Читать книгу Kindsjahre - Sebastian Liebowitz - Страница 5

Ab in die Kirche

Оглавление

Ich mag mich noch gut an meinen ersten Kirchgang erinnern.

Frömmelnde Leser werden nun sicher frohlockend „Hosanna“ rufen und den Grund dafür in einem religiösen Schlüsselerlebnis vermuten.

Nun, ganz so war es leider nicht.

Dafür blieben einfach zu viele Fragen offen. Da war zum Beispiel die Sache mit dem Blut Christi, welches zu Wein werde. An diesem Trick hatte sich Papa auch schon versucht, war aber immer an der 3 Promille Grenze gescheitert. Im Blut von Christi musste wohl irgendeine Ingredienz enthalten sein, die der Umwandlung zu Wein förderlich war. Zudem konnte der Gute ja meist auf göttlichen Beistand zählen, während Papa höchstens häuslicher Widerstand gewiss war. So hatte auch er sein Kreuz zu tragen, in gewisser Weise.

Es waren aber eher grundsätzlichere Fragen, die mich vor meinem ersten Gottesdienst beschäftigen sollten. So zum Beispiel, was eine „Kirche“ überhaupt war und vor allem, warum man da unbedingt hin musste, wo es zu Hause doch grad so gemütlich war.

Natürlich hatte ich schon im Vorfeld versucht, mir ein gewisses Grundwissen anzueignen. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet, denn „Mutters“ ausweichende Antworten waren nicht dazu angetan, Licht ins Dunkel zu bringen.

„Eine Kirche ist, äh, nun, äh, eine Kirche halt“, hatte sie gestammelt und mir dabei zum hundertsten Mal nervös den Kragen zurechtgezupft.

„Aha, und was macht man da?“

„Man, äh, feiert die heilige Messe.“

„Man feiert? So mit Luftballons und Tischbomben und so?“

„Äh, nicht so ganz. Man betet eher.“

„Beten? Das ist aber eine komische Feier. Wie betet man denn da?“

Mutter blickte mir streng ins Gesicht.

„Du willst mir doch nicht sagen, dass du nicht weisst, wie man betet?“

„Doch.“

„Also man betet, um, nun ja, äh, weil man..äh“, stammelte sie, während ihre Hände nervös über ihre Schürze strichen, „also sozusagen, in gewisser Weise, äh..“ Sie gab sich einen Ruck. „Halt so wie wir es immer machen, wenn wir bei Tisch sind. Das nennt man dann ein Tischgebet.“

Damit konnte ich etwas anfangen.

„Ach so, und ich hab mich immer gewundert. Wofür ist das denn, dieses Tischgebet?“

„Das weisst du doch selbst, schliesslich betest du es jeden Mittag und Abend.“

„Äh, wenn ich ehrlich bin, mach ich bloss immer ‚müml-müml-müml‘. Ihr haltet euch ja immer die Hände vor den Mund und nuschelt so, das versteht ja keiner.“

„Aha, soso“, nickte „Mutter“. „Darüber reden wir dann besser mal mit ‚Vater‘, damit er dir mal zeigt, wie man richtig betet.“

„Und wofür man betet.“

„Na, das solltest du mittlerweile ja wirklich wissen. Man betet, um sich für die Gaben zu bedanken, die der Herr uns beschert hat.“

„Welcher Herr denn?“

„Also, der Herr ist der, der uns unser Essen beschert, äh, gegeben hat, so quasi.“

Ich überlegte kurz.

„Aha, das ist sicher der Herr im blauen Kittel, der im Laden immer die Regale auffüllt. Aber bei dem könnte man sich doch auch persönlich bedanken, der würde sich doch sicher freuen.“

„Mutter“ schüttelte empört ihren Kopf.

