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Kapitel 3

Mit den Jahren verschwamm mein Bild von Sophie. Ihre Stimme, ihre Lebendigkeit empfand ich unverändert. Doch ihre Gesichtszüge schienen zu verblassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Sophie als Dreissigjährige aussehen würde, wie sie sich kleidete, welche Musik sie hörte, was sie las, wie sie ging. Mein Leben schien mir banal, alles ging den gewohnten Trott, jahrein, jahraus. Ich beneidete Sophie darum, wie sie es geschafft hatte, auszubrechen. In mir wuchs ein ähnlicher Traum, weniger wild und wesentlich geordneter als Sophies ungestümer Ausstieg. Aber ein Leben lang Förderbänder? Ein Leben lang Pläne entwerfen, immer neu, schon, aber trotzdem immer dasselbe? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Gerne hätte ich mit Sophie darüber gesprochen. Aber wahrscheinlich hätte sie mir nur kräftig die Hand gedrückt und gelacht: «Bist immer noch nicht stärker geworden, Jakob?», wenn ich ihrem Druck nichts entgegenhalten könnte. Ich stellte mir vor, wie sie mit energischen Schritten und kopfschüttelnd weitergehen würde, einem neuen Abenteuer entgegen.

Doch schon bald sollte ich Sophie treffen und meine Träumereien mit der Realität vergleichen können. Die Ski-Weltmeisterschaft in Bormio und die erfolgreiche Schweizer Skimannschaft trieben die halbe Nation begeistert auf die Pisten. Auch ich verschrieb mir ein paar Tage Abwechslung an der frischen Bergluft, natürlich in Toss. Die Eltern hatten ihre Absicht wahr gemacht. Aus den beabsichtigten zwei, drei Monaten im Jahr wurden immer längere Erholungszeiten vom Stadtleben, die beiden verbrachten eigentlich die meiste Zeit in den Bergen. Sie drängten mich, sie öfter im Dorf zu besuchen. Vater hatte sich nach und nach aus dem Geschäftsleben zurückgezogen. Er war bei den grossen Abschlüssen dabei, besuchte zwischendurch einen Geschäftsfreund oder einen wichtigen Kunden und ging an einen Anlass, wenn ich verhindert war. In die Geschäftsführung mischte er sich selten ein. Er stand aber immer und gerne mit Rat zur Seite, wenn ich ihn darum bat. Als Ausgleich zum monotonen Geschäftsalltag vertiefte ich mich in meine Erfindungen. Mehr als launische Spielerei entwickelte ich eine doppelte Wäscheklammer zur Serienreife und liess die Idee patentieren. Mit dieser frech gestalteten, bunten Wäscheklammer konnten zwei Wäschestücke gleichzeitig zum Trocknen aufgehängt werden, das sparte Material und vor allem Platz auf der Leine, so meine Verkaufsargumente, die aus einer Schnapsidee gewachsen waren.


An einem Samstagmorgen im März, an den man sich noch Jahre später in Gesprächen im Hirschen als besonders kalt und schneereich erinnerte, erreichte ich das Dorf nur knapp vor einem heftigen Schneesturm. Die Schneeböen schoben mich im konturenlosen Hellgrau von der Haltestelle zur Casa Anderegg, zerrten knatternd an Windjacke und Hosen wie an einer Fahne im Sturm. Die Türe zum Windfang schlug hinter mir zu, ich konnte endlich Luft holen, mich aus den dicken Winterkleidern befreien und in die gut geheizte Casa treten.

In diesem Jahr waren die alten Andereggs im Tal geblieben, die harten Bergwinter waren ihnen zu anstrengend geworden. Die alten Bergbauern waren, wie andere auch, endgültig hinunter ins Tal gezogen. Meine Eltern waren deshalb in die grössere, alte Wohnung der Andereggs gezogen und kümmerten sich jetzt um die Gäste in der Ferienwohnung. Vater schaute zum Haus, hielt die Heizung in Gang, schaufelte Schnee und drehte seine Runden, die ihm regelmässig einen Besuch im Hirschen ermöglichten. Er sah gut aus, die Tätigkeit an der frischen Luft tat ihm gut.

