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Vorwort: »Hepp!«

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Kreismeisterschaften in der Leichtathletik, 2007: »Alle Staffelläuferinnen der U12 in Position!«, dröhnte es durch die Lautsprecher im Stadion. Die heiße Sommersonne knallte auf die Tartanbahn. Ich war in zweiter Position in dieser Staffel und strich noch mal über meine Startnummer, die an den Ecken mit vier Sicherheitsnadeln an meinem Vereinsshirt befestigt war. »Ihr schafft das, gebt Gas!«, riefen Zuschauer*innen uns vom Rand aus zu. Ich versuchte, nicht hinzugucken. Vorsichtig setzte ich meinen linken Fuß ein paar Zentimeter hinter der weißen Startlinie auf die Bahn, beugte die Knie, winkelte den rechten Arm nah an meinem Körper an und streckte den linken mit geöffneter Handfläche nach hinten aus. Blick nach vorn, bereit für die Übergabe. Im Kopf ging ich noch mal durch, was gleich passieren würde: Sobald der Startschuss ertönte, würde eine andere Läuferin mit dem Stab losrennen, um ihn mir nach fünfzig Metern in die Hand zu drücken. Ich würde sie bei dieser Übergabe nicht angucken, sondern nur auf ihr Signal warten. »Hepp!« – und ich wüsste, dass ich zupacken und losrennen müsste. Damit die Übergabe funktionierte, mussten wir beide konzentriert sein und einander vertrauen.

Warum ich das erzähle? Ich glaube, wir sind als Gesellschaft genau jetzt an diesem Punkt angekommen. Die jüngere Generation wartet darauf, dass die ältere »Hepp!« sagt und uns den Staffelstab übergibt. Ich bin jetzt 25 Jahre alt. Und genauso wie damals bei den Leichtathletik-Meisterschaften mache ich mir auch heute Sorgen, dass ich den Stab nicht richtig zu greifen bekomme, dass er mir aus der Hand fällt und ich die verlorene Zeit nicht mehr aufholen kann. Außerdem habe ich das dumpfe Gefühl, dass die Person, die mir den Stab übergeben soll, sich schwer damit tut, ihn loszulassen. Manchmal glaube ich, sie würde am liebsten allein die vier mal fünfzig Meter über die Stadionbahn sprinten, im Adrenalinrausch und unter den Blicken der jubelnden Zuschauer*innen.

Dieses Buch beschreibt den Moment, in dem die Person, die den Stab übergeben soll, nicht »Hepp!« sagt. Stattdessen haut sie mir ihre spitzen Spikes in die Hacken, schubst mich weg und jagt an mir vorbei. Sie ruft noch so was wie: »Beim nächsten Mal! Ich zieh das jetzt erst mal allein durch!«, und ich liege da auf der heißen Tartanbahn, mit blutenden Hacken, und suche nach den richtigen Worten, die ich in dieser Situation hinterherrufen kann. »Ähm, das war so aber nicht ausgemacht … Scheißegoist, das ist echt … ’ne miese Aktion …«, liegt es mir auf der Zunge, aber so richtig schlagkräftig fühlt sich das in dem Moment nicht an. Deshalb sage ich einfach gar nichts. Ich sitze nur da, völlig perplex, und schaue der immer noch sprintenden Person nach, während sich in mir langsam Wut und Angst breitmachen. Wut, weil diese Person mich ignoriert, weggeschubst und aus dem Teamsport einen Einzelwettkampf gemacht hat. Angst, weil ich von dieser Person abhängig bin und nicht weiß, ob sie es allein überhaupt bis zur Ziellinie schaffen wird. Tut sie das nicht, ist auch mein Lauf vorbei.

Weil ich das nicht möchte, habe ich dieses Buch geschrieben. Es soll bei der Staffelstabübergabe helfen und der älteren Generation zeigen, was uns Nachfolgenden auf der Tartanbahn durch den Kopf geht, während wir auf den Staffelstab warten. Warum es uns so wichtig ist, selbst zu laufen und nicht zurückzubleiben. Jungen Menschen soll dieses Buch demonstrieren, dass sie mit ihren Ängsten und Zweifeln, ob sie diesen Stab überhaupt tragen können, nicht allein sind. Ich schreibe auf den folgenden Seiten nicht nur über meine persönlichen Gefühle, sondern über die einer ganzen Generation. Zudem gibt es sicherlich genügend Menschen, die zwar schon älter sind, aber dieselben Ängste wie wir, die »Jungen«, haben. Manchmal hat das gar nichts mit dem Alter zu tun, sondern vielmehr mit der Perspektive. In diesem Buch kommen deswegen viele Stimmen zu Wort, nicht nur meine. Die Erzählungen sind inspiriert von echten Begegnungen, Gesprächen und Schicksalen, einige Personen und Dialoge sind direkt aus dem Leben übernommen, andere sind fiktionalisiert. Die Kapitel in diesem Buch sind in sich geschlossene Essays und lassen sich auch einzeln lesen, zusammen ergeben sie eine große Geschichte mit vielen, durchwachsenen Emotionen.

Manche von euch werden sich mit den in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Ängsten und Gefühlen mehr, andere weniger identifizieren können, und ein paar können sie vielleicht überhaupt nicht nachvollziehen. Andere vermissen womöglich ein Thema, das ihnen persönlich Sorgen bereitet. Einige werden sich aufregen, weil dieses Buch viele Fragen aufwirft, aber längst nicht genauso viele Antworten liefert. In manchen Zeilen wüte ich, in anderen weine ich, weil ich die Lösung selbst nicht kenne. Damit mache ich mich angreifbar, das weiß ich. Vielleicht führe ich meinen Gedanken an einigen Stellen nicht zu Ende, aber welche Person tut das schon, wenn sie rotsieht? Auch verbrenne ich mich in diesem Buch an meinen eigenen Privilegien und tue mir dabei weh. Aber das geht nun mal nicht anders, wenn wir ein ehrliches Gespräch über Chancengleichheit führen wollen. Das alles ist nötig, damit die Übergabe des Staffelstabs funktioniert – für alle. Nur so können wir junge Menschen endlich gehört werden.