„‘Der Herr im blauen Kittel‘, also, wie kommst du denn da drauf? Gott kann man doch gar nicht sehen, weil er nämlich unsichtbar ist.“

„Unsichtbar?“ Ich warf einen nervösen Blick über meine Schulter. „Das heisst, er könnte jetzt direkt hinter mir stehen.“

„Genau, Gott ist nämlich überall.“

„Wie kann dieser Gott denn überall sein und gleichzeitig hinter mir stehen? Also, ich versteh das nicht.“

„Das ist ganz einfach, Gott ist überall, er hört alles und sieht alles. Denk daran, wenn du wieder einmal sündigst.“

Ich schluckte trocken. Die Vorstellung, dass mir sogar jemand beim Pieseln zuschaute, liess mich erschaudern. Ich war da sehr eigen, wenn mir jemand zusah, bekam ich keinen Tropfen raus. Mir schwante Übles. Gar am Ende bekam ich noch eine Blasenentzündung, weil ich nicht mehr pieseln konnte. Das wollte ich jetzt genauer wissen.

„Und dieser Gott steht also bei uns in der Küche und hört zu, wenn wir das Tischgebet sprechen?“

„Naja, er steht nicht direkt bei uns in der Küche, aber er hört trotzdem alles.“ Sie nickte bestimmt. „Und darum hört er auch, wenn wir uns für die Speisen bedanken, denn ohne ihn hätten wir ja nichts.“

„Das ist aber komisch“ sagte ich. „Roland, der gegenüber wohnt, sagt, dass sie nie so ein Tischgebet sprechen und trotzdem täten sie leben wie die Maden im Speck.“

„Roland ist ein Idiot.“

Und auch „Vater“ hatte sich zu diesem Thema bedeckt gehalten.

„Du wirst schon sehen“, hatte er verlauten lassen und sich energisch seinen Hut auf den Kopf gestülpt.

„Äh, was denn sehen?“

„Jetzt frag nicht so blöd.“

Und so liess ich mich willig an der Hand nehmen und von „Vater“ in die Kirche führen, wo ich neben ihm auf einer Holzbank Platz nahm und meinen Blick schweifen liess. Und obwohl ich dabei in der Tat „sah“, wie „Vater“ vorausgesagt hatte, wurde mir allein dadurch überhaupt nichts klar. Ganz im Gegenteil.

