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Der Anteil der Deutschen an der Erschließung und Besiedlung der westlich von den Alleghany’s gelegenen Gebiete – Die deutschen Ansiedler im Strombebiet des Ohio

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Der Anteil der Deutschen an der Erschließung und Besiedlung der westlich von den Alleghany’s gelegenen Gebiete – Die deutschen Ansiedler im Strombebiet des Ohio

Von allen Dokumenten und großen Ereignissen der menschlichen Geschichte haben keine die freiheitlichen Bestrebungen und die Zustände der Völker so mächtig beeinflusst, wie die Unabhängigkeitserklärung und die Aufrichtung des Bundes der Vereinigten Staaten von Amerika. Die erste bedeutete nicht bloß eine entschlossene Lossagung von einem mächtigen Monarchen, dem man unverblümt sein Sündenregister vorhielt, sondern zugleich einen geharnischten Protest gegen die uralte, bisher unangefochtene Lehre vom Gottesgnadentum der Herrscher.

Gleich die zu Anfang des Schriftstückes niedergelegten Erklärungen waren, von einer weltumwälzenden, alle früheren Anschauungen umstoßenden Bedeutung. Sie lauteten: „Wir halten die folgenden Wahrheiten als erwiesen: Dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind. Dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt wurden, welche ihre Befugnisse durch die Zustimmung der Regierten empfangen; dass, wenn jemals eine Regierung gegen ihren Zweck verstößt und zerstörend wirkt, das Volk das Recht hat, die Regierung zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, deren Grundlage auf solche Prinzipien zu legen und ihre Gewalt in solche Formen zu kleiden, wie sie dem Volk zur Förderung seiner Sicherheit und Wohlfahrt am zweckdienlichsten scheinen.“

Gleich einem Feuerbrand wälzte sich dieser durch Thomas Jefferson in Worte gefasste, durch George Washington so glänzend in die Tat umgesetzte Freiheitsgedanke über die ganze Erde. Er flackerte zuerst in Frankreich auf, dem Land, welches den Amerikanern gegen England zur Seite gestanden hatte. Dann trieb er die spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas zu ihren erfolgreichen Unabhängigkeitskämpfen. Er fand ferner in den Freiheitsbestrebungen der westindischen Neger, der südafrikanischen Buren, in den Verfassungskämpfen fast sämtlicher europäischen Länder ein lebhaftes Echo.

In Deutschland hatte man den Verlauf der amerikanischen Unabhängigkeitskämpfe mit äußerster Aufmerksamkeit verfolgt. Nicht bloß darum, weil viele hunderttausend Deutsche Amerika zu ihrer neuen Heimat erkoren hatten und zahllose Deutsche in den kämpfenden Heeren standen. Sondern weil auch in den Herzen der in Deutschland Zurückgebliebenen eine ungestüme Sehnsucht nach Freiheit brannte.

Deutschlands Dichter und Philosophen feierten George Washington als einen Helden, der den größten aller Zeiten gleichzustellen sei. Das allgemeine Staunen wuchs, als Washington nach dem siegreich zu Ende geführten Krieg die Regierung der jungen Republik übernahm und dieselbe unter der Beihilfe von Männern bewährten Verstandes, unantastbaren Charakters und erprobter Vaterlandsliebe zu einem vollendeten Erfolg machte.

Dieser Erfolg bewirkte natürlich eine starke Zunahme der Einwandrung. Verbürgten doch die Vereinigten Staaten den Ankömmlingen volle Gleichstellung in sozialer, und volle Freiheit in religiöser und politischer Beziehung. Obendrein waren durch den Krieg dem Gebiet der Union neue gewaltige Ländermassen hinzugefügt worden, die sich bis zum Mississippi erstreckten und wo sich den Einwanderern tausend Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer materiellen Lage darboten.

Über die Stärke der deutschen Einwandrung während des vom Ende des Kriegs bis zum Jahre 1820 reichenden Zeitraums sind wir nur ungenügend unterrichtet. Weder in Europa noch in Amerika stellte man über den Abgang und Zuzug von Personen statistische Erhebungen an. Aber aus manchen anderen Quellen können wir schließen, dass die deutsche Einwandrung in die Vereinigten Staaten während der genannten Periode beträchtlich gewesen ist.

Die Neuankömmlinge ließen sich entweder in den an der Ostküste bereits bestehenden Ortschaften nieder oder rückten den Kolonisten nach, welche sich zum Einmarsch in die jenseits der Alleghany-Gebirge liegende Gebiete entschlossen.

Die furchtbaren Gräueltaten, welche von den verbündeten Briten und Indianern während des Krieges sowohl in jenen Gebieten, wie in den anstoßenden Teilen von New York, Pennsylvanien, Maryland und Virginien verübt worden waren, hatten den Zug der Ansiedler dorthin gänzlich zum Stocken gebracht. Die Ländereien der „Ohio Compagnie“, der „Mississippi Compagnie“ und anderer Kolonisationsgesellschaften lagen brach. Desgleichen die großen Besitzungen, welche George Washington als Anerkennung für seine während des Franzosenkriegs geleisteten Dienste zugesprochen worden waren. Wie sich aus noch erhaltenen Briefen ergibt, hatte Washington bei der Frage der Besiedlung seiner Besitzungen in erster Linie an deutsche Ackerbauer gedacht. Im Februar 1774 schrieb er von Mount Vernon an James Tilghman in Philadelphia: „Gewichtige Gründe fordern eine rasche, erfolgreiche und zugleich billige Kolonisierung dieser Ländereien. Von allen Vorschlägen, die mir unterbreitet wurden, versprechen keine bessere Erfolge, als die Besiedlung der Ländereien mit Deutschen aus der Pfalz.“

Aus anderen Quellen wissen wir, dass Washington sich eifrig erkundigte, wie dieser Plan ausgeführt werden könne und ob es ratsam sei, einen intelligenten Deutschen nach der Pfalz zu senden, um dort Auswandrer anzuwerben und ihre sichere Überführung nach Amerika zu bewirken. In derselben Angelegenheit wandte er sich an den Reeder Henry Riddle und versprach den deutschen Bauern, die für ihn angeworben würden, nicht bloß die Reisekosten bis zum Ohio zu bezahlen, sondern sie auch bis zur ersten Ernte mit allem Nötigen zu unterstützen und ihnen für vier Jahre den Pachtzins zu erlassen. – Allen diesen Plänen machte der Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges ein Ende.