Nach dem Mittagessen half ich Mutter beim Abtrocknen. «Wie früher», lächelte sie, «das war deine Aufgabe, Jakob.» Die gewohnte Vertrautheit stellte sich wieder ein. Wir fanden unseren Rhythmus in der engen Küche, arbeiteten einander in die Hand. Mutter klönte über dies und jenes, kaute die neuesten Dorfgerüchte durch. Sie schien zu einer der Dorffrauen geworden zu sein. Neuerdings gehe sie mit Vater Schneewandern, erzählte sie begeistert. Ja genau, mit den Tennisschlägern an den Schuhen, parierte sie meine Anspielung. Herrlich sei es entlang den stillen Hängen und durch den tief verschneiten Oberwald. Dann kam die Sprache auf Sophie.

Man erzähle im Dorf, sie sei irgendwo im Schmelztiegel Londons gestrandet. «Stell dir vor, man sagt, sie singt in Nachtlokalen.» Mutters Abscheu vor solch sündigen Etablissements, die sie offenbar mit den Dorffrauen teilte, war deutlich herauszuhören. Nur wenig fehlte, und sie hätte sich bekreuzigt, wie es hier oben Sitte war, wenn es galt, Unheil abzuwenden. Als Mutter mein wachsendes Interesse am Thema bemerkte, lächelte sie schelmisch: «Du wirst Sophie morgen selber fragen können. Sie hat angerufen, sie brauche für ein paar Tage Heimatluft und ein paar Kubikmeter Schnee, hat sie gesagt. Ich habe ihr altes Zimmer für sie hergerichtet.

Der Schneesturm hatte etwas nachgelassen. «Ich drehe noch eine Runde», rief ich vom Windfang her über die Schulter.

«Wie der Vater, genau der Vater», rief mir Mutter nach.

Genau, Vater stand mit Gian Piatt vor dem Hirschen. «Wie früher, exakt wie früher!», ereiferte sich Gian in weissen Atemwolken, die Hände in den Hosentaschen, mit einer schwarzen Zipfelmütze tief über die Ohren heruntergezogen. «Die machen doch nie etwas für uns hier oben.»

Seit Mittag war die Strasse einmal mehr unpassierbar, das Postauto hatte es noch knapp ins Tal geschafft. Die Verwehungen bei der oberen Brücke würden erst morgen geräumt werden, wenn der schwere Schneepflug aus dem Tal den Weg nach Toss in Angriff nehmen konnte.

«Unerhört! An uns denken sie immer zuletzt!», wetterte Gian.

Vater winkte mir zu, legte den Arm um Gian: «Kommt, kommt, wir wollen schauen, ob die im Hirschen etwas Neues wissen.»

«Aber da kommen wir doch gerade her?», wunderte sich Gian.

«Aber Jakob noch nicht!», wurde er überzeugt.

•••••

Sophies Umzug von Bern nach Zürich war keine grosse Sache, ein Koffer, ein Rucksack, darin fand die gesamte Habe Platz. Mitten im lebendigen Niederdorf, in der Nähe des Predigerplatzes, entdeckte sie eine bezahlbare Einzimmerwohnung. Sie lag direkt neben der für ihr Musikprogramm berühmten Carltonbar. Es spielten bekannte und weniger bekannte Musikgruppen. Sophie genoss es, sich nach einem anstrengenden Tag bei einem Schlummertrunk in der Bar zu entspannen. Ab und zu besuchte sie einen Konzertabend, Schlafen konnte sie meist nicht vor Mitternacht, da die Konzerte oft bis weit in die Nacht hinein dauerten und die Bässe bis in ihre Wohnung hämmerten. Aber sie wusste dies bereits, als sie die Wohnung in der Altstadt besichtigte. Der Vermieter, ein dicklicher, nach Alkohol riechender älterer Herr, erklärte ihr: «Ruhig werden Sie es hier nicht haben, Frau Anderegg, aber Sie sind noch jung und haben sicher Spass an der lebendigen Umgebung.»

Ihre Wohnung lag ausserdem in der Nähe ihres Arbeitsortes, dem Reisebüro Maruc Travel. Martina Maruc, die Besitzerin, war ausgesprochen nett und zuvorkommend. Beim Vorstellungsgespräch waren sich die beiden Frauen auf Anhieb sympathisch. Die hagere, gross gewachsene, sportlich-elegant gekleidete Martina und die eher freche, wilde Sophie schienen gut zueinander zu passen und freuten sich auf die gemeinsame Arbeit. Auch in einer Zeit, in der man froh war, qualifiziertes Personal zu finden, war Martina Maruc sehr wählerisch. Sie wusste, was ein gutes Team bedeutete. Hervorragende Beratung und Kundenfreundlichkeit waren eine Spezialität des Reisebüros, das als Geheimtipp galt.

