährige gehen etliche alte Menschen davon aus, da komme nicht mehr viel, was über ein paar Reisen und die Betreuung der Enkel hinausgehe. Dabei wissen auch Siebzehnjährige weder, ob ihre Pläne sich erfüllen, noch, ob sie den nächsten Tag erleben werden. Es kann für uns alle morgen zu Ende sein. Aber es kann für uns alle ebenso noch eine ganze Weile – vielleicht sogar Jahrzehnte – weitergehen.

Stell dir mal die Frage: Was sind deine Pläne, wenn du achtzig Jahre alt bist? Was möchtest du dann am liebsten bis zu deinem hundertsten Geburtstag tun?

Wer keine Falten hat, hat nie gelacht

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