Das fing schon bei der spartanisch eingerichteten Halle mit den kargen Holzbänken an. Sogar an den Sitzkissen hatte man gespart. Dafür hatte man dicke Bücher auf jeden Sitz gelegt, die aber, wie ich bald feststellen musste, als Sitzunterlage so gut wie nichts taugten. Scheinbar hatte „Vater“ in der zweiten Klasse Platz genommen, denn weiter vorne war die Einrichtung bedeutend luxuriöser. Da gab es eine reich verzierte Eckbank, auf der dicke Kissen lagen, daneben war eine Küchenzeile zu sehen, die aus purem Gold zu sein schien und der Esstisch war mit einem wunderschönen Tischtuch bedeckt, welches man allerdings falsch herum auf den Tisch gelegt hatte. Während links und rechts noch der blanke Stein hervorlugte, hing das Tischtuch vorne und hinten nämlich fast bis auf den Boden. Zudem hatte man die Stühle vergessen, was erklärte, wieso noch niemand Platz genommen hatte. Aber auch sonst schien mir die Einrichtung etwas unüberlegt. So hing über dem Esstisch eine Funzel, die zwar hübsch anzusehen war, aber so gut wie kein Licht spendete. Dazu kam, dass das Ding viel zu hoch hing, was wohl auch der Grund dafür war, dass noch niemand die Birne gewechselt hatte. Dafür hatte man ein paar Kerzenständer aufgestellt, die den Raum aber mehr schlecht als recht beleuchteten. Die tanzenden Flammen warfen ein flackerndes Licht an die Wand hinter dem Esstisch, so, dass ich die Figur, die dort hing, fast übersehen hätte. Dann aber mochte ich meinen Augen nicht trauen. Anstelle eines Bildes eines röhrenden Hirschen, wie es bei uns in der Stube hing, hatte man hier eine furchteinflössende Skulptur an die Wand gehängt. An einem hölzernen Kreuz hing nämlich ein junger Mann, dem man in barbarischer Weise Nägel durch Hände und Füsse getrieben hatte. Der grausige Anblick liess mir eine Gänsehaut über den Rücken rieseln und ich wandte schaudernd meinen Blick ab. Dabei fielen mir zum ersten Mal die Malereien an der Decke auf, wo es gar seltsame Figuren zu entdecken gab. So waren ringsum ein paar milchbärtige Jünglinge abgebildet, die ausser einem Umhang zwar fast nichts trugen, dafür aber eine Art Motoradhelm auf dem Kopf hatten. Und in der Mitte waren pausbäckige Kinder mit dicken Windeln zu sehen, die Flügel wie Vögel hatten und mit diesen dümmlich grinsend um ein paar barbäuchige Rentner herumschwirrten. Durchwegs üble, bärtige Burschen, die sich auf dicken Kissen räkelten und grimmig auf die Kirchenbesucher unter ihnen starrten. Ihre durchdringenden Blicke schienen sich in mein Innerstes zu bohren und ich rutschte unwillkürlich näher zu „Vater“. Die himmlische Umgebung jagte mir auf einmal eine Höllenangst ein. Was es mit all den komischen Figuren wohl auf sich haben mochte? Es war höchste Zeit, „Vater“ um Rat zu bitten. Dabei hatte ich aber die Rechnung ohne die Herren gemacht, die rings um uns Platz genommen hatten. Diese hatten es sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, sämtliche Unterhaltungsversuche durch Störgeräusche zu torpedieren.

„Vater, warum hat der ...“, begann ich.

„Pssst!“, tönte es hinter mir.

Ich zuckte zusammen und schielte nach hinten. Dort schüttelte ein schnurrbärtiger Herr mürrisch den Kopf. Sicher hatte ich zu laut gesprochen.

„Vater, wieso hat..“, versuchte ich es noch einmal, diesmal leiser.

„Psssst“, tönte es von vorne. Der Herr vor mir drehte sich um und warf mir einen bösen Blick zu. Aha, wohl immer noch zu laut. Meine Stimme war nun kaum mehr zu hören.

„Vater, weshalb....“

„Pssssssst“, machte der Herr links von mir und schüttelte empört seinen dicken Kopf.

Trotzdem wollte ich noch einen letzten Versuch riskieren. Ich lehnte mich zu Vater und flüsterte ihm ins Ohr. „Vater…“, hauchte ich.

„Psssssssst!“, machte dieser und legte sich vielsagend den Zeigefinger an die Lippen. Ringsherum drehte man sich zu mir um und warf mir vorwurfsvolle Blicke zu. Ich wich beschämt den Blicken aus. Sicher hatten jetzt alle bemerkt, dass ich noch nie in einer Kirche gewesen war. Was für eine Blamage. Was musste jetzt wohl „Vater“ von mir denken, der mir sein Vertrauen geschenkt und mich mitgenommen hatte? Sicher bereute er seine Entscheidung bereits. Aber wie hätte ich auch wissen sollen, dass man sich in so einer Kirche nur mit „Psst“ Lauten unterhalten darf, wenn überhaupt? Jetzt galt es, „Vater“ zu zeigen, dass auch aus mir noch ein rechter Kirchgänger werden konnte. Meine Chance kam, als sich der Herr neben mir räusperte. Sofort glotzte ich ihn vorwurfsvoll an, schüttelte dazu heftig meinen Kopf und machte „Pssssssssssssssst“.