Die zwei Jahre ältere Martina interessierte sich nach einigen Enttäuschungen, über die sie schwieg, kaum noch für Männerbekanntschaften. Sie stellte ihre Arbeit in den Vordergrund, selbst wenn der Richtige käme, würde sie kaum Zeit für eine neue Partnerschaft finden.

«Komm, du musst wieder einmal unter die Leute», pflegte Sophie Martina von der Arbeit weg zu locken. Nach einigen anfänglichen Protesten zogen die beiden Frauen dann doch ausgelassen wie Schulmädchen durch die Bars im Dörfli.

Wenn eine Zufallsbekanntschaft an Martina Interesse zeigte, verhielt sie sich meist stachelig und zickig, sodass jeder noch so liebenswerte Mann rasch das Weite suchte. Nein, Martina war nicht chancenlos, trotz ihrer muskulösen, aber hageren Gestalt wirkte sie attraktiv, und sie kam mit ihrer charmanten Ausstrahlung und ihren grossen, dunklen Augen gut an, nicht nur bei Männern.

•••••

In Toss schneite es am andern Morgen immer noch, das Wetter hatte sich in der Nacht wieder verschlechtert. Ein kalter Wind trieb die Schneeflocken waagrecht vor sich her. Wer konnte, blieb zu Hause und verkroch sich hinter dem Ofen. Trotz des schlechten Wetters war Gian mit den Skiern ins Tal gefahren und hatte dafür gesorgt, dass Sophie mit dem Pistenfahrzeug bis zum Oberwald hochgefahren wurde. Dort hatten sich Sophie und Gian die Skier angeschnallt und waren auf dem alten Forstweg durch den Wald ins Dorf gelangt, der einzigen, beschwerlichen Route der Einheimischen ins Dorf, wenn die Strasse gesperrt blieb. Ich stand am Fenster und schaute zu, wie Gian und Sophie sich vor der Casa verabschiedeten. Zwei dick eingepackte, schneebedeckte Figuren, diejenige mit dem riesigen Rucksack musste Sophie sein. Gian grüsste mit dem Skistock zu den Fenstern hin und zog weiter. Ich ging hinunter zum Eingang, mit einem seltsamen Gefühl im Magen, voller Erwartung auf die neue, alte Freundin aus weit zurückliegenden Zeiten.

Sophie trug eine knallrote Skijacke, hellblaue Hosen und eine gelbe Mütze. «Die Freude an bunten Farben hat sie sich bewahrt», schoss mir durch den Kopf. Mit dem Reisbesen, wie er im Dorf vor jeder Türe stand, fegte sie sich den Schnee von den Skistiefeln, klopfte ihn von den Kleidern. Ich öffnete die Türe vom Windfang, nahm ihr den Rucksack ab.

«Willkommen zu Hause!» Mehr kam mir nicht in den Sinn.

«Du hier! Ich glaube es nicht! Deshalb klang deine Mutter so geheimnisvoll am Telefon! Wie schön, dich zu sehen!»

Wir umarmten uns. «So lange ist es her, ewig!»

«Ich habe dich vermisst», flüsterte ich und roch an Sophies Haaren.

Sophie stützte sich auf meine Schulter und stieg aus den klobigen Skistiefeln, rieb sich die kalten Füsse. Dann wand sie sich aus Überhose und Windjacke, Schals und dicken Pullovern. Mit jeder Schicht verwandelte sich die dick gepolsterte Skifrau wieder in die zierliche, drahtige Gestalt Sophies, die ich in Erinnerung hatte.

«Lass dich ansehen, du bist ja ein richtiger Mann! Bist du auch stärker geworden?»

Demonstrativ versteckte ich meine Hände auf dem Rücken.

Sophie strich mir über den Kopf und lachte: «Machst wohl alles mit dem Kopf?»

Dann stürmte sie die Treppe hoch und trat in die Wohnung, in der sie aufgewachsen war.

Sophies Backen glühten, als sie in der gut geheizten Stube am Esstisch sass, hinter einer riesigen Tasse heisser Schokolade.

