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Karminrote Rosen

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»Eintopf mochte er besonders gern. Zwei Teller hat er davon gegessen, manchmal sogar drei. Du machst den besten Eintopf von ganz München hat er gesagt, und als wir dann umgezogen sind, war es der beste Eintopf von Winterlach. Mein Fritz war ein guter Mann, wenn er noch wäre, müsste ich nicht zu ihnen kommen«, sagte Frau Bregel und legte die Kartoffeln in den Korb. »Aber was rede ich schon wieder, ich halte sie nur ab von ihrer Arbeit.«

»So viel Zeit muss sein«, beruhigte sie der Mann von der Lebensmittelausgabe und reichte ihr einen Bund Karotten. »Kochen sie sich einen schönen Eintopf und machen sie sich keine Gedanken mehr darüber, Frau Bregel.«

»Sie haben ja recht«, entgegnete sie, »aber früher habe ich nie um irgendetwas bitten müssen, und jetzt, als alter Mensch, bin ich auf fremde Hilfe angewiesen. Das ist bitter, glauben sie mir, das ist bitter!«

Die betagte Dame kam seit zwei Jahren zur Tafel, um sich mit Lebensmittel zu versorgen. Ihre Witwenrente reichte vorne und hinten nicht, und von ihrer Tochter war keine Hilfe zu erwarten. Ihr Mann und sie besaßen nie große Reichtümer, aber sie waren zufrieden gewesen, mit dem was sie hatten.

»Fesch siehst du wieder aus!«, sagte sie zu ihm, wenn er am Morgen in seiner blauen Briefträgeruniform vor ihr stand und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange drückte, bevor er aus dem Haus ging, und sein Anblick entschädigte sie für das spärliche Gehalt, das er am Monatsende nach Hause brachte. Als er endlich nach langer und gewissenhafter Pflichterfüllung seine Dienstkleidung ablegte, sind sie weggegangen aus München und haben sich eine kleine Wohnung genommen in Winterlach, wo ihre Tochter, ihr einziges Enkelkind und ihr Schwiegersohn, ein gebürtiger Winterlacher, lebten. Die kleine Stadt ist ihr neues Zuhause geworden, wie sie vor Jahren das Zuhause ihrer Tochter geworden war. Sie fühlten sich gut aufgehoben in dem beschaulichen Städtchen, und Herr Bregel erfüllte sich sogar seinen lang gehegten Wunsch nach einem kleinen Stückchen Grün, wo er Gemüse anbauen und Blumen pflanzen konnte, wie seine Mutter es getan hatte und er ihr mit Freude zur Hand gegangen war, als er ein Junge war.

»Mein Schrebergarten wartet!«, rief er jeden Morgen voller Ungeduld am Frühstückstisch und zählte diese und jene Arbeit auf, die unbedingt erledigt werden müsse.

»Arbeite nicht so viel Fritz, morgen ist auch noch ein Tag!«, mahnte ihn dann seine Frau und erinnerte ihn daran, bis zwölf zum Mittagessen zurück zu sein.

»Wenn du etwas Leckeres kochst, bin ich rechtzeitig da«, sagte er lachend und verließ freudestrahlend die Wohnung.

Die Ernte fiel meist so reich aus, dass er seine Freunde mit Salat und Tomaten und allerlei Gesundem, was der Garten hervorbrachte, beschenkte. »Alles Natur, alles Bio«, pflegte er zu sagen und war voller Stolz, wenn sie den vorzüglichen Geschmack seiner Gaben über alle Maßen lobten.

Das Ehepaar Bregel hatte es sich gut eingerichtet in Winterlach. Sie wurden geschätzt als liebenswerte Freunde und gute Nachbarn und bereuten keinen einzigen Tag, aus der Großstadt weggezogen zu sein.

»Wie lange ist es jetzt her Frau Bregel, seit ihr Mann gegangen ist?«, fragte der hilfsbereite Mitarbeiter der Tafel.

»Beinahe acht Jahre, nächstes Jahr im Juni ist sein achter Todestag«, antwortete sie, »ja, ja, kaum zu glauben, schon acht Jahre!«

»Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er so viel arbeitet. Jedes Gräschen hat er ausgerissen, mein Fritz, alles sollte ordentlich sein, da hat er sich nicht dreinreden lassen. Kümmere dich um deinen Haushalt, hat er jedes Mal gesagt, wenn ich ihm helfen wollte, damit hast du genug zu tun. Die Arbeit im Schrebergarten ist meine Aufgabe. Das schaffe ich allein, mach dir keine Sorgen.«

»Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Die viele Arbeit!«, wiederholte sie und nahm ihren Korb.