Irgendwie muss ich dabei aber wohl etwas falsch gemacht haben, denn dem Herrn schoss auf einmal das Blut in den Kopf, dass er wie eine behaarte Tomate aussah. Dazu grunzte er etwas, was sich wie „frecher Bengel“ anhörte. Wenn ich auch nicht ganz sicher sein konnte, weil er ja recht schwer zu verstehen war, so, wie ihm der Schaum vor dem Mund stand. Dennoch, diese Kirchensprache war wohl doch komplexer, als ich angenommen hatte. So kamen, dem Verhalten des Herrn neben mir zu urteilen, wohl auch nonverbale Kommunikationstechniken wie Zähnefletschen und Fäusteballen zum Einsatz. Da war es wohl besser, wenn ich mich mit weiteren Kommentaren vorerst zurückhielt. Mit Schläfenadern so dick wie Fahrradschläuche war schliesslich nicht zu spassen. Wenn die Dinger platzten, gab es sicher eine Riesensauerei. Nicht zum ersten Mal sehnte ich mich in die heimische Stube zurück. Diese „Kirche“ entpuppte sich je länger, je mehr als unwirtlicher Ort. Die harten Holzbänke, die seltsamen Zeichnungen an der Decke, das unfreundliche Volk. Ganz zu schweigen vom grausigen Wandschmuck. Und trotzdem war die Hütte brechend voll mit Leuten, die, wie es „Mutter“ ausgedrückt hatte, die „heilige Messe feiern“ wollten. Sicher hatte sie da etwas falsch verstanden. Die übellaunige Bande feierte doch höchstens den Weltuntergang.

Wenn ich da an das Fussballturnier vor ein paar Wochen zurückdachte. Da hatte die Stimmung im Festzelt geradezu gebrodelt, gar kein Vergleich zu hier. Da wurde gesungen und gelacht, dass kein Auge trocken blieb, und das, obwohl die Bänke auch nicht bequemer gewesen waren, als hier. Dafür wurde wacker Bier getrunken.

Das Wichtigste überhaupt bei einer jeden Veranstaltung, wie mir ein netter, wenn auch etwas rundlicher Herr verraten hatte, der mir gegenüber sass.

„Hast du wacker Bier im Ranzen, lässt es sich auf jeder Beerdigung tanzen“, hatte er lauthals verkündet und seinen Bierkrug geschwenkt. Ein Spruch, der sogar „Vater“ zu hemmungslosem Kichern animierte. Natürlich wollte ich auf der Stelle auch einmal einen Schluck von diesem tollen Getränk probieren. Das aber wollte „Vater“ partout nicht zulassen, wiewohl dem Wundertrank vom netten Herrn gegenüber geradezu Zauberkräfte zugeschrieben wurden. Es gäbe nichts, was durch Bier nicht noch besser gemacht werde, tönte er, was rundherum mit kräftigem Nicken quittiert wurde, bei „Vater“ aber für Stirnrunzeln sorgte. Und als der nette Herr mit dem hochroten Kopf auf meine Nachfrage hin ansetzen wollte, mir die Bedeutung von „Schönsaufen“ erklären zu wollen, griff er ein und lenkte das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema.

Er würde sich nicht wundern, wenn die „Kürblisberger Tigers“ dieses Jahr wieder den ersten Platz holen würden, bemerkte er, und zack, gab es unter dem Tisch für den netten Herrn einen Tritt gegen das Schienbein, den dieser mit lautem Schmerzgeheul quittierte.