Auch nach dem Kriege geschah die Besiedlung des Ohiogebietes nur langsam. Die unwirtlichen, mit ihren höchsten Gipfeln 2.000 m emporsteigenden Ketten der Appalachen- oder Alleghanygebirge bildeten einen Wall, der dem Vordringen der Ansiedler gen Westen außerordentliche Hindernisse bereitete. Denn das ungeheure, vom 32. bis zum 49. Grad n. Br. reichende Gebirgssystem bestand nicht etwa aus einem einzigen Rücken, sondern aus zahlreichen parallelen Ketten, die sämtlich mit dichten, an Unterholz reichen Urwäldern bewachsen waren. Diese zu durchdringen und die Ketten zu überschreiten, hatten bereits die ersten Erforscher dieses Gebirgssystems, die beiden Deutschen Johann Lederer und Henry Batte, während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sich vergeblich bemüht. Überall waren sie auf ein Chaos von Steinblöcken und gefallenen Baumriesen gestoßen, über und zwischen welchen üppig wuchernde Moose, Schlingpflanzen, Rhododendronsträucher und Balsamtannen dem menschlichen Fuß das Vordringen wehrten, dagegen Bären, Panthern, Wölfen, Füchsen und anderen Raubtieren sichere Schlupfwinkel darboten.

Erst nachdem die Gefahr blutiger Zusammenstöße mit Franzosen und Briten geschwunden und es gelungen war, in der Gebirgsmauer einige Pässe zu entdecken, kam die Westwärtsbewegung der Ansiedler wieder in Fluss.

Es standen für dieselben mehrere Wege offen: im Süden das berühmte Cumberland Gap, ein von Nordkarolina und Virginien nach Tennessee und Kentucky leitender Engpass; ferner der vom Potomac zum Monongahela führende Saumpfad, den der englische General Braddock im Jahre 1754 zu seinem unglücklichen Vorstoß gegen das französische Fort Duquesne benutzt hatte. Drittens der Weg, der von Henry Bouquet im Jahre 1758 bei seiner gegen dasselbe Fort gerichteten Expedition gebahnt worden war. Weiter im Norden gesellte sich dazu das Mohawktal, welches in späteren Zeiten auch den Eisenbahnen als wichtigste, zum Westen führende Pforte diente.


Cumberland Gap. Nach einem Gemälde von W. L. Sonntag

Die Entdeckung des Cumberlandpasses schreibt man dem Virginier Walker zu, einem jener kühnen Männer, die sich von dem Gemeinwesen absonderten, um in das sie mächtig anziehende geheimnisvolle Innere des nordamerikanischen Kontinents vorzudringen und dort der Jagd auf Pelztiere obzuliegen.

Der Pelzhandel bildete bekanntlich während des 17. und 18. Jahrhunderts die wichtigste Einnahmequelle der europäischen Kolonien in Nordamerika. Mit ihm beschäftigen sich Tausende und Abertausende Personen. Ihm verdankten zahllose Handelsplätze und Ortschaften Ursprung und Dasein. Er rief auch neue, in Europa ganz unbekannte Menschengattungen hervor: die Trapper, Voyageurs und Pelzhändler.


Ein Trapper des 18. Jahrhunderts

Schwerlich gab es jemals verwegenere Männer als diese. Zu Fuß, zu Ross oder auf schwanken Rindenbooten, meist allein, manchmal zu zweit, seltener zu mehreren vereint folgten sie den natürlichen Wegweisern, den Strömen, oder schmalen, nur geübten Augen erkennbaren Wild- und Indianerpfaden. Ihr ganzes Dasein bildete eine ununterbrochene Kette furchtbarer Entbehrungen und Gefahren. Bald mussten sie mit dem Beil mühsam Wege durch das Dickicht bahnen, bald Moräste und Ströme überschwimmen, daneben Hunger und Durst, im Sommer glühenden Sonnenbrand, im Winter bittere Kälte ertragen. Befanden sie sich in Feindesland, so durften sie nicht wagen, die Zeit mit einem lustigen Lied zu kürzen oder ein wärmendes Feuer anzuzünden, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer gefährlichsten Feinde, der Indianer, zu erregen. Denn die letzteren erkannten in den weißen Jägern nicht bloß Konkurrenten, die ihnen im Ausbeuten des Jagdreviers Schaden zufügten, sondern sie trugen ihnen auch einen unversöhnlichen Rassenhass entgegen. Wehe dem Trapper, den das Missgeschick in die Gewalt eines feindlichen Stammes geraten ließ. Er entging nur dann einem grauenhaften Tode, wenn, was bisweilen geschah, eine noch unverheiratete oder verwitwete Indianerin ihn zum Gatten begehrte, oder wenn eine Frau, die ihre Söhne verloren, ihn adoptierte. Wo keine solche Lösung erfolgte, da endete das Leben des Gefangenen am Marterpfahl, unter Qualen, die an Entsetzlichkeit hinter den von den Ketzerrichtern des mittelalterlichen Europa ausgeklügelten Torturen nicht zurückblieben. Bestanden sie doch in der stückweisen Zerstörung des Körpers unter Schonung der die Lebensdauer verbürgenden edlen Teile. Sie begannen mit dem Ausreißen der Nägel an den Zehen und Fingern, dem Ausbrechen der Zähne, dem Zermalmen der einzelnen Glieder, dem Bloßlegen und Zerstören der einzelnen Nerven, um sich zu immer raffinierteren Quälereien zu steigern, die manchmal tagelang dauerten, bis der Unglückliche ihnen endlich erlag.

Unter den Verwegenen, welche solchen Mühseligkeiten und Gefahren mutig Trotz boten und als Vorläufer der Kultur in die Wildnis am Ohio eindrangen, befanden sich auch viele Deutsche. Sie kamen vom Fuß der den Staat Pennsylvanien durchziehenden Blauen Berge; sie kamen aus Maryland, Virginien und Karolina.

Die Taten mancher dieser Wackeren sind bis heute nicht vergessen. So erzählt man noch heute von Georg Jäger, der, lange bevor der von den Anglo-Amerikanern als „Pionier Kentuckys“ gefeierte Daniel Boone dort auftauchte, in der „großen Wildnis“ jagte. Im Jahre 1771 traf er am Kanawha mit Simon Kenton, dem späteren Helden des Ohiotals, zusammen und entflammte durch die Beschreibung der gesehenen Landschaften und ihrem Wildreichtum die Phantasie des jungen Mannes so, dass derselbe sich entschloss, mit Jäger dorthin zu ziehen.

Michael Steiner oder Stoner durchstreifte bereits im Jahre 1767 Tennessee. Im Jahre 1774 ward er in Gemeinschaft mit Daniel Boone ausgesandt, eine Gesellschaft von Landvermessern aufzusuchen und heim zu geleiten, die sich in der Gegend, wo heute die Stadt Louisville steht, verirrt hatte.