«So, wie habt ihr es hier oben?» Ein endloses Palaver bahnte sich an. Vater setzte sich hinzu, und alte und neue Dorfgeschichten wurden so lange ausgetauscht, bis alle auf dem neusten Stand waren und es beim besten Willen über nichts und niemanden mehr etwas zu sagen gab. Sorgfältig schlug Mutter einen weiten Bogen um das Thema, das sie bestimmt am meisten interessierte: Max und London. Doch dafür würde später noch Zeit sein, unter Frauen, vermutete ich. Ich beschränkte mich aufs Zuhören. Von der Seite her schaute ich mir Sophie genauer an. Ich suchte nach Spuren in meiner Erinnerung, Sophie beim Heuen, Sophie auf dem Schönausteg, mit Strubbelfrisur. Heute war sie rot, hatte sich die Haare zu zwei artigen Zöpfen geflochten, wie früher, als wir noch Kinder waren. Ich fand, Sophie habe manchmal, in einem unbeobachteten Moment, einen herben Zug um den Mund.

«Und, was machst denn jetzt so?», fragte Vater.

Mutter schaute ihn strafend an.

«Eh ja, man wird doch noch fragen dürfen?»

«Schon recht», beschwichtigte Sophie, «ich habe einen neuen Anlauf genommen und meine Ausbildung endlich abgeschlossen. Immerhin komme ich jetzt doch noch dazu, die Welt zu sehen und kann herumvagabundieren», lachte sie ihr herzliches Lachen, das mir besonders gefiel. «Bist du immer noch so schwach, Jakob?» Herausfordernd streckte sie mir die Hand entgegen, liess es aber bei einem sanften, freundschaftlichen Druck bewenden.

Sie prüfte meine Hand. «Bürohände, Papierkramhände. Hast du noch genug Kraft, um einen Skistock zu halten? Ich habe Lust auf Berge und Schnee. Begleitest du mich auf eine Tour zur Scherzlihütte, wenn das Wetter besser wird? Ich habe Gian versprochen, zu prüfen, wie es der Hütte nach dem Sturm geht. Aber nur, wenn es nicht zu anstrengend für dich ist.»

Ich nickte. «Wenn das Wetter besser wird, warum nicht?»

«Hilfst du mir beim Nachtessen, Sophie?», fragte die Mutter.

«Wir drehen noch eine Runde, bis ihr soweit seid», zwinkerte mir Vater zu.

•••••

Der Wind hatte nachgelassen, es war unheimlich still geworden nach dem Sturm. Die Wolken hatten sich verzogen, hatten einer eisigen, klaren Nacht Platz gemacht. Ein feiner roter Streifen am Horizont kündigte einen prächtigen Tag an. Über dem Tossberg funkelten die Sterne mit einem Glanz, wie ich ihn nur in Toss gesehen hatte. Sophie federte leicht und unbeschwert voraus, als unternähmen wir einen kleinen Sommerspaziergang. Ich kam mir in der Skimontur eingeschweisst vor wie ein Ritter in seiner Rüstung. Der Schnee unter den Skistiefeln quietschte, das einzige Geräusch. Wir schwiegen, während wir das Dorf durchquerten, als wäre es ein Frevel, die Stille mit Worten zu durchbrechen. Am Dorfplatz brannte eine trübe Strassenlaterne einen Lichtkreis in den Schnee. Noch als wir bereits das Dorf hinter uns gelassen hatten, flüsterte ich. Sophie lachte: «Hier störst du niemanden mehr, kannst wieder normal reden.»

Bei der alten Sägerei zogen wir die Steigfelle auf die Skier und nahmen den Aufstieg dem Tossbach entlang hinauf zur Pläni in Angriff. Sophie ging voran und legte die Spur. Als die Sonne aufging, machten wir einen Zwischenhalt. Wir besprachen die erste Etappe, die uns zum Sattel zwischen dem Tossberg und der Hochebene, der Pläni, führen sollte. Ein kurzer, prüfender Blick über die Schulter, Sophie trat zur Seite, liess mich vorbei. Stillschweigend wechselten wir uns im Spuren ab, unberührter Schnee lag vor meinen Skispitzen. Ich übernahm jetzt die Führung und die anstrengende Arbeit des Pfadens.

