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3.

Tagesablauf in der Eiszeit

Johann nähert sich vorsichtig einer Kleingruppe von Neanderthalern, mit denen sich Gammla unterhält. Dabei sitzen die Gesprächspartner in Fersenhockstellung auf dem eisigen Boden. Bevor er sich in die Nähe von Gammla begibt, zieht er für einen kurzen Moment seine Augenbrauen hoch. Es ist ein Ausdruck von Zuwendungsverhalten, der so genannte „Augengruß“. Nachdem sich Johann neben Gammla gesetzt hat, fixiert sie sein Gesicht mit ihren Augen. Ein Lächeln zeigt sich in ihrem Gesicht. Johann fühlt sich ermutigt, seine Verlegenheit und innere Anspannung zu überwinden. „Ich will dir etwas zeigen, was für uns lebensnotwendig ist, und zwar die Herstellung von Feuer“, sagt Gammla zu Johann und führt ihn zu einem Arbeitsplatz im Bereich des Lagerplatzes. Ihm fallen sofort die Brocken des dichten Kieselgesteins „Feuerstein“ und die Knollen von dem Schwefelkies „Markasit“ auf. Beide Materialien kennt er aus seinem naturwissenschaftlichen Studium.

Gammla beginnt das erforderliche Material, nämlich Feuerstein, Markasit, Moos, Birkenbast, Reisig und einen Fetzen Zunder, zusammen zu stellen. Anschließend legt sie alles auf ein größeres Stück Leder. Dann baut sie mit dem Moos und Birkenbast ein Nest, in dessen Mitte sich der Zunder befindet. Im zweiten Arbeitsschritt nimmt sie als Linkshänderin die Markasitknolle als Ambossstein in die rechte Hand und den Feuerstein als Schlagstein in die linke Hand. Mit einer stumpfen Kante des Feuersteins schlägt sie nun kurz und kräftig am Markasitstein herunter. Dabei fällt ein rot glühender Kristallsplitter auf den Zunder, der sofort zu glimmen beginnt. Gammla ergreift nun das Nestmaterial mit dem glimmenden Zunder, formt daraus eine lockere Kugel mit dem glimmenden Zunder in der Mitte und hält diese hoch in den Wind. Allmählich bildet sich aus der Glut im Inneren eine Flamme. Zusätzlich bläst Gammla für einige Zeit in die Kugel hinein. Rauch steigt auf, der immer dichter wird und sich grau verfärbt. Johann, der die Arbeit der Neanderthalerin aufmerksam verfolgt, hört ein leises Knistern. Dies ist der Augenblick, wo sich eine Stichflamme entwickelt. Mit dem brennenden Kugelmaterial entzündet die Neanderthalerin das bereitgelegte Reisig, das sofort zu brennen beginnt. Gammla schaut den Großstadtmenschen triumphierend an.

Wie vielseitig das Feuer von den Neanderthalern verwendet werden kann, erlebt nun auch Johann. Es spendet nicht nur Wärme, sondern es verdrängt auch die Dunkelheit. Das Feuer hilft den Clanmitgliedern, sich gegen Wildtiere zu schützen. Sie nutzen es, um das Fleisch der Jagdbeute darin zu erhitzen, so dass sie es leichter verzehren können. Das Feuer ist, das weiß Johann aus eigener Erfahrung aus seiner Zeit als Pfadfinder und von Barbecue-Parties her, auch für die Neanderthaler ein idealer Mittelpunkt von sozialen Handlungen, wenn sie gemeinsam essen, Informationen austauschen oder Rituale in dessen Nähe feiern. Die Erkenntnis von Johann ist, dass sich im Hinblick darauf viele Gemeinsamkeiten mit den Menschen des Informationszeitalters zeigen. Die Neanderthaler haben auch gelernt, das Holzmaterial, welches sie zur Herstellung von Stoßlanzen und Speeren verwenden, im Feuer zu härten. Vor allem ist es der Jagdgemeinschaft möglich, mit Feuerfackeln Treibjagden durchzuführen. Dadurch ist ein viel erfolgreicheres Jagen möglich. Durch Zufall wurde von den Neanderthalern die Erfahrung gemacht, dass durch Erhitzen von Birkenrinde klebriges Material gewonnen werden kann. Dadurch lassen sich Steinklingen oder Speerspitzen aus Stein, die in Holzschäfte eingesetzt werden, verkleben.