Kaspar Mansker war einer der berühmten „long-hunters“ oder „langen Jäger“, die im Jahre 1769 von Nordkarolina zu einem Jagdzug in die westlichen Regionen aufbrachen und durch deren Schönheit und Wildreichtum so gefesselt wurden, dass sie der Heimkehr fast vergaßen. Sie traten erst nach einem vollen Jahre den Rückmarsch an und erhielten wegen ihres langen Ausbleibens den obigen Spitznamen. Mansker kreuzte die westlichste Kette der Appalachen, die Cumberlandgebirge, unzählige Male. Er war auch der erste Weiße, welcher den Cumberlandfluss befuhr.

Ein ähnlicher Waldsohn war Michael Schuck. Seine aus Deutschland eingewanderten Eltern waren samt seinen Geschwistern in Nordkarolina von Indianern ermordet worden, worauf der allein im Wald zurückgebliebene Knabe auf die abenteuerlichste Weise sein Leben fristete. Mit dem Instinkt eines Panthers und dem Scharfblick eines Adlers begabt, wuchs er zum echten Trapper heran. Außer seinem mächtigen Bau war dieser deutsche Indianer in seinen späteren Tagen durch schneeweiße Haare gekennzeichnet, die weit über die breiten Schultern herunterfielen. Beständig mit den Rothäuten kämpfend, drang Schuck in jahrzehntelangen Streifzügen bis nach Missouri vor, in dessen unbekannten Wäldern er seinen Geist aushauchte.

Einen ähnlichen Lebenslauf hatte der berühmte Indianerjäger Ludwig Wetzel, ein Sohn des Pfälzers Johann Wetzel, der zu den ersten Ansiedlern von Wheeling gehörte, aber im Jahre 1787 von Indianern erschlagen und skalpiert wurde. Seine fünf Söhne schwuren, den Tod ihres Vaters zu rächen. Keiner erfüllte diesen Schwur in so furchtbarer Weise, wie Ludwig, der jüngste der Brüder. Mit der Kampfweise der Indianer genau vertraut, stellte er sich die Aufgabe, ihrer so viele als möglich umzubringen, unbekümmert darum, dass die Regierung sich große Mühe gab, mit den Indianern Friedensverträge abzuschließen.

Als Wetzel fortfuhr, einen Indianer nach dem andern wegzuschießen und infolgedessen die Unruhen kein Ende nehmen wollten, setzte der Befehlshaber des an der Stelle der heutigen Stadt Cincinnati erbauten Forts Washington einen Preis auf die Festnahme Wetzels. Er wurde tatsächlich gefangen und eingesperrt. Es gelang ihm aber zu entkommen, worauf er die Indianerjagd mit neuem Eifer aufnahm. Abermals gefangen, sollte er erschossen werden. Aber nun brachen die Pioniere von beiden Seiten des Ohio in Massen auf, um Wetzel mit Gewalt zu befreien. Sie drohten, die ganze Besatzung des Forts zu massakrieren, wenn man Wetzel ein einziges Haar krümme. Um Blutvergießen zu vermeiden, gab der Befehlshaber des Forts den Gefangenen frei, nachdem derselbe sich feierlich zum Einhalten des Friedens verpflichtet hatte. Nach mancherlei anderen Abenteuern starb Wetzel später in Texas.

Solcher Art waren die deutschen Männer, die an der Erschließung des Ohiogebietes teilnahmen. Ihnen folgten einzelne Truppenabteilungen, welche die von den Franzosen und Engländern erbauten Forts besetzten, an anderen geeigneten Stellen neue Befestigungen anlegten und so überall Stützpunkte schufen, von wo aus die Besiedlung des Ohiogebiets in gesicherter Weise erfolgen konnte.

Solche Stützpunkte waren die Forts Pitt, Campus Martius, Steuben, Washington, Defiance, Recovery, Sandusky, Detroit, St. Joseph, Adams, Wayne und andere. Im Jahre 1803 legte der Artillerieleutnant J. Swearingen, der Sohn eines zu Schäferstown in Virginien lebenden Deutschen, an der Mündung des Chicagoflusses in den Michigansee das Fort Dearborn an, welches mehrere Jahre später infolge der Abschlachtung seiner Bewohner durch feindliche Indianer eine traurige Berühmtheit erlangte.

Diese aus rohen Baumstämmen aufgeführten, mit Holztürmen und Palisaden versehenen Forts dienten zugleich als Stationen für den Pelzhandel wie als Niederlagen, wo die Trapper und Ansiedler Waffen, Munition, Fallen, Kochgeschirre, Kleider, Ackergeräte und alle anderen Notwendigkeiten gegen die erbeuteten Pelze oder den Überschuss ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse eintauschen konnten.

Nachdem auf diese Weise den dringendsten Forderungen der Sicherheit Rechnung getragen war, schritt die Besiedlung des Ohiogebiets rasch vorwärts. Trotz der unbeschreiblichen Mühseligkeiten, die das Überschreiten der rauen Gebirgsketten mit sich brachte.

Eine im Jahr 1784 entworfene Karte Kentuckys zeigt bereits fünfzig Forts, acht Niederlassungen und zahlreiche, aus mehreren Blockhütten bestehende „Stationen“. Vornehmlich an den Ufern der Ströme entfaltete sich reges Leben. Denn die meisten Einwandrer zimmerten, sobald sie die Gebirge hinter sich hatten und an schiffbare Gewässer kamen, Flöße oder sogenannte „Flachboote“ und „Archen“, geräumige Fahrzeuge mit hüttenartigen Aufbauten, die den Reisenden nachts und bei unfreundlichem Wetter als Unterkunft dienten.

Der erste Flachbootschiffer auf dem Ohio war der Deutsche Jakob Joder. Er fuhr im Jahre 1757 den Strom hinab.

Die Habseligkeiten und das mitgeführte Vieh waren im Hinterteil des Fahrzeugs untergebracht. Zwei mächtige, auf dem Dach der Hütte befestigte Ruder, die „broad horns“, dienten dazu, das schwimmende Farmhaus im Fahrwasser des Stroms zu halten. So ließ man sich oft wochenlang die Flüsse abwärtstragen, bis man an Plätze kam, die dem Geschmack der Reisenden zusagten und durch ihre Lage und Umgebung gute Aussichten für die Zukunft boten. Dann wurde das Fahrzeug ans Ufer gesteuert, zerlegt und zum Bau der Hütten verwendet. Auf solche Weise entstanden am Ohio und seinen Nebenflüssen zahlreiche Orte, deren Bevölkerung aus englischen, deutschen, schottischen, irischen, französischen, holländischen und indianischen Elementen bestand. An vielen Orten zählten Deutsche zu den Gründern. Major Benjamin Steitz und Mathias Denman besaßen z. B. im Jahre 1788 den größten Teil des Bodens, auf dem Cincinnati erbaut wurde. Einem deutschen Helden des Unabhängigkeitskrieges, Major David Ziegler, fiel die Ehre zu, im Jahre 1802 als erster Bürgermeister des Dorfs gewählt zu werden.