Eines Tages, als er um eins noch nicht von seinem Gärtchen zurückgekehrt war, zog sie ihre Kochschürze aus, schlüpfte eilig in ihre Pantoffel, die vor ihrer Wohnungstür standen, und machte sich auf den Weg. Zwar kam es vor, dass er sich hin und wieder um ein Viertelstündchen verspätete, aber meistens saß er Punkt zwölf am Tisch und freute sich auf das Mittagessen. Als erstes ging sie zum Gartenhäuschen. Seine Jacke, die er trug, als er das Haus verließ, hing noch am Haken, der an der Innenseite der Tür befestigt war, und auf dem Tisch lag der Beutel mit dem Brot, den sie ihm mitgegeben hatte. Sie rief nach ihm, suchte ihn bei den Gemüsebeeten, sah hinter die Beerenhecke, warf einen Blick hinüber auf das Nachbargrundstück und entdeckte ihn schließlich bei den Rosen. Er lag zwischen zwei karminrot blühenden Sträuchern, die Rosenschere in der einen, einen Rosenzweig in der anderen Hand. Seine starren Augen richteten ihren Blick auf die Rose über ihm, die auf ihn herabblickte in ihrer vollen Blüte und betörenden Schönheit, als wolle sie ihm danken für seine Hingabe und ihn grüßen zum letzten Abschied.

»Sie dürfen sich nicht so grämen«, sagte der besorgte Mann, »sie haben doch keine Schuld, dass alles so gekommen ist.«

»Sie haben ja recht!«, stimmte die alte Frau ihm zu, »sie haben ja recht!«

»Einen schönen Tag, Frau Bregel, nächste Woche können wir wieder ein bisschen miteinander reden«, verabschiedete er sich und reichte ihr die Hand.

»Es sieht dir keiner an, wenn du an der Lebensmittelausgabe stehst, ob du schuld bist oder nicht«, dachte sie. »Ob du das Richtige getan hast im Leben, danach frägt keiner, wenn er dich gehen sieht mit deinem Korb, den sie dir in der Tafel gefüllt haben und nicht im Supermarkt.«

Was hätte sie tun sollen? Ihre Tochter im Stich lassen für ein bescheidenes, ab sicheres Auskommen. Das wäre für sie niemals in Frage gekommen. Das Unglück begann, als der Schwiegersohn ihre Tochter und das Enkelkind verließ. Auf und davon ist er mit einer anderen. Ganz plötzlich waren im weder Frau, noch Kind, noch Winterlach wichtig. Trennung, Scheidung, neue Frau, neues Kind, alles im Eiltempo. Nur wenn es ums Zahlen ging, ließ er sich Zeit. Und dann ist sie jedes Mal eingesprungen, wenn es knapp her ging bei ihrer Tochter, wenn der Enkelsohn neue Schuhe brauchte, wenn das Geld für die Klassenfahrt fehlte. Die bescheidene Summe, die ihr Mann auf die Seite gebracht hatte, schmolz rasch dahin, und wenn sie an den Monatsenden auf die Bankauszüge sah, wurde ihr schwer ums Herz.

»Mutter, ich weiß, dass du selbst nicht mehr viel hast, aber könntest du mir noch einmal helfen?«, bat die Tochter, als die Miete für ihre Wohnung erhöht wurde.

Frau Bregel half auch dieses Mal, und sie half solange, bis sie endgültig nichts mehr hatte, außer ihrer kleinen Rente, von der man nur schlecht als recht leben konnte.

»Es wird schon werden«, machte sie sich Mut und stellte den Korb auf den Küchentisch. »Jetzt koche ich erst einmal eine große Portion Eintopf, der schmeckt den beiden auch.«

Die beiden, Tochter und Enkelsohn kamen nur allzu gern, wenn es etwas zu essen gab.

»Allerheiligen steht vor der Tür, was soll ich dem Fritz nur aufs Grab legen«, kam ihr auf einmal in den Sinn, als sie aus dem Fenster sah.

Diese Sorge ereilte sie jedes Jahr, meist so gegen Mitte Oktober, wenn die Bäume vor ihrem Fenster damit beschäftigt waren, ihr grünes gegen ein gelbrotes Blätterkleid einzutauschen.