Plötzlich hörte man eine Tür knallen. Unruhe machte sich breit. Zwischen den Köpfen der Männer vor mir erspähte ich eine Gestalt, die mit schnellen Schritten auf den Stammtisch zuging. Es schien sich wohl um den Chef der Truppe zu handeln, der gerade erst aus dem Bett gekrochen war. Statt eines Anzugs, wie die meisten seiner Zuhörer, trug er nämlich bloss einen schlechtsitzenden Morgenmantel, der zudem wie ein Sack an ihm herunterhing. Sogar das Badetuch, welches er für die Rasur verwendet hatte, hing ihm noch über den Schultern. Er postierte sich breitbeinig vor dem Stammtisch und funkelte dann finster in die Runde. Der Anblick des immer noch ungedeckten Esstischs hatte ihm wohl die Laune verdorben. Statt schon mal mit dem Ausschank zu beginnen, stand das Bedienungspersonal in den weissen Kutten nämlich bloss untätig herum und bot Maulaffen feil. Wohl in Erwartung dessen, dass der Chef dem Treiben endlich ein Ende bereiten würde, rappelten sich nun ringsum die Leute auf die Beine und reckten den Hals. Dabei versperrten sie mir leider die Sicht, so dass ich dem weiteren Geschehen nur mit dem Gehör folgen konnte.

Eine sonore Stimme erfüllte den Raum.

„Ich begrüsse Sie zum heutigen Gottesdienst“, sagte sie, und weiter, „wir feiern heute das Fest der Kreuzerhöhung..“

Aha, allen Unkenrufen zum Trotz schien es sich also doch um ein Fest zu handeln. Das Kreuz, welches vorne zu sehen war, hing wohl noch nicht hoch genug. Normalerweise feierte man zwar erst, nachdem man die Arbeit erledigt hatte, aber diese Handwerker waren ja seit jeher ein geselliges Völkchen. Die feierten ja auch schon Aufrichtfest, wenn ausser ein paar Holzbalken kaum was stand.

Ich lauschte angestrengt.

„…und singen ‚Lobet den Herrn‘“ tönte es gerade.

Kaum waren die Worte verhallt, liess ein schauriges Gewummer die Wände erzittern. Das Geräusch schien von der Decke zu kommen. Jeder Ton klebte sekundenlang in der Luft, bevor er zäh wie Pech auf die Köpfe der Kirchgänger heruntertropfte. Die fingen alle auf einmal grauslich zu singen an. Jeder sang in der Tonlage, wie es ihm gerade passte und das schräge Gejohle dümpelte träge von einer Strophe zur andern. Als hätte man einer Kuh ins Euter gezwickt. Kein Wunder, dass keiner mitschunkelte. Man konnte nur hoffen, dass der ‚Herr‘, der dermassen „gelobt“ wurde, kein Musikliebhaber war. Nach drei schier unendlich langen Strophen kehrte endlich wohltuende Stille ein.

Wieder war die Stimme zu hören.

„Lasset uns beten“, sprach sie.