Ein Fort des 18. Jahrhunderts

Israel Ludlow gründete in Gemeinschaft mit einigen Amerikanern im Jahre 1795 Dayton; Ebenezer Zane (Zahne) 1796 Zanesville und Neu-Lancaster.

Die Namen der in den Staaten Ohio, Indiana, Kentucky und Tennessee gelegenen Orte Frankfort, Potsdam, Hannover, Germantown, Berlin, Minster, Freiburg, Glandorf, Wirtemberg, Osnaburg, Speyer (Spires), Bern, Geneva, Saxon, Oldenburg, Hermann, Ferdinand, Betzville, Baumann, Neu-Elsass, Bremen, Wartburg und viele andere verraten schon durch ihren Klang die deutsche Herkunft ihrer ersten Besiedler. Deutsche gründeten auch die Stadt Steubenville, deren Namen an den berühmten Organisator des amerikanischen Heeres erinnert.

In der Folge wurden die Täler des Ohio und seiner Nebenflüsse, insbesondere auch die vom Mohawktal nach Buffalo, Cleveland, Pittsburg und Detroit führenden Straßen zu einem Hauptsiedlungsgebiet der Deutschen in Nordamerika.

Es war hauptsächlich das junge unternehmungslustige Volk der östlich von den Alleghanys bestehenden älteren Niederlassungen, das sich hier ansiedelte, um, wie die Väter es getan, im Urbarmachen neuer schöner Landschaften die eigne Kraft zu proben.

Gestärkt wurde es später durch stetig wachsende Scharen aus Deutschland kommender Einwandrer. Gemeinschaftlich verliehen diese Deutschen zahlreichen Plätzen jenes eigenartige Gepräge, das die ältere deutsche Einwandrung manchen Teilen der Oststaaten aufgedrückt hatte. In friedlichem Wettbewerb mit ihren Mitbürgern anglo-amerikanischer Abkunft halfen sie im Lauf der Jahrzehnte die ungeheure, vom Stromsystem des Ohio bewässerte Wildnis in jene Gefilde verwandeln, die heute zu den ertragreichsten der ganzen Union gehören.

Wie die Deutschen im Osten sich vielfach als Pioniere der Industrie und des Handels zeigten, so trugen sie auch zur industriellen Entwicklung des Ohiogebiets in reichstem Maße bei. Kaum war Louisiana in den Besitz der Amerikaner übergegangen, so wendeten sie ihre Aufmerksamkeit der wichtigen Frage zu, wie die weite Entfernung nach der zum Hauptstapelplatz für alle Ein- und Ausfuhrgüter werdenden Stadt New Orleans am raschesten zurückgelegt werden könne.


Cincinnati im Jahre 1802

Der Verkehr mittels der Flöße und Flachboote war äußerst langwierig. Obendrein konnte man diese Transportmittel nur für eine einzige Reise flussabwärts benutzen, da mit solchen Fahrzeugen unmöglich gegen die starke Strömung des Mississippi angekämpft werden konnte.


Ein Flachboot auf dem oberen Ohio

Zur Rückfahrt mussten die Mannschaften stets leichte Kanus verwenden.

Auch die Rundreisen der später an Stelle jener Flachboote tretenden Kielboote gestalteten sich überaus langwierig. Zwischen den beiden äußersten Punkten, Pittsburg und New Orleans, dauerten sie gewöhnlich ein volles Jahr. Diese lange Zeit wurde auf die Hälfte verkürzt, als der ehemalige Rheinschiffer Heinrich Bechtle im Auftrag des in Cincinnati lebenden Kaufmanns Martin Baum mehrere Segelbarken baute, die zur Rundreise nicht mehr als sechs Monate benötigten.

Deutsche gaben auch die erste Anregung zur Anlage des die Ohiofälle umgehenden Kanals bei Louisville. Ein Deutscher namens Bernhard Rosefeldt baute ferner das erste Dampfschiff der westlichen Ströme. Es erhielt den Namen der Stadt New Orleans und legte seine erste Reise dorthin im Jahre 1811 zurück.

Die Entdeckung der unerschöpflich reichen Kohlen- und Eisenerzlager im Ohiogebiet hatte die Übertragung der Eisenindustrie dorthin zur Folge. Wie auf der Ostseite der Alleghanygebirge, so halfen die Deutschen auch hier diese Industrie mächtig entwickeln. Der bei Strasburg geborene Georg Anschütz wurde durch Anlage einer Schmelze im Jahre 1792 der Pionier der Eisenindustrie Pittsburgs. Der kluge deutsche Geschäftsmann Jakob Meyers aus Baltimore errichtete um dieselbe Zeit am Slate Creek in Kentucky ein Schmelzwerk, wo außerdem allerlei Bedarfsgegenstände, Werkzeuge, Öfen, Kochtöpfe, Geschützläufe und andere Dinge hergestellt wurden. Anfangs litten die Arbeiter freilich so sehr unter den Nachstellungen der Indianer, dass die Hälfte der Leute stets Waffendienst verrichten musste. Deutsche namens Schreeve gründeten auch im Greenup County einen Hochofen mit Dampfgebläse, der von 1824 bis 1860 in Betrieb war.

Mit dem immer mächtiger anschwellenden Strom der Einwandrung verbreiteten die Deutschen sich über das ganze südlich von den großen Seen liegende Gebiet. Sie befanden sich unter den ersten Bewohnern der Städte Indianapolis, Louisville, Knoxville, Nashville, Chicago, Peoria und Milwaukee und erwarben überall durch Fleiß, Ausdauer und Ordnungsliebe die Achtung ihrer Mitbürger. Dass sie durch ihre Erfolge sogar den Neid minder glücklicher Mitbewerber herausforderten, erhellt aus manchen, von Nativismus durchtränkten Klagen, denen man in verschiedenen anglo-amerikanischen Zeitungen jener Periode begegnet, und wo es heißt, dass die Deutschen im Erobern des Handels und Gewerbes unwiderstehlich seien.