«Sag, wenn du nicht mehr kannst», bemerkte Sophie. Doch es lag kein Spott in ihrer Stimme, eher Besorgnis. Sophie hatte nichts von ihrer Kraft und Ausdauer verloren. Ernst, mit gleichmässigen Schritten, stiegen wir auf. Ich hing meinen Gedanken nach. Endlich waren wir oben angelangt, der Wald trat zurück. Sophie übernahm wieder die Führung.

Die Pläni lag bereits im ersten Sonnenlicht. Noch ein paar gleitende Schritte auf die Hochebene, und wir legten eine Rast ein. Ein Felsbrocken, der grau und kalt aus dem Schnee ragte, diente uns als Sitzplatz. Wortlos sassen wir in der Sonne, die schon wärmte. Sophie reicht mir die Sonnencreme, suchte einen Apfel und Tee in ihrem Rucksack.

«Schön ist es hier oben», sagte sie endlich und atmete tief durch, «das habe ich ewig lange vermisst. Hier finde ich mein Gleichgewicht wieder.» Mit einer ausladenden Geste umfasste sie die Aussicht ins Tal. Weit unter uns lag Toss, das Dorf wirkte klein wie Spielzeug.

Nach einer guten halben Stunde nahmen wir den restlichen, steilen Aufstieg zur Scherzlihütte in Angriff.

Die Alphütte wurde nur im Sommer bewohnt, wenn Gian auf der Alp das Vieh der Bauern übersommerte. Jetzt lag sie tief im Schnee versunken. Sophie wies auf die Schneeschaufel hin, die Gian vorsorglich an einen Dachsparren gebunden hatte.

«Männerarbeit!», lachte Sophie. Ich sank bis zu den Knien ein, als ich die Skier auszog und begann, den verwehten Eingang freizulegen. Sophie prüfte unterdessen die Fensterläden und das Dach, alles schien zu ihrer Zufriedenheit zu sein. Ich hatte die Feierabendbank vor dem Haus freigeschaufelt. Sophie brachte ein paar Decken aus der Hütte, wir setzten uns gut eingepackt in die Sonne und untersuchten den Inhalt der Lunchpakete, die Mutter reichlich gefüllt hatte.

«Weisst du, Jakob, mit Max in London, das war schon eine wilde Geschichte», begann Sophie ihre Erzählung:


Nach einem anstrengenden Tag machten wir spät Feierabend. Wir hatten keine Lust, nach Hause zu gehen, und so zog ich mit Martina einmal mehr um die Häuser im Niederdörfli.

«Komm, wir gehen auf einen Schlummertrunk in die Carltonbar, zog mich Martina lachend in unsere Lieblingsbar.

«Aber wirklich nur ganz kurz, ich muss früh ins Bett, sonst schimpft die Chefin», lachte ich.

Ganz nüchtern waren wir beide nicht mehr. Ich hakte mich bei ihr unter, und so betraten wir die Bar. Ich stand noch unter der Türe, und ich sah ihn schon von weitem. Mein Herz klopfte wie wild, als ich ihn auf der Bühne sah. Das war ein unbeschreibliches Gefühl.

Ich verliebte mich Hals über Kopf in den wohlgeformten, hübschen, gross gewachsenen blonden Sänger der Grizzlyboys, ein Traum von einem Mann.

Ich betrachtete Sophie wehmütig von der Seite, sagte aber nichts. Es gab mir einen Stich ins Herz, als sie so schwärmerisch von ihrem Neuen erzählte. «Und dann, was ist geschehen?», wollte ich wissen.

«Tja, Jakob, um ehrlich zu sein, war ich froh, als sich Martina frühzeitig verabschiedete und ich mich an den Sänger heranmachen konnte.» Sophie lachte laut, als sie an diesen Moment zurückdachte. «Ich sprach ihn an, nein, ich himmelte ihn an wie ein doofes Groupie. Seine Chancen, mir auszuweichen, waren minim.»

«Dir auszuweichen ist tatsächlich eine Kunst», versuchte ich, lustig zu sein. Sophie erzählte weiter:


«Ich bin Max», stellte er sich vor und sah mich mit seinen grünen Augen herausfordernd an.

Wir unterhielten uns angeregt. Das heisst, er redete und ich hörte ihm verliebt zu.