So, da war es nun endlich, dieses Beten. Nun hiess es gut aufgepasst. Ich spitzte meine Ohren, um nur ja nichts zu verpassen. Dabei war ich wahrlich nicht der einzige, der keine Ahnung hatte, wie dieses „Beten“ vonstatten ging. Der seltsame Herr musste nämlich fast jeden Satz wiederholen und seinen Namen musste er uns sogar ganze drei Mal vorkauen, weil er so kompliziert war. So erfuhr ich, dass der Herr im Bademantel Kyrie Eleison hiess, und dem Vernehmen nach wohl ein schwedischer Immigrant war. Die harten Silben wollten dem recht einfach gestrickten Dorfvolk dann aber doch nie ganz richtig von der Zunge rollen und so gab Herr Eleison schliesslich händeringend auf. Frustriert wünschte er sich, irgendein Herr möge sich seiner erbarmen und richtete seinen Blick hilfesuchend zum Himmel. Dann fasste er sich erst an die Stirn, wohl weil er vom Gesang noch Kopfweh hatte, und dann an sein Herz, wahrscheinlich, weil ihm vor lauter Ärger über uns schon die Pumpe ging. So, wie er stumm seine Lippen bewegte, mochte er dabei wohl auch leise vor sich hin geflucht haben. Schliesslich riss er sich aber doch zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er hob seine rechte Hand und winkte dann ein paar Herrschaften auf den vorderen Reihen zu, die ich aber nicht sehen konnte. Das Publikum jedenfalls nahm diese lockere Stimmung sogleich zum Anlass, sich wieder auf die Bänke plumpsen zu lassen. Herr Eleison wartete geduldig, bis das Knarren, Husten und Schnäuzen verstummt war und setzte dann an, uns eine langatmige Räuberpistole von ein paar „Jüngeren“ zu erzählen. Eine Fehlentscheidung, wie sich bald zeigen sollte. Sein Publikum, vorwiegend ja ältere Semester, zeigte nämlich wenig Interesse an den Machenschaften dieser „Jüngeren“ und gähnte bald unverhohlen um die Wette. Das lag nicht zuletzt daran, dass dem redseligen Alten auch noch jegliches Talent als Geschichtenerzähler abging. Er holperte tonlos von einem Satz zum nächsten und von einer knackigen Pointe hatte er wohl auch noch nie etwas gehört. Zudem blieben die Hauptpersonen blass, was nicht zuletzt daran lag, dass in seiner Geschichte alle „heilig“ waren. Ein Umstand, der der Unterscheidung der Haupt- von den Nebenpersonen nicht gerade zuträglich war. Dieser Paulus war heilig, der Petrus auch, die Mutter von diesem Gott sowieso und der Sohn gleich dazu, bis hinunter zur Jungfrau waren sie alle heilig, sogar der Geist. Wie wollte man da die Übersicht behalten? Mir drehte sich der Kopf.

Wie anders doch die Geschichten, mit denen der nette Herr vom Festzelt unseren Tisch zum Brodeln gebracht hatte. Seine Geschichten, wie die von der hinkenden Liesel, dem stotternden Hansi und einem Herrn mit dem komischen Namen „Tripper“, hatten Pepp und Schmiss. Gut, ich mag zwar nicht immer alles verstanden haben, aber lustig war es trotzdem.

Von lustig konnte hier keine Rede sein. Das Publikum jedenfalls goutierte seine Geschichte mit stoischem Gleichmut und als er endlich fertig war, gab es noch nicht einmal Applaus. Das passte Herrn Eleison natürlich überhaupt nicht. Sofort mussten wir zur Strafe alle niederknien und beschämt auf den Boden schauen. Der Herr neben mir war schon so frustriert, dass er wütend vor sich hinfluchte. „Gebenedeit“ schimpfte er einmal, und dann noch ein paar Wörter, dich ich aber nicht ganz verstand. So tickte eine Minute nach der anderen dahin und als wir endlich wieder aufstehen durften, gab es nicht wenige, die sich mit schmerzverzehrtem Gesicht ihre arthrosegebeutelten Knie rieben. Spätestens an dieser Stelle hätte Herr Eleison das Ruder noch mit einem kurzweiligen Schwank herumreissen müssen, um das Publikum bei Laune zu halten. Stattdessen fing er erneut an, in einer Fremdsprache vor sich hinzufaseln, obwohl ich weit und breit keinen Gastarbeiter entdecken konnte. So salbaderte er minutenlang an seinem Zielpublikum vorbei und es kam, wie es kommen musste. Bis der Alte endlich den Alk aus dem Kasten holte, war die Stimmung längst im Eimer. Dabei war der Tiefpunkt der unsäglichen Veranstaltung aber noch längst nicht erreicht. Statt uns nämlich etwas von dem feinen Roten abzugeben, kippte sich der geizige Lump das edle Tröpfchen in einem Zug allein hinter die Binde. Noch nicht einmal ein „Prost“ kam ihm über die Lippen, die er sich nach dieser Einlage genüsslich leckte. Für die armen Teufel, die sich mit knurrendem Magen in einer Reihe aufgestellt hatten, gab es nur gerade ein einziges Plätzchen. Hauchdünn, und noch nicht einmal mit Käse oder Schinken belegt. Und selbst das bekam nur, wer mit heraushängender Zunge um Nahrung flehte. So gab es nicht wenige, die, kaum dass sie an ihren Platz zurückgekehrt waren, vom Hunger geschwächt in die Knie gingen.