Fort Washington am Ohio. Nach einer Zeichnung vom Ende des 18. Jahrhunderts.


Amerikanische Flussdampfer aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

* * *

Die deutschen Ansiedler im Mississippital

Die deutschen Ansiedler im Mississippital

Der erfolgreiche Unabhängigkeitskrieg hatte den Amerikanern zwar den Zutritt zu der großen Stromseele des nordamerikanischen Kontinents, zum Mississippi gebracht, aber sie besaßen nicht die volle Kontrolle über diesen wichtigen Wasserweg. Sein Westufer sowie sein Mündungsgebiet, das ehemalige Louisiana, waren nach der Verdrängung der Franzosen vom nordamerikanischen Kontinent in den Besitz der Spanier übergegangen, die von freier Schifffahrt auf dem „Vater der Ströme“ nichts wissen wollten.

Ungehinderter Verkehr bedeutete aber für sämtliche am Ohio und auf dem Ostufer des Mississippi gegründeten amerikanischen Niederlassungen und Staaten eine Lebensfrage, da sie sonst ihre Erzeugnisse nicht ausführen konnten. Die Lage war unerträglich. Denn der überaus schwierige Transport über die Alleghanygebirge verbot sich der ungeheuren Kosten wegen.

Da, mit Anbruch des 19. Jahrhunderts, änderten diese Zustände sich plötzlich in einer für die Amerikaner überaus günstigen Weise. Spanien musste am 1. Oktober 1800 sein ganzes Besitztum am Mississippi an Frankreich zurückgeben. Napoleon Bonaparte aber, der seinen bereits in der Luft liegenden unvermeidlichen Krieg mit England voraussah, empfand den überseeischen Besitz als eine schwere Last, da er außerstande war, Louisiana gegen einen englischen Flottenangriff zu schützen. Er beschloss deshalb, sich jenes Riesenreichs in einer Weise zu entäußern, die Frankreich nicht nur materiellen Nutzen bringen, sondern zugleich seinen Gegnern einen argen Strich durch die Rechnung machen sollte.

„Die Engländer“, so erklärte er seinen Ministern, „streben, die Reichtümer und den Handel der ganzen Welt an sich zu reißen. Um die Völker von ihrer unerträglichen kommerziellen Tyrannei zu befreien, ist es nötig, ihren Einfluss durch eine Seemacht zu balancieren, die ihnen eines Tages die Handelssuprematie streitig machen kann. Diese Macht sind die Vereinigten Staaten. Stärke ich deren Stellung durch Abtreten des Mississippigebiets, so erhält England im Welthandel einen Mitbewerber, der seinen Übermut früher oder später dämpfen wird.“

Die mit den Vereinigten Staaten angeknüpften Verhandlungen kamen am 30. April 1803 zum Abschluss, wodurch Louisiana gegen eine Summe von 15 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten überging. Durch dieses großartigste Landkaufgeschäft aller Zeiten wurden die Vereinigten Staaten um ein Gebiet bereichert, das demjenigen von Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien und der Schweiz gleichkommt und den bisherigen Flächeninhalt der Union verdoppelte.


Die Unterzeichnung des Louisiana-Vertrags.

Bildhauerarbeit von Karl Bitter in New York.


Der Bannerträger. Skulptur von Karl Bitter auf der Weltausstellung zu Buffalo,

New York.

Von welch unermesslicher Bedeutung die Erwerbung Louisianas für die Kulturentwicklung der Vereinigten Staaten werden sollte, konnte damals allerdings niemand voraussehen, da man weder die fabelhafte Ausdehnung des Mississippisystems, noch die Beschaffenheit der westlich vom Hauptstrom liegenden Ländermassen kannte.

Vorderhand war für die Amerikaner kein Punkt so wichtig, als der durch den Ankauf Louisianas ermöglichte freie Verkehr auf dem Mississippi. Das war ein Gewinn, der alles andere überschattete. Denn nun war den westlich von den Alleghanygebirgen entstandenen Staaten die heiß ersehnte Möglichkeit geboten, mit ihren Erzeugnissen auf dem Weltmarkt zu erscheinen.

Ihr dadurch bewirkter Aufschwung wurde durch die gleichzeitige Erfindung der Dampfboote mächtig gefördert. Kaum hatte Fulton durch seine im Jahre 1807 mit dem Dampfer „CLERMONT“ zurückgelegte Fahrt auf dem Hudson die Verwendbarkeit der Dampfkraft für die Schifffahrt bewiesen, so begannen die Flüsse Amerikas sich mit diesen neuen Verkehrsmitteln zu bedecken. Das erste Dampfschiff der westlichen Ströme wurde bereits im Jahre 1811 von dem Deutschen Bernhardt Rosefeldt in Pittsburgh erbaut und auf den Namen „NEW ORLEANS“ getauft. Sein Führer war gleichfalls ein Deutscher, Kapitän Heinrich Schreeve, derselbe, welcher eine Dampfmaschine zum Zersägen und Entfernen der die Schifffahrt auf den westlichen Strömen so sehr gefährdenden „snags“ (losgewaschene, mit ihren Wurzeln und Ästen in den Flussbetten verankerte Baumstämme) erfand. Sein Name ist in demjenigen der Stadt Shreevesport in Louisiana erhalten.

Der Dampfer machte noch im Jahr seiner Erbauung die erste Reise den Ohio und Mississippi hinab. Es war eine ereignisreiche Fahrt, während der man unter anderem ein heftiges Erdbeben erlebte, das damals das untere Mississippital heimsuchte.

Mit dem Aufkommen der Dampfboote und der gleichzeitigen Anlage von Schiffskanälen öffneten sich den Einwanderern mehrere neue, bequemere Wege zum Westen. Der eine führte von New York den Hudson hinauf bis Albany. Dort bestiegen die Reisenden Kanalboote zur Fahrt nach Buffalo, von wo aus Dampfer den Weitertransport über die großen Seen nach den im Westen entstandenen Ansiedlungen vermittelten.

Den von England kommenden Einwanderern bot sich ein ähnlicher Weg, wenn sie den St. Lorenzstrom hinauf bis Toronto reisten und von dort die Schiffe benutzten, welche die großen Binnenseen befuhren.

Eine dritte Verbindung boten jene Dampferlinien, welche von europäischen und amerikanischen Häfen aus einen direkten Verkehr mit New Orleans aufnahmen, wo bequem eingerichtete Flussdampfer die Weiterreise den Mississippi und seine Nebenflüsse hinauf ermöglichten. Infolge dieser bequemeren und billigeren Verbindungen steigerte sich die Einwandrung in die Täler des Ohio und Mississippi von Jahr zu Jahr.