«Wir spielen noch zwei Wochen hier in der Carltonbar und reisen nach St. Moritz weiter. Später haben wir Auftritte in London.» Seine Stimme faszinierte mich, und eigentlich hörte ich gar nicht richtig zu, ich war einfach nur verknallt. Noch am selben Abend nahm ich ihn mit nach Hause. Wir liebten uns wild und hemmungslos. Keiner wusste, wie es am anderen Tag weitergehen würde. Mir war es egal, und was am anderen Morgen sein würde, interessierte mich herzlich wenig. Der Morgen würde noch früh genug kommen. Prompt kam ich zu spät ins Büro, Martina sah mich augenzwinkernd an und schwieg bedeutungsvoll. Was sie dachte, schimmerte in ihren Augen. Den Tag verbrachte ich mehr schlecht als recht. Die Nacht war kurz gewesen, umso länger schien nun die Zeit, bis Max am Abend wieder auf mich warten würde.

Nach zwei Wochen zog Max mit den Grizzlyboys weiter. Ich war ein geknicktes Pflänzlein, denn ich wusste nicht, wie es mit Max und mir weitergehen würde.

«Ich melde mich bei dir», sagte er zum Abschied, das war alles. Ausser seinem Namen wusste ich wenig über ihn.

Sophie hielt inne und betrachtete mich von der Seite. Ich zog weitere Köstlichkeiten aus dem Lunchpaket und reichte ihr einen knackigen, roten Apfel. Sie biss herzhaft hinein und erzählte kauend weiter:


Max zog also nach St. Moritz. Es waren gerade mal drei Tage vergangen, ich hielt es nicht mehr aus und fuhr am Wochenende mit dem Zug nach St. Moritz. Ich fand rasch heraus, in welcher Bar er spielte. Max empfing mich zwar mit offenen Armen, aber er war etwas überrascht. Das Wochenende erlebte ich zwischen Bar und Bett, und am Sonntagabend sagte er zum Abschied wieder: «Ich melde mich bei dir.»

In den folgenden Tagen versuchte ich Max zu erreichen, er jedoch war wie vom Erdboden verschwunden. Für Martina war ich wohl eher eine Belastung als eine Hilfe. Ich träumte oft vor mich hin und musste mich zusammenreissen, um den Kunden keine falschen Reisedokumente auszustellen.

Drei Wochen später rief mich Max im Büro an. Ich fiel aus allen Wolken, sein Anruf verwunderte mich, denn mit diesem Telefongespräch hatte ich nicht mehr gerechnet.

Meine Knie waren weich wie Butter, und ich war unfähig, auch nur ein vernünftiges Wort zu reden. Er bot mir spontan ein Engagement als Sängerin an. Ihre bisherige Sängerin, ein nervöses, überdrehtes Mädchen, war ihnen ohne Grund davon gelaufen. So jedenfalls erzählte es mir Max, und ich glaubte ihm.

Wieso hätte ich ihm nicht glauben sollen? Nur schon die Vorstellung, Sängerin bei den Grizzlyboys zu sein, brachte mich zum Schmunzeln, aber auch zum Stottern.


«Ich und vor Publikum singen? Jakob, du weisst, ich habe oft und gerne gesungen, aber eine Gesangskarriere wäre mir nie im Traum eingefallen, zumal mir der Job im Reisebüro Maruc Travel wirklich gut gefiel.»

Ich musste lächeln und bemerkte freundschaftlich: «Du, Sophie, und Sängerin?» Es war zu komisch, wir mussten beide lachen. «Ja, das habe ich ihm damals auch gesagt, dass Singen nicht meine Spezialität sei.»

Ich spottete: «Also, so abwegig ist es nicht, gesungen hast du tatsächlich viel, wenn auch nicht immer richtig», neckte ich sie.

«Ja, ja, du hast ja so Recht», gab Sophie scherzhaft zurück.

Sophie fuhr fort:


Max flehte am Telefon: «Sophie, komm nach London, wir brauchen dich.»

«Wieso gerade ich und wieso jetzt? Ich singe nicht gut genug, um auf der Bühne aufzutreten», sagte ich ihm am Telefon.

«Das ist doch kein Problem für dich, du bist jung, hübsch und unternehmungslustig, das wirst du bestimmt schaffen. Wir haben etwas Zeit zum Üben», schmeichelte er mir. Ich sagte zu.