Wie sehr wir aktuell noch missverstanden werden, hat zum Beispiel eine Kampagne der Bundesregierung gezeigt, die im Rahmen der Coronapandemie erschienen ist. »Ich glaube, das war im Winter 2020, als das ganze Land auf uns schaute«, sagt in dem Video ein älterer Herr namens Anton Lehmann. Er sitzt in einem breiten Ledersessel, am unteren Bildrand steht, er sei 2020 in Sachsen im Einsatz gewesen. Im Hintergrund ertönt dramatische Musik, während er fortfährt: »Ich war gerade 22 geworden und studierte Maschinenbau in Chemnitz, als die zweite Welle kam.« Im Video werden Explosionen gezeigt, die sich in den Brillengläsern eines jungen Mannes spiegeln. »Das Schicksal dieses Landes lag plötzlich in unseren Händen. Also fassten wir all unseren Mut zusammen und taten, was von uns erwartet wurde«, fährt Anton Lehmann fort. Die Musik steigert sich zu einem dramatischen Höhepunkt, dann kommt die Pointe: »Wir taten: nichts!« Der junge Mann, in dessen Brillengläsern sich kurz zuvor noch die Explosionen spiegelten, greift in eine Chipstüte – er verfolgt einen Actionfilm auf Netflix. Das Drama verpufft.

Die Kampagne der Bundesregierung sollte junge Leute dazu animieren, ihre Wohnung während der Pandemie möglichst nicht zu verlassen und soziale Kontakte zu meiden. Und obwohl diese Maßnahmen durchaus angebracht waren, war die Message des Videos etwas zu einfach formuliert: Netflix und chill eben. Dieser ganze Ansatz spiegelt wider, welchen Platz meine Generation in unserer Gesellschaft einnimmt, und darüber hinaus auch, wie mit unseren Emotionen und unserer psychischen Gesundheit umgegangen wird. Wir sind eben die »Jungen«, was uns häufig entweder zu den Rücksichtslosen macht, manchmal aber auch zu den Naiven. Und dann sind wir hin und wieder auch die Sensiblen, die ein »Ihr haltet ja nichts mehr aus« an den Kopf geschmissen bekommen. Schließlich wurde von uns nur verlangt, dass wir allein auf der Couch sitzen, und nicht, dass wir wie andere Generationen in den Krieg ziehen sollten. Ich persönlich finde die Kriegsmetaphorik, deren sich die Bundesregierung in ihrer Kampagne und viele andere in dieser Diskussion bedient haben, absolut daneben. Die Coronapandemie ist nicht mit einem Krieg zu vergleichen, wie ihn die Menschheit zuvor erlebt hat. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Auswirkungen schlimmer oder weniger schlimm sind. Beides, sowohl ein Krieg als auch eine Pandemie, kann für Einzelne tödlich sein. Jedoch ist die Herausforderung eine völlig andere, und die Menschen tragen am Ende andere Wunden davon. Es ist nicht der Schuss ins Bein, der sie später ein Leben lang humpeln lässt. Es sind seelische Wunden in Form von verpassten Chancen, nicht gemachten Erfahrungen und häufig auch Zukunftsängsten, die sie in vielen Fällen noch lange Zeit belasten werden. Ich kann nicht entspannt auf der Couch liegen, wenn ich mir die ganze Zeit Sorgen mache oder stinkwütend bin. Und ja, es macht mich wütend, wenn es so dargestellt wird, als hätte meine Generation während dieser Krise und auch darüber hinaus die einfachste und bequemste Position in unserer Gesellschaft.

Eine solche Pauschalisierung junger Menschen ist nicht nur übergriffig, sie verharmlost auch Probleme. Sie gibt einer ganzen Generation das Gefühl, dass ihre Sorgen nicht relevant seien. Ich glaube, es ist höchste Zeit, endlich über die Gefühle dieser vermeintlich unbesorgten, unabhängigen Generation zu sprechen. Auf den folgenden Seiten schreibe ich darum über die Rolle der Jungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Es geht um Chancengleichheit und unser Konsumverhalten, um die Angst vor Altersarmut und althergebrachte Genderrollen. Ich beschäftige mich mit den zunehmenden Fruchtbarkeitsproblemen in unserer Gesellschaft und der bewussten Entscheidung gegen das Kinderkriegen. Selbstoptimierung, Achtsamkeitswahn und Sorgen um unseren Planeten im Angesicht des Klimawandels – all das kommt zur Sprache. Und ganz am Ende gehe ich dann auf meine größte Angst ein: die Sorge darum, ob wir in unserer Gesellschaft sicher sind – vor sexistischen Übergriffen und rechtem Hass, vor Gewalt im analogen wie im digitalen Raum.

Das klingt heftig, und oftmals ist es das auch. Trotzdem möchte ich meinen Leser*innen mit diesem Buch nicht die Hoffnung nehmen. Ganz im Gegenteil. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich will, dass wir jungen Menschen trotz aller Sorgen den Mut nicht verlieren. Ich möchte, dass wir den Willen bewahren, laut zu werden und es besser zu machen, startklar zu sein, wenn hinter uns – endlich – jemand »Hepp!« ruft. Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam den Staffelstab über diese verdammte Tartanbahn tragen.

Jung, besorgt, abhängig

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