Die Erfindung der Eisenbahnen fügte den bisher bekannten Mitteln zur Überwindung räumlicher Entfernungen neue von größter Bedeutung hinzu.

Mit der gleichen Energie, welche die Amerikaner bisher beim Dienstbarmachen der Natur, im Ausbeuten ihrer reichen Gaben bekundeten, schritten sie nun dazu, ihr Land mit einem förmlichen Netz von Schienengleisen zu überziehen. Bei der Anlage solcher Eisenbahnen rechneten sie nicht wie die Europäer auf sofortigen Gewinn, sondern bauten die Bahnen oft in ganz unbewohnte Wildnisse hinein, um den Ansiedlern die Möglichkeit zu bieten, nachzurücken und ihre Erzeugnisse zu befördern.


Eine Eisenbahn im Mohawktal im Jahre 1835. Nach einem gleichzeitigen Stahlstich.

Mit dieser Ära der Dampfer und Eisenbahnen hebt recht eigentlich die große amerikanische Völkerwanderung an, eine Völkerwanderung, die sich von derjenigen des Altertums dadurch unterscheidet, dass sich nicht wie damals ganze, im Rücken bedrängte Völkerstämme auf schwächere warfen und sie mit Langschwertern und Streithämmern aus ihren Wohnsitzen vertrieben. Es waren vielmehr unzählige einzelne Personen, Familien und kleine Haufen, die sich von den in Europa und im Osten der Vereinigten Staaten bestehenden Gemeinwesen ablösten, um mit Axt und Spaten an der friedlichen Eroberung der noch unkultivierten Gebiete der Neuen Welt teilzunehmen.

Die große Masse der aus Deutschland kommenden Einwandrung jener Zeit bestand nach wie vor aus Landleuten und Handwerkern. Neben ihnen erschienen von jetzt ab auch Angehörige der gebildeten Klassen in größerer Zahl: Männer, die, durch die trostlosen politischen Zustände ihres Vaterlandes bitter enttäuscht, in der Fremde günstigere Verhältnisse zu finden hofften.

Bekanntlich hatte das deutsche Volk zu Anfang des 19. Jahrhunderts überaus schwere Kämpfe gegen Napoleon führen müssen, jenen genialen Abenteurer, der sich vom Konsul der französischen Republik zunächst zum Diktator, dann zum Kaiser aufwarf und unter Strömen Blutes ein Weltreich aufzurichten suchte. Während der durch ihn heraufbeschworenen furchtbaren Zeit erlitt Deutschland seinen tiefsten Fall, indem es unter die Zwangsherrschaft des Korsen geriet.

Aber dieser Fall war notwendig, um dem deutschen Volk den Weg zu seiner Wiedergeburt zu zeigen. In allen Schichten rang sich die Erkenntnis durch, dass ein Zusammenfassen sämtlicher Kräfte, ein geeintes Deutschland nötig sei, um die Fremdherrschaft abzuschütteln. Unter dem gewaltigen Druck eiserner Notwendigkeit entwickelte sich ein früher nie gekanntes nationales Gefühl, das die Herzen der deutschen Dichter und Denker wunderbar bewegte und ihnen Töne verlieh, wie sie erhabener nie zuvor erklungen waren.

„Oh lerne fühlen, welchen Stamms du bist!

Die angebor'nen Bande knüpfe fest.

Ans Vaterland, ans teure schließ dich an,

das halte fest mit deinem ganzen Herzen,

hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft!“

So mahnte Schiller in seinem „Wilhelm Tell“, diesem geharnischten Protest gegen jede Unterdrückung echter Manneswürde.

Zur selben Zeit sangen Kleist, Schenkendorf, Körner und Arndt ihre begeisternden Freiheitslieder; Fichte hielt seine berühmten „Reden an die deutsche Nation“; Ludwig Jahn, der Vater der deutschen Turnerei, Freiherr Karl von Stein, Hardenberg und viele andere sorgten für die Kräftigung und Nationalisierung der Jugend. Und als endlich die entscheidende Stunde schlug, da war dank der unermüdlichen Arbeit dieser patriotischen Männer das deutsche Volk geistig und körperlich so erstarkt, dass es vermochte, in dem großen Jahre 1813 das entehrende Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln.

Wohl hätte es für die dabei bewiesene Aufopferung und heldenmütige Tapferkeit den tiefsten Dank seiner Fürsten verdient. Aber diese vermochten nicht, sich zu gleich hohem Fluge zu erheben. Sie ließen nicht nur ihre vor dem Krieg gemachten feierlichen Versprechungen, dem Volk eine Vertretung bei der Regierung zu geben, unerfüllt, sondern versuchten alle freiheitlichen Regungen des Volkes zu ersticken, während sie selbst in das widerwärtige, dem Geist des 19. Jahrhunderts hohnsprechende Treiben ihrer Väter zurückverfielen.

Zum Unglück standen die deutschen Fürsten damals unter dem Bann des österreichischen Staatskanzlers Clemens Lothar von Metternich, eines jedem Fortschritt abgeneigten Finsterlings, dem, wie seinem vom starren Bewusstsein absoluter Herrscherrechte erfüllten Kaiser Franz I. alle Kundgebungen verhasst waren, die auf den nationalen Zusammenschluss des deutschen Volkes abzielten. Beide ahnten, dass eine solche Einigung das Ende der österreichischen Vorherrschaft in Deutschland zur Folge haben müsse.

Auf das Betreiben dieser beiden Männer wurden sämtliche Turnvereine und Studentenverbindungen aufgelöst, alle deutsch-national gesinnten Professoren der Universitäten entlassen, alle Zeitungen und Bücher einer scharfen Zensur unterworfen. Um Personen ausfindig zu machen, die durch ihre Ansichten und Lehren dem Absolutismus der Herrscher gefährlich werden könnten, setzte man eine „Zentral-Untersuchungskommission“ ein, die sich in ihrer Demagogenriecherei der unglaublichsten Überschreitungen schuldig machte, Hunderte von Studenten verhaften und von Festung zu Festung schleppen ließ, bloß weil sie vaterländische Lieder gesungen oder die verpönten schwarz-rot-goldenen Farben getragen hatten. Es ist bezeichnend für den Fanatismus jenes Ausschusses, dass derselbe sogar Männer wie Blücher, Gneisenau, York, von Stein, Fichte und Schleiermacher als revolutionärer Bestrebungen verdächtig erklären durfte.