Ich stand da, mit meinen zitternden Knien, und wusste gar nicht, wie mir geschah.


Sophie bemerkte mein Staunen. Sie sprach leise weiter, ihr Blick war in weite Ferne gerückt: «Ich sag’s dir ehrlich, Jakob, ich war Feuer und Flamme. Trotzdem spürte ich eine Art Lampenfieber in mir. Keine Ahnung, wohin das alles führen sollte. Es war mir egal, Hauptsache, ich sah Max wieder und war mit ihm zusammen. Ich war nach wie vor hoffnungslos vernarrt, naiv, und nach wie vor glaubte ich, dass aus uns ein Paar werden könnte.»

«Aber du warst doch noch gar nicht lange bei Maruc Travel?», wandte ich ein.


Genau, das war mein grösstes Problem. Ich musste Martina beichten, dass ich schon weiter musste, nach London ziehen würde. Du hättest Martina sehen sollen, als ich es ihr sagte. Sie sah mich mit einem mitleidigen Lächeln an und meinte ungläubig:

«Das ist aber nicht dein Ernst?» Sie verstand die Welt nicht mehr.

«Frau Anderegg, hast du es dir gut überlegt?», äusserte sie sich. Ich sah ihr die Enttäuschung an.

«Max ist ein Windhund, und wegen so einem verlässt du Zürich und einen guten Job Hals über Kopf!»

Ich schüttelte nur den Kopf und verstand Martina nicht.

«Wie du meinst, du musst wissen, was für dich gut ist.» Mehr sagte sie nicht dazu.

Ich teilte die Ansicht von Martina, blieb aber still, schaute Sophie verwundert an: «Und dann bist du am anderen Tag nach London geflogen?»


Nein, natürlich nicht gleich. Es dauerte noch eine Woche, bis ich nach London flog. In dieser Zeit hatten die Grizzlyboys Spielpause, dies erzählte mir Max jedenfalls am Telefon. Es waren verrückte Tage. Ich organisierte innerhalb dieser Wochen mein Leben neu. Die Wohnung behielt ich sicherheitshalber. Wie lange dieses Abenteuer dauern würde, konnte ich nicht wissen.

Meine Gedanken kreisten um Max. Keinen blassen Dunst, was mich in London erwartete. Hätte ich auf Martina gehört, wäre mir einiges erspart geblieben. Aber eben, ich konnte nicht anders.

Die Stimmung im Reisebüro wurde unerträglich, immer wieder forderte mich Martina auf, mich darauf zu besinnen, was ich tat. Ich war so verliebt und so blind, dass ich Max überall hin gefolgt wäre, sogar nach Australien, in den Dschungel, unter die Brücke, nach Honolulu oder wo auch immer. Und dass es nun London sein würde, nein, Jakob, das war das Letzte, an das ich gedacht hätte. Und erst noch als Sängerin.

Sophie lachte laut. Sie schien sich mit einem Male befreit zu fühlen, froh zu sein, ihr Herz ausschütten zu können. Sie legte den Kopf an meine Schulter. Das tat sie oft, wenn wir so vertraut zusammensassen. Wir waren wirklich gute Freunde, das spürten wir beide in solchen Momenten. Ich genoss es, dass die alte Vertrautheit zwischen uns nicht verloren gegangen war. Sophie nahm den Kopf wieder von meiner Schulter, setzte sich gerade hin. Die Sonne stand hoch, als sie mit ihrer Erzählung weiterfuhr. Die Stimmung hatte sich geändert, Sophie klang heiser: «Es war ein Albtraum, Jakob.»

Dann schwieg Sophie wieder lange. Die Köstlichkeiten aus dem Lunchpaket von Mutter Erler waren in der Zwischenzeit alle verzehrt. Es blieben nur noch die leeren Verpackungen übrig. Um die Verlegenheit zu überbrücken, verstaute ich die Abfälle im Rucksack, ich würde sie zu Hause brav wieder abgeben. Ein bisschen wehmütig dachte ich zurück an die Zeit, als wir noch Kinder waren.

«Dieses verrückte Huhn!» Ich mochte Sophie sehr. Sie war so anders, lebendig, quirlig und manchmal unbesonnen und unmöglich. Einfach nach London ausreissen, ich hätte das nie gekonnt und ich bewunderte sie dafür.

