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Familie Mayer

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Ich heiße Rachel Mayer und wuchs in einer jüdischen Familie auf. Da ich das Nesthäkchen der Familie war, hatten meine Eltern, Miriam und Benjamin Mayer, immer ein besonders wachsames Auge auf mich. Neben meinen Eltern gab es noch zwei ältere Brüder namens Carl und Michael. Diese haben mir, da sie richtige Lausbuben waren, so ziemlich jeden Streich beigebracht. Da ich aber der erklärte Liebling meines Vaters war, ließ dieser fast immer alles durchgehen.

Meine Mutter nannte mich in solchen Momenten oft „mein kleiner Wildfang“. Und Emmi, die im Haus als Köchin und Kindermädchen tätig war, erwiderte daraufhin meist lachend: „Was hat es denn jetzt schon wieder angestellt, unser kleines Mädele!“

Ja, die Emmi, unsere liebe Emmi, die immer einen bunten Kittelschurz trug, der ihren rundlichen Körper umspannte. Sie schenkte uns die Aufmerksamkeit und Geborgenheit, welche uns unsere Eltern oft nicht geben konnten, weil sie ständig am Arbeiten waren. Wir waren ihr ans Herz gewachsen, obwohl oder weil sie mit meinen beiden Brüdern und mir alle Hände voll zu tun hatte.

Meine Eltern arbeiteten tagein tagaus in ihrem Kaufhaus, dessen Grundstein bereits mein Großvater gelegt hatte. Ursprünglich handelte es sich um ein Kolonialwarengeschäft, in dem man Waren des täglichen Bedarfs kaufen konnte. Mein Vater, der das Geschäft nach dem Tod meines Großvaters übernommen hatte, baute dieses aus und es entstand ein großes Kaufhaus.

Die Arbeitsteilung in diesem Familienbetrieb sah folgendermaßen aus: Mein Vater leitete das Geschäft und meine Mutter war für die Finanzen zuständig. Da beide sehr eifrig waren, hatten sie es mit der Zeit zu Wohlstand gebracht.

Wenn wir unsere Eltern zu besonderen Anlässen, wie etwa der Zeugnisvergabe, im Kaufhaus besuchen durften, erlaubten sie uns in die Süßwarenabteilung zu gehen, wo sich jeder eine Süßigkeit nehmen durfte. Das war aber nur der Fall, wenn die Zeugnisse einigermaßen annehmbar waren. Bei den beiden Jungs war das nicht immer der Fall.

Ich selbst ging im Gegensatz zu meinen beiden Brüdern gerne zur Schule und war stolz darauf, es bis aufs Gymnasium geschafft zu haben. Und obwohl ich sehr fleißig und strebsam war, wurde ich von meinen Klassenkameraden akzeptiert. Selbst die Tatsache, dass ich Jüdin bin, war damals noch kein allzu großes Thema. Es gab nur ein oder zwei Schüler, die mich aufgrund meiner jüdischen Abstammung aufzogen. Das war aber wirklich die Ausnahme.

Meine beiden besten Freundinnen, mit denen ich mich regelmäßig traf, hießen Anni und Lena. Unsere Lieblingsbeschäftigung war es, in der Stadt bummeln zu gehen und uns von unserem ersparten Taschengeld süße Teilchen zu kaufen. Oft sprachen wir über Jungs und merkten recht bald, dass der gutaussehende Martin unser aller Schwarm war. Schade war nur, dass dieser bereits auf Ingrid stand. Ausgerechnet die Ingrid, die so gerne mit ihrem blonden lockigen Haar spielte und sich auch sonst viel auf ihr Äußeres einbildete.

Ich selbst war das glatte Gegenteil von ihr und hatte eine eher knabenhafte Figur. Während sich bei den anderen Mädchen schon so langsam Rundungen bildeten, war ich flach wie ein Brett. Ich war ganz schön neidisch.

Bei uns zu Hause spielte der jüdische Glaube kaum eine Rolle. Meine Eltern hatten zwar jüdische Wurzeln, praktizierten den jüdischen Glauben jedoch nicht. Ihnen war Religion nicht besonders wichtig. Dementsprechend wurden auch meine Brüder und ich erzogen. Als meine Großeltern noch am Leben waren, feierte man Freitagabend traditionell den Sabbat. Nach dem Tod meiner Großeltern wurde aber auch diese Tradition aufgegeben.

Die Mitglieder meiner Familie sahen sich in erster Linie als Deutsche. Für meinen verstorbenen Großvater, der für die Teilnahme am 1. Weltkrieg ein Ehrenkreuz erhalten hatte, waren die „Deutschen Tugenden“ ein wichtiger Maßstab in seinem Leben. Mit Fleiß, Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit hatte er es im Leben zu etwas gebracht.

Daher konnte es auch niemand verstehen, dass so ein Hanswurst wie Hitler, so wurde er in unserer Familie genannt, an die Macht kommen konnte. Die Veränderungen im Land, die sich aus der Machtübernahme ergaben, wurden innerhalb der Familie nicht ernst genommen.

Beschmierten irgendwelche Leute jüdische Läden mit Hetz-Parolen, sah man das als Tat Asozialer an, die einfach nur neidisch auf das waren, was andere Leute mit ihrer Hände Arbeit geschaffen hatten: Taugenichtse und politisch Verblendete. Solche Leute hatte es schon immer gegeben.

Sogar als Vandalismus und Ressentiments gegen Juden größer wurden, wurde man nicht hellhörig. Vater sah diesen Zustand als vorübergehend an. Irgendwann würde dieser Hitler wieder in der Versenkung verschwinden. Doch dies war eine fatale Fehleinschätzung, wie sich später noch herausstellen sollte.

Eigentlich heiße ich Rachel

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