„Habt ihr eine besondere Methode entwickelt, um Fleisch zu erhitzen?“, will Johann von Gammla wissen. Sie nickt mit dem Kopf. „Meine Eltern haben es von ihren Eltern gelernt und mir und meinem Bruder Agho beigebracht. Ich habe es an meine Kinder weitergegeben. Zunächst werden großflächig flache Steine aufeinander geschichtet, dann Brennmaterial kreisförmig darauf gelegt und dieses angezündet. So kann ein Feuer auf den Steinen entstehen. Wenn die Steine heiß sind, wird die Glut mit Hilfe eines Aststückes zur Seite geschoben und Fleischstücke auf die erhitzten Steine gelegt. Das so behandelte Fleisch lässt sich schneller verzehren. Dadurch gewinnen wir mehr Zeit für andere wichtige Aufgaben.“ Gammla zwinkert ihrem Gesprächspartner mit einem verschmitzten Lächeln zu, als will sie sagen: „So schlau sind wir.“ Die Beschreibung von Gammla erinnert Johann an den Steinofen in der Pizzeria „Milano“ seines italienischen Freundes Luigi Tanagotti, der in diesem Gehäuse die beste Pizza weit und breit herstellt. „Aber oft“, ergänzt die Neanderthalerin, „müssen wir lange und kraftvoll das rohe Fleisch mit unseren Zähnen zerkauen, um es besser schlucken zu können.“ Dazu ahmt sie die Kaubewegungen nach.6

Gammla fordert Johann auf, sich vom Boden zu erheben und ihr zu folgen. Sie gehen zu einer der zeltähnlichen Behausungen, vor dessen Eingang Ala, die Partnerin von Gammla’s Bruder Agho, mit einem scharfkantigen Faustkeil das Fell vom Körper eines erlegten Rentiers abtrennt und dann beginnt, den Tierkörper auszuweiden. Nur widerstrebend kann sich der Großstadtmensch die blutige Arbeit von Ala anschauen. Andererseits ist er beeindruckt davon, wie geschickt die Neanderthalerin bei ihrer Tätigkeit vorgeht. Die abgetrennten Fellstücke werden von Ala anschließend mit der Innenseite nach oben gelegt. Sorgfältig entfernt sie mit einem scharfkantigen Steinabschlag als Schaber das Fleisch von der Innenseite des Fells. Erst nachdem alle Fleischreste und das Fett entfernt sind, trocknet Ala die Fellstücke langsam am Feuer und räuchert sie über der schwelenden Glut. Dadurch werden sie haltbar und lassen kein Wasser durch. Johann beobachtet, wie die Neanderthalerin zur Herstellung einer Bekleidung mit Hilfe eines Steinmessers die erforderlichen Fellteile zuschneidet und mit einem spitz zulaufenden Steinabschlag Löcher in den Rand des Fells bohrt. Dann fädelt sie schmale Streifen Rohleder und ersatzweise auch Sehnen durch die Löcher. Fertig ist das Kleidungsstück, das dem Kleidungsträger angepasst werden kann. „Wie einfallsreich doch diese Frühzeitmenschen sind“, äußert Johann anerkennend. Er erinnert sich, dass die Nähnadel mit Öhr als Knochennadel erst vor 17.000 Jahren von seinen Vorfahren entwickelt wurde und in seiner Grundstruktur bis in das 21. Jahrhundert hinein in unveränderter Form verwendet wird.

Während seines Aufenthaltes bei der Großfamilie von Gammla fällt Johann auf, dass die Sozialpartner während des Tages sehr aktiv sind, aber nur einige Stunden am Tag zur Nahrungsbeschaffung aufwenden. Den größten Teil ihrer Zeit verbringen sie damit, am Lagerfeuer zu sitzen und sich zu unterhalten. Diese Zusammentreffen, bei denen auch Johann einbezogen wird, nutzen die Neanderthaler, um Werkzeuge oder Kleidung zu reparieren oder neue herzustellen.

Johann kann es kaum fassen, dass er Mitglied eines Sozialverbandes von Neanderthalern geworden ist. Er schließt für einen Moment die Augenlider, während ein eisiger Wind über den Lagerplatz hinwegfegt. Instinktiv kauert sich der Großstadtmensch zusammen und steckt seine Hände in die Ärmel seiner Windjacke. Müdigkeit überkommt ihn, gegen die er versucht anzugehen. Er nimmt kaum noch die Gespräche wahr und schläft schließlich ein.

Unsanft wird Johann aus dem Schlaf gerissen. „Steh auf“, hört er die Stimme von Gammla, die ihn wachgerüttelt hat. „Es gibt noch viel zu tun.“ Mit einem Schlag ist er hellwach. Die Hormone des Nebennierenmarks, nämlich Adrenalin und Noradrenalin, haben seinen Körper auf eine Notstandssituation vorbereitet. Nur allmählich beruhigt sich sein Herzschlag. Mühsam versucht der Großstadtmensch sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Er sammelt Schnee vom Boden auf und reibt damit sein Gesicht und die Hände ein. Währenddessen bereitet Gammla für ihn ein Stück Fleisch im Feuer zu. Auf einem Aststück aufgespießt, reicht sie ihrem Sozialpartner die Verpflegung. Er hat keine andere Wahl als dieses „Frühstück“ zu sich zu nehmen. Mühsam beginnt er mit der Kauarbeit.

Begegnung mit Gammla

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