Für einen Blumenschmuck, den sie für diesen Anlass angemessen fand, fehlte ihr das Geld und so hatte sie entweder einen Topf mit Chrysanthemen oder Erika zu den Tag- und Nachtschatten gestellt. Wie gern hätte sie das Grab mit einem dieser wunderschönen Gestecke, gebunden aus Rosen, frischem Grün und herbstlich gefärbtem Beiwerk, geschmückt. Karminrote Rosen waren die Lieblingsblumen ihres Mannes. Als er den Schrebergarten gepachtet hatte, setzte er vier kleine Stöcke in den Boden. Sieben Jahre lang beschenkten sie ihn mit ihrer Anmut und ihrem Duft, und er dankte es ihnen mit liebevoller Pflege und beinahe kindlicher Hingabe.

»Ich werde übermorgen zum Supermarkt fahren«, entschied sie, »die Gestecke dort sind preiswert und sogar ein bisschen hübsch.«

»Irgendetwas Schönes werde ich für dich finden«, sagte sie sich und stieg aus dem Bus, der sie ins nahe gelegene Kreisstädtchen gebracht hatte, das einen Supermarkt beherbergte, und sah ihren Mann vor sich, dem jede Blume Freude bereitete, war sie noch so unscheinbar und klein. Aber zuerst würde sie dort eine Freundin besuchen, die sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Sie war froh, dass diese nichts wusste von ihrer finanziellen Not. In Winterlach war das anders. Wie hätte sie verbergen können, dass sie ihr Essen von der Tafel holt? Die Menschen begegneten ihr zwar wie eh und je, doch glaubte sie, in des einen oder anderen Gesicht einen Ausdruck von Missbilligung, ja sogar Geringschätzung zu entdecken, so dass sie jedes Mal, wenn sie dorthin ging, hoffte, niemandem zu begegnen, der sie kannte.

»Schade, dass wir uns so selten sehen«, beklagte die Freundin, und Frau Bregel antwortete mit der immer gleichen Ausrede:

»Du weißt doch, das Einsteigen in den Bus macht mir immer mehr Mühe!«

Der einzige Grund war, dass ihr das Geld für die Busfahrt und ein kleines Mitbringsel fehlte.

»Noch ein Stückchen?«, fragte die alte Dame, die wie immer, wenn Frau Bregel zu Besuch war, eine Auswahl an feinsten Kuchen- und Tortenstücken auftischte. Sie verfügte über eine stattliche Rente, da kam es auf ein Stück Torte mehr nicht an.

»Danke, der Kuchen schmeckt köstlich, aber es ist schon spät, und außerdem will ich noch kurz zum Supermarkt«, entgegnete Frau Bregel und verschwieg lieber, dass sie nur nach einem günstigen Gesteck für Allerheiligen suchte.

Der Supermarkt befand sich in der Nähe der Bushaltestelle. Als sie kurz davor war, erinnerte sie sich an den Blumenladen, in dem sie früher, als sie noch nicht jeden Pfennig umdrehen musste, hin und wieder eine Topfpflanze für ihr Küchenfenster gekauft hatte.

»Nur kurz in das Schaufenster sehen«, sagte sie sich und änderte die Richtung.

Schon von der anderen Straßenseite aus sah sie die prächtigen Gestecke, die auf Bänken liegend die Vorbeigehenden zur Betrachtung einluden. Gelb, rosa, rote oder violette Blumen, zu Kränzen gebunden, zu Kissen oder Kreuzen geformt, warteten auf ihre Käufer. Das allerschönste jedoch erblickte sie im Schaufenster: ein Herz aus Moos, mit Efeu berankt und über und über mit karminroten Rosen besteckt.

»Ach Fritz, warum nur bist du nicht bei mir geblieben! Das hier würde ich für dich kaufen, aber du weißt ja, es ist zu teuer für mich«, sagte sie vor sich hin. »Sieh nur die schönen Rosen, dieses Rot, das mochtest du doch so gern.«

»Haben sie einen besonderen Wunsch?«, fragte die Verkäuferin, die durch die Ladentür gekommen war.

»Nein, nein, ich habe nur die Gestecke bewundert«, antwortete Frau Bregel und fragte zögerlich, während sie auf das Herz deutete: »Das hier vorne, wieviel kostet das?«

»Das ist eines unserer schönsten Gestecke«, sagte die Frau vom Blumenladen und nannte den Preis. »Sie können es sich gern innen ansehen, meine Dame!«

»Vielen Dank, vielleicht ein andermal«, entgegnete Frau Bregel und verabschiedete sich eilig.