Ich war heilfroh, als sich nach einer Weile mein erster Kirchbesuch endlich seinem Ende zuneigte. Mir war todlangweilig, meine Knie taten mir weh und meinen Hintern spürte ich schon gar nicht mehr. So konnte ich mir ein erleichtertes Seufzen nicht verbeissen, als uns der mürrische Herr endlich mit den Worten „geht mit Gott“ in die Nacht entliess. Dieser gab sich leider nicht zu erkennen, so dass ich stattdessen mit „Vater“ den Heimweg antrat.

Zuhause in meinem Bettchen liess ich die Geschehnisse Revue passieren.

Ich war verwirrt. Da drängte man sich in eine feuchte Halle, drückte sich auf Holzbänken den Hintern platt, schürfte sich die Knie an rohen Holzbalken auf und bekam noch nicht mal was zu Trinken. Und trotzdem war die Hütte brechend voll, während in der geselligen Kneipe zwei Strassen weiter noch jede Menge Tische frei waren. Dabei wurde man dort noch persönlich vom Wirt begrüsst, man konnte sich den Bauch mit Schinkenbroten und Limonade vollschlagen und gesungen und gelacht wurde auch.

Irgendwie musste das Ganze mit dem Herrn zu tun haben, der ganz vorne am Kreuz hing. Dem hatte dieser ‚Pfarrer‘, wie ihn ‚Vater‘ nannte, nämlich zugeprostet, bevor er sich den Wein hinter die Binde gegossen hatte. Der Herr am Kreuz, soviel hatte ich schon herausgefunden, schien ohnehin sehr beliebt zu sein. Bei uns hing nämlich, wie ich herausgefunden hatte, praktisch in jedem Raum eine kleine Version und im komischen Garten hinter der Kirche mit den vielen Erdhaufen wimmelte es nur so davon.

Dem Rätsel hiess es, auf den Grund zu gehen. Und so bat ich eines Tages „Mutter“ um Aufklärung und fragte sie, wer der Herr sei und was es mit dem Kreuz auf sich habe.

„Das ist Jesus, der Sohn von unserem Herrgott“, antwortete sie kurzangebunden.

„Unser Herr Gott? Hat der auch einen Vornamen? Und warum--“

„Herrgott nochmal“, entfuhr es „Mutter“. Sogleich zuckte sie zusammen, warf einen entschuldigenden Blick zu unserem Herrn Gott und bekreuzigte sich.

„Äh, ich meine, nicht Herr Gott, sondern Herrgott. Also unser Heiland eben.“

„Unser Heiland?“

„Naja, der Sohn vom heiligen Geist, so quasi.“

Der Sohn vom heiligen Geist? Grad wie ein Geist kam mir die muskulöse Gestalt, die da am Kreuz hing, nicht gerade vor. Er hatte zwar auch ein Leintuch um, aber nur ein kleines, und auch das nur um die Hüfte geschlungen. Das schien mir doch alles sehr vage.

„Und wieso hängt er da am Kreuz und hat fast nichts an?“

„Weil ihn die Juden ans Kreuz genagelt haben. So, jetzt weisst du’s.“

Das war es also. Endlich sprach jemand mal offen aus, wer für diese gemeine Tat verantwortlich zu machen war. Was für ein mieses Lumpenpack diese ‚Juden‘ doch sein mussten. Nagelten sie doch einfach jemanden ans Kreuz. Noch dazu jemanden, der so nett aussah. Sicher tat das furchtbar weh.

„Aber so was darf man doch nicht machen, oder?“, hörte ich mich mit weinerlicher Stimme fragen.