«Weisst du, Jakob», riss mich Sophie aus meinen Gedanken und erzählte weiter:


Zwei Tage nach meiner Ankunft in London machte ich es mir in der einfachen Unterkunft mit der Band gemütlich und freute mich auf meinen ersten Auftritt als Sängerin. Die Band war mir nicht fremd, Rolf, der Drummer, und Fritz, der Bassist, sind nette Kerle, und den Gitarristen kannte ich schon von Zürich her.Sophie lachte schrill und sah an mir vorbei.


Es sollte alles anders kommen. Max erklärte uns: «Es gibt Schwierigkeiten mit dem Engagement. Der Veranstalter will uns nicht das bezahlen, was abgemacht wurde.»

«Das sagst du doch immer?», wandte Rolf ein.

«He Kinder, macht mal keinen Stress, es wird schon weiter gehen», versicherte uns Max.

Für Max gab es nie ein Problem. Seine unbekümmerte und unbedachte Art brachten mich und die Band in diesem Moment an den Rand der Verzweiflung.

«Ich fliege zurück nach Zürich, mir ist das alles zu viel», schrie ich ihn an.

«Wer wird denn gleich hysterisch?», lächelte er verächtlich.


«Und wie ging es weiter?»

Sophie blickte mir jetzt geradeaus in die Augen und entgegnete nur: «Das ist aber eine lange Geschichte, magst du noch zuhören?»

«Dir höre ich gerne zu. Erzähl weiter.»

Sophie zog die Decke etwas fester um ihren Körper und lehnte sich an mich, während sie weiter berichtete.


Rolf und Fritz solidarisierten sich mit mir, auch ihnen wurden die Lügen- und Frauengeschichten von Max zu viel. Es war nicht das erste Mal, dass er seine Kollegen in Schwierigkeiten brachte. Er erzählte ihnen jeweils von einem Superengagement, dabei spielten sie oft in dunklen, miesen Spelunken. Engagements, die wenig bis gar nichts einbrachten.

Uns reichte es endgültig, und so warfen wir Max aus der gemeinsamen Wohnung und suchten nach neuen Möglichkeiten. In die Schweiz zurückzukehren, das gab mir mein Stolz in dieser Situation nicht zu. Was hätte Martina wohl gesagt? Rolf und Fritz waren fürsorglich, und jeder machte sich Hoffnung auf mich. Es war rührend, wie die beiden sich um mich kümmerten. Rolf mit seiner humorvollen und bodenständigen Art sprach mich mehr an als der kleine, dickliche Fritz. Die Besorgnis der beiden ehrte mich und gab mir ein gutes Gefühl. Aber mein Herz hielt Max nach wie vor gefangen; diesen Vaganten und Nichtsnutz, diesen Lümmel, diesen fiesen miesen Kerl.


Sophie sprach sich in Rage, als sie an diese Zeit zurückdachte. Ich musste lächeln, als ich ihre sprühenden Augen und geröteten Wangen bemerkte. Das war es, was ich an ihr so liebte: ihr Temperament, ihre Lebendigkeit und ihre Ehrlichkeit.

«Max, dieser Lügner, Hornochse, Idiot …» Sophie holte Luft und fuhr weiter.


Einige Tage später tauchte Max vor unserer Wohnung auf. Wir waren auf dem Weg zu einem Auftritt.


«Zu einem Auftritt? Aber Max war doch der Bandleader?» Ich sah Sophie forschend an.

«Es ging auch ohne Max. Der Besitzer vom Irishpub war ein Freund von Rolf, der fragte uns für einen Auftritt an.»

«Aber der Gitarrist fehlte doch?»

«Nicht wirklich. Einen Ersatz für Max zu finden, war recht einfach. Der Pub-Besitzer stellte uns einen jungen talentierten Musiker vor, der hervorragend zu uns passte, und so war unsere Band auch ohne Max wieder komplett. Zeit zum Üben hatten wir alle, und das war gut so.»

«So viel erlebt, davon hast du mir auf deinen Postkarten nie etwas geschrieben.»

«Es war eine Zeit, an die ich mich nicht so gerne erinnere. Und zudem hätte ich tausend Postkarten schreiben müssen, um dir alles zu berichten», lachte Sophie. «Aber wart, ich will dir die Geschichte von Max noch fertig erzählen», sagte sie entschlossen.

Sieben Berge

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