Sie nahm das kleine Gesteck vom Verkaufstisch, der vor dem Supermarkt stand, und legte es in den Einkaufswagen. Es kostete zwar um einiges mehr als die Chrysantheme, die sie letztes Jahr zu Allerheiligen erstanden hatte, aber in zwei Wochen gab es Rente und bis dahin würde das Geld noch reichen.

»Wo ist denn Herr Roth, der mir sonst immer die Lebensmittel gegeben hat?«, fragte sie. »Schade, dass er nicht hier ist!«

»Er ist leider verhindert, aber wenn sie mit mir vorliebnehmen möchten«, antwortete die Mitarbeiterin der Tafel und lächelte.

»Aber natürlich, ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt«, entschuldigte sich Frau Bregel und verstaute die Lebensmittel in ihrem Korb.

»Aber nein, ich verstehe ja, dass sie nach Herrn Roth fragen!«

»Sind sie eine neue Mitarbeiterin, ich habe sie hier noch nie gesehen?«

»Ich bin Frau Roth und vertrete meinen Mann, solange er krank ist, nächste Woche ist er wieder zur Stelle.«

»Grüßen sie ihn recht herzlich von mir, und ich wünsche ihm gute Besserung. Einen netten Mann haben sie, Frau Roth, einen wirklich netten Mann!«

Sie packte das Gesteck in eine große Tasche und machte sich auf zum Friedhof. Morgen war Allerheiligen. Sie traute kaum ihren Augen, als sie den Blumenschmuck auf dem Grab ihres Mannes erblickte. Da lag, noch schöner und prächtiger als sie es in Erinnerung hatte, das Herz mit den karminroten Rosen.

»Wünsche gehen manchmal doch in Erfüllung«, dachte sie für einen kurzen Augenblick und konnte sich nicht sattsehen an den herrlichen Blumen.

»Es kann nur eine Verwechslung sein«, sagte sie sich, nachdem sie das Gesteck eine Weile bewundert hatte. Wer würde ihrem Mann so etwas Teures auf das Grab legen? Sie musste die Nummer des Blumenladens im Telefonbuch ausfindig machen und die Sache klären.

»Alles in Ordnung, das Herz ist für sie«, sagte die Verkäuferin. »Jemand hat es ihnen geschenkt, um ihnen eine Freude zu machen, Frau Bregel. Diese Person war zufällig vor Ort und hat sie gesehen, wie sie vor dem Schaufenster standen und es bewunderten.«

»Und jetzt liegt es auf dem Grab meines Mannes«, entgegnete Frau Bregel. »Mein Gott, wer schenkt uns denn ein so schönes Gesteck!«

»Freuen sie sich daran und denken sie nicht mehr darüber nach«, sagte die Verkäuferin.

Am Allerheiligentag stand Frau Bregel an der Ruhestätte ihres Mannes und gedachte seiner. Sie sah ihn bei den Rosen, die er so sehr liebte, und sie erinnerte sich an die vielen Sonntage, an denen sie sich gemeinsam an ihrer Pracht und ihrem Duft erfreuten. Und sie dankte dem lieben Menschen, der ihr das Blumenherz zum Geschenk gemacht und ihr eine so große Freude bereitet hatte.

Auf dem Rückweg hielt sie an einem Grab inne, auf der schon lange keine einzige Blume mehr erblühte, und legte das Gesteck aus dem Supermarkt nieder.

»Gibt es heute wieder Eintopf, Frau Bregel?«, fragte Herr Roth.

»Heute koche ich Bratkartoffel mit Spiegelei«, antwortete die alte Frau und reichte ihm ihren Korb. »Meine Bratkartoffeln mochte er auch sehr gern, ganze Berge davon konnte er verdrücken, mein Fritz, ganze Berge!«

»Das waren, oder besser gesagt, das sind bestimmt die besten Bratkartoffeln von ganz Winterlach«, scherzte Herr Roth.

»Allerheiligen ist nun auch vorbei«, sagte er noch.

»Ja, ja, schon wieder vorbei, dieses Jahr ist das Grab besonders schön«, entgegnete sie. »Hoffentlich gibt es keinen Frost, damit die Rosen nicht erfrieren. Wissen sie, irgendjemand hat mir eine besondere Freude gemacht, aber das erzähle ich ihnen beim nächsten Mal.«

»Machen sie sich keine Sorgen, Frau Bregel, mindestens zwei Wochen soll es noch so warm bleiben«, sagte der liebenswürdige Herr Roth.

Letztes Glück

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