„Juden schon, die machen so was“, konstatierte ‚Mutter‘, das ist denen egal, die nageln dich einfach ans Kreuz, wenn ihnen deine Visage nicht passt.“

Jetzt hatte „Vater“, der bis dahin ungerührt seine Zeitung gelesen hatte, genug gehört.

„Aber Mutter“, schalt er diese, und faltete kopfschüttelnd die Zeitung zusammen, „erzähl dem Kleinen doch nicht so einen Quatsch.“

„Wieso denn Quatsch?“, gab „Mutter“ zurück. „Stimmt das etwa nicht? Der Kleine soll nur wissen, wie das damals war.“

Aha. Mutter war also sozusagen Zeitzeugin. Kein Wunder, hatten die Geschehnisse sie traumatisiert. Da konnte „Vater“ gut reden, der die ganze Geschichte offensichtlich gerade mal vom Hörensagen kannte.

Trotzdem hatte dieser für einmal das letzte Wort. Er sah „Mutter“ mit einem nachsichtigen Blick an, wie er es immer tat, wenn die beiden einmal nicht einer Meinung waren, und warnte: „Mach bloss so weiter, du setzt dem Jungen am Ende noch Flausen in den Kopf.“

Und genau so war es dann auch.

Diese grausame Geschichte steckte mir nämlich noch tagelang in den Knochen. Fortan vermutete ich in jedem Fremden, der bei uns die Strasse entlanglief, einen Juden, der mich ans Kreuz nageln wollte. Ganze zwei Wochen lang traute ich mich kaum mehr aus dem Haus und wenn „Mutter“ mich nach dem Grund fragte, hüstelte ich und täuschte eine Erkältung vor. Es gibt zwar Angenehmeres, als im August gut zugedeckt mit Schal, Zipfelmütze und Bettflasche im Bett zu liegen und heissen Kamillentee zu trinken, aber dafür war ich in meinem Bett vor jüdischen Kreuznaglern sicher.

Dass diese Saat dann schliesslich doch nicht aufging, lag zum einen an „Vaters“ mahnenden Worten, die je länger, je mehr nachhallten und zum anderen am Umstand, dass unsere Familie zwar arm sein mochte, aber mit Antisemitismus und Rassismus überhaupt nichts am Hut hatte. Die Zeit bei den beiden sollte mich daher, von dieser denkwürdigen Episode einmal abgesehen, durchaus positiv prägen. Die regelmässigen Aufenthalte während meiner Sommerferien bescherten nämlich nicht nur meinem Bauchumfang, sondern auch meinem Wortschatz einen enormen Zuwachs.

Man denke sich nur, mein Vokabular umfasste auf einmal Fremdwörter, die uns zuhause nie über die Lippen gekommen wären. „Danke“ oder „bitte“ fallen mir spontan ein, aber auch Exotisches wie „Guten Tag“ und „auf Wiedersehen“ war dabei und sogar die eher persönliche Ebene wurde mit „Gesundheit“ und „Mahlzeit“ angeschnitten. Letzteres ein Wort, welches zuhause mangels Gelegenheit natürlich eher selten zum Einsatz kam.

Aber auch andere schlechte Angewohnheiten, die ich aus dem Exil mitbrachte, sorgten für Erheiterung. So zum Beispiel meine Frage, wieso man bei uns zuhause kein Tischgebet spreche, wenn es denn schon mal was zu essen gebe.

„Hihihi, hohoho, hört euch den an“, prustete mein Bruder Franz los, „‘danke‘, ‚bitte‘ und ‚Tischgebet‘, dass ich nicht lache. Kaum ein paar Wochen weg, schon hält er sich für was Besseres. Du kannst ja beten, dass ich dir nicht noch eine verpasse, du dämlicher Hosenscheisser.“ Zack, gab es eine Kopfnuss.

Kein Zweifel, ich war wieder daheim. Wiedersehensfreude sah anders aus.

Kindsjahre

Подняться наверх