In dieser hoffnungslosen Zeit, die jeden patriotisch fühlenden und fortschrittlich veranlagten Mann mit Ekel erfüllen musste, erschien in Deutschland ein Buch, das ungeheures Aufsehen erregte. Sein Verfasser war der Arzt Gottfried Duden, welcher im Jahre 1824 eine Reise nach Nordamerika unternommen hatte und durch Maryland, Virginien und die am Ohio entstandenen Staaten nach Missouri gekommen war. Sechzig Meilen westlich von St. Louis erwarb er ein Gut, das er, da er ausreichende Mittel besaß, klären und bestellen ließ. Die Mußestunden verbrachte Duden mit der Schilderung seiner Reisen, der amerikanischen Verhältnisse und der Jagdromantik der westlichen Wildnis, in der es von Hirschen, Büffeln, Hasen, Präriehühnern usw. wimmle. Er beschrieb den neapolitanisch blauen Himmel, die reizvolle Färbung der herbstlichen Wälder und tausend andere Dinge, die jeden Freund der Länderkunde aufs höchste interessieren mussten. In der Hauptsache getreu, zeichneten Dudens Darstellungen sich vor allen früher erschienenen Berichten über Amerika durch glänzende Frische und romantische Färbung aus. Insbesondere ließen sie die in Missouri herrschenden Zustände und Aussichten im Gegensatz zu den trostlosen Deutschlands geradezu verlockend erscheinen.

Dieser, zuerst im Jahre 1829 in Bonn veröffentlichte „Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas“ erfreute sich bei allen Gebildeten einer überraschend günstigen Aufnahme. Ihnen, die in dumpfer Resignation unter der Willkür der Fürsten und der rückschrittlich gesinnten Beamtenheere dahinlebten, eröffnete sich urplötzlich der Ausblick auf ein Land, dessen jungfräuliche Erde nicht bloß tausendfältigen Lohn für die auf ihn verwendete Mühe verhieß, sondern wo man sich schrankenloser Freiheit erfreuen und die eigenen Ideen über Regierung und Staatsform verwirklichen konnte.


Einwandrer auf ihrem Zug gen Westen. Nach einer Zeichnung von F. O. Darley.

Vielen Familien wurde Dudens Buch zur täglichen Lektüre. Um auch wenig Bemittelten die Anschaffung zu erleichtern, ließen Freunde und Begünstiger der Auswanderung zahlreiche billige Ausgaben herstellen und verbreiten. Infolgedessen kam ein förmliches Auswanderungsfieber zum Ausbruch. Tausende von Leuten, denen „der Duden den Kopf verrückt hatte“, schickten sich zur weiten Reise nach Missouri an.

Es waren nicht bloß Bauern, sondern Männer, die gebildeten, ja gelehrten Ständen angehörten, nun aber den Schulstaub von sich abwuschen, um im frischen Tau der Urwälder neues Leben zu trinken. Mit ihnen zogen Jünglinge, welche die Feder, nie aber die Holzaxt geführt, Frauen, welche daheim den Teetisch serviert, aber nie harte Handarbeiten kennen gelernt hatten.

Viele dieser Auswandrer blieben, müde der langen Reise, in den Oststaaten oder am Ohio. Manche, bitter enttäuscht, verdarben in Elend. Viele aber gelangten wirklich ans Ziel und ließen sich im Tal des Mississippi nieder. Hier schufen sie, umgeben von anderen Ansiedlern, die berühmten „lateinischen Settlements“, die ihren Namen daher erhielten, weil ihre Besitzer hochgebildete Leute waren, die Universitätsbildung genossen hatten, Latein verstanden und das Studium der alten Klassiker dem müßigen Disputieren in den Wirtshäusern vorzogen.


Ansiedler beim Errichten ihrer Heimstätte.

Zu diesen „lateinischen Farmern“, (Da unter den „lateinischen Farmern“ natürlich auch viele Personen waren, die von der Landwirtschaft nichts verstanden und nur aus Liebe zur Unabhängigkeit diesen mühseligen Beruf gewählt hatten, so erhielt die Bezeichnung später einen etwas spöttischen Beigeschmack. Man fand solche „lateinischen Settlements“ sowohl in Illinois, Missouri und Wisconsin.) von denen viele tüchtige Landwirte wurden, zählten der bayrische Appellationsrat Theodor Hilgard, der Forstmeister Friedrich Engelmann, die Rechtsgelehrten Wilhelm Weber und Gustav Körner, die Ärzte Gustav Bunsen, Adolf Reuß und Adolf Berchelmann, der Geschichtsprofessor Anton Schott, der Prediger Michael Ruppelius, der Schuldirektor Georg Bunsen und viele andere Gleichgesinnte. Die hier Genannten ließen sich sämtlich in dem südöstlich von St. Louis gelegenen Örtchen Belleville nieder, das sie zu einer überaus fruchtbaren deutsch-amerikanischen Bildungsstätte umwandelten, von wo viele berühmte Männer ausgingen.

Die Einwandrung ins Mississippital nahm von Jahr zu Jahr zu. Aus Europa, vom Osten und Süden zogen Menschen herbei. Welche Massen sich in Bewegung setzten, erhellt am klarsten aus der Tatsache, dass innerhalb der Monate Januar, Februar und März 1842 in St. Louis 529 Dampfboote anlegten, die insgesamt 30.384 Personen brachten.

Allerorten wuchsen die Ansiedlungen wie Pilze aus der Erde. St. Louis entwickelte sich zu einem Haupthandelsplatz und Zentralpunkt für die Dampfschifffahrt des gewaltigen Mississippisystems. Bereits in der Mitte der vierziger Jahre zählte die Stadt 40.000 Bewohner. Dass daselbst zwei tägliche deutsche Zeitungen bestehen konnten, zeugt für die Stärke der damaligen deutschen Bevölkerung.

Im unteren Stromgebiet ließen sich die Deutschen hauptsächlich in Memphis, Vicksburg, Natchez und New Orleans nieder. In der letztgenannten Stadt lebten im Jahre 1841 bereits 10.000 Deutsche.

Am oberen Stromlauf wurden die Städte Altona, Quincy, Keokuk, Burlington, Davenport, Dubuque, Winona, St. Paul und Minneapolis, an den großen Binnenseen Chicago, Milwaukee und Detroit Sitze regen deutschen Lebens. Und zugleich Ausgangspunkte neuer Niederlassungen, die an den Nebenflüssen des Mississippi und den zahllosen Seen entstanden, die gleich tausend blauen Augen aus den Wäldern und Grassteppen von Wisconsin, Minnesota, Dakota, Nebraska und Iowa emporglänzen. Manche jener Niederlassungen kennzeichnen sich durch ihre Namen – Solche Orte sind im Staate Missouri: Westphalia, Germantown, Hermann, Neu-Hamburg, Dammüller, Diehlstadt, Altenburg, Biehla, Frohne, Wittenberg, Carola u. a. In Iowa finden wir Neu-Wien (New Vienna), Guttenberg, Minden usw. In Illinois Arenzville; in Wisconsin Germantown, New Köln, New Holstein, Town Schleswig u. a. – und die Mundart ihrer Bewohner noch heute als schwäbische, fränkische, thüringische, niederdeutsche oder schweizerische Gründungen.

Fast allen war eine ruhige, stete Entwicklung beschieden; denn mit dem einzigen Bevölkerungselement, welches Störungen hätte verursachen können, den Indianern, wussten die Deutschen im allgemeinen stets in Frieden auszukommen.

In der Tat ereignete sich nur ein größerer Indianerüberfall auf eine deutsche Ansiedlung: derjenige der Sioux auf Neu-Ulm in Minnesota. Dieser Ort ist eine Gründung unternehmungslustiger Turner aus Chicago, die im Jahre 1856 das schöne Tal des Minnesotaflusses als neue Heimat auserkoren.

Das hier erbaute Städtchen zählte im Sommer 1862 bereits 1.500 Bewohner, die friedfertig ihren Beschäftigungen nachgingen, ohne zu ahnen, dass sie von schwerem Unheil bedroht seien.

Die mächtigen Sioux oder Dakotas beschritten nämlich, erbittert über die von betrügerischen Regierungsagenten an ihnen verübten Gaunereien, den Kriegspfad und fielen plötzlich über die im Tal des Minnesota liegenden Ansiedlungen her. Sie schlachteten zunächst eine Anzahl vereinzelt wohnender Ansiedler ab und wandten sich dann in dichten Scharen gegen das Städtchen Neu-Ulm.


Sioux-Indianer

Am 19. August unternahmen sie einen wütenden Angriff auf den Ort, dessen verstreut liegende Häuser für Verteidigungszwecke wenig geeignet waren. Zahlreiche Wohnungen gingen in Flammen auf. Ihre Bewohner zogen sich, beständig fechtend, in die Mitte des Ortes zurück, wo sie sich hinter eiligst errichteten Barrikaden aus Fässern, Betten, Kisten und Ackergeräten verschanzten. Der Kampf dauerte ohne Unterbrechung bis in die Nacht hinein. Mancher brave Deutsche fiel dabei in der Verteidigung seiner Familie. Als der nächste Morgen anbrach, waren die Rothäute verschwunden. Aber bereits am 23. August erschienen sie bedeutend verstärkt aufs Neue, entschlossen, Neu-Ulm und seine Verteidiger gänzlich zu vertilgen.

Gegen 9 Uhr morgens sah man in der Ferne den Rauch brennender Hütten emporwirbeln. Bald darauf tauchten ganze Scharen berittener Indianer hinter den Hügeln auf. 250 Deutsche unter der Führung des Richters Flandreau stellten sich ihnen außerhalb des Ortes entgegen.

Mit fliegender Eile brausten die Sioux auf ihren flinken Ponies heran, in ihrem farbigen Aufputz, der bunten Kriegsmalerei, den flatternden Federn und hochgeschwungenen Waffen im hellen Sonnenschein ein überaus phantastisches Bild darbietend. Ehe sie in Schussweite gelangten, entfalteten die indianischen Massen sich gleich einem gewaltigen Fächer und stürmten unter wahrhaft teuflischem Geheul auf die Weißen herein.

Es zeigte sich bald, dass die von dem Richter Flandreau angeordnete Aufstellung der Weißen durchaus verkehrt war, denn die Indianer breiteten sich immer weiter aus, um die Deutschen zu umzingeln und auch im Rücken anzugreifen. In scharfem Gefecht zogen die letzteren sich deshalb auf den Ort zurück, um diesen zu verteidigen. Dass man es mit verschlagenen Gegnern zu tun hatte, ergab der weitere Verlauf des Kampfes. Da der Wind vom unteren Ende des Ortes kam, so setzten die Sioux die dort stehenden Häuser in Brand und rückten unter dem Schutz des aufsteigenden Qualmes Schritt für Schritt vor. Die sonst so friedliche Hochebene verwandelte sich in ein einziges Flammenmeer, dessen Ausbreitung die Belagerten auf ein immer kleiner werdendes Terrain beschränkte. Zuletzt hatten sie nur noch einen mit Barrikaden umgebenen offenen Platz inne. Von diesem aus verteidigten sie sich während des Restes des Tages und am folgenden Morgen mit solcher Hartnäckigkeit, dass die Feinde an einem Erfolg verzweifelten und endlich abzogen.


Überfall einer Auswandrerkarawane

178 Gebäude waren verbrannt, viele Familien ganz oder teilweise untergegangen. Da eine nochmalige Rückkehr der Feinde zu befürchten stand, so verließen die Überlebenden am 26. August den verwüsteten Platz, um sich in eine der nächsten Ortschaften zurückzuziehen. Der traurige Zug, auf dem man die Frauen und Kinder sowie die 56 Verwundeten beförderte, zählte 150 Wagen.

Insgesamt kamen während der von den Sioux angerichteten Metzelei 644 Ansiedler und 93 Soldaten ums Leben. Zudem war in weitem Umkreis das ganze Land verwüstet.


Abgeschlachtet! Eine Szene aus den Indianerkriegen des fernen Westens.

Erst nachdem die herbeigezogenen Truppen die Rothäute vertrieben hatten, kehrten die Bewohner von Neu-Ulm zurück, um mit dem Wiederaufbau ihres Städtchens zu beginnen. Neue Ansiedler traten an die Stelle der Gefallenen; da die Regierung auch den erlittenen Schaden vergütete, so erholte sich die Kolonie rasch wieder und erlangte nach einigen Jahren ihr früheres blühendes Aussehen.

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An der ferneren Entwicklung der im Stromgebiet des Mississippi und an den großen Seen gelegenen ungeheuren Ländermassen gebührt den Deutschen ein Hauptanteil. Die Chroniken fast aller hier entstandenen Staaten und Städte enthalten Tausende und Abertausende von Namen wackrer deutscher Männer, die sich durch fleißige Arbeit und ernstes Streben, durch die Gründung von Schulen und Kirchen, Turn-, Musik- und Gesangvereinen, wissenschaftlichen und wohltätigen Gesellschaften um den Aufbau und die Entwicklung des kulturellen Lebens in jenen Staaten und Gemeinwesen hochverdient machten.


Astoria im Jahre 1812

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Rudolf Cronau: Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika Teil 3

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