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An diesem Novembertag im Jahr 1902, im November ihrer Seniorenklasse, hatte der Himmel eine schmutziggraue Farbe, die hölzernen Bürgersteige von Gritzmacherquellen waren kotbeschmiert. In der Stadt war nichts los, und in ihrem Zimmer roch es betäubend nach dem Dunst des Ofens, in dem zum erstenmal seit dem Frühling Feuer brannte.

Jim lernte Deutsch, er war in einer elegant behaglichen Stellung zurückgelehnt und hatte die Füße gegen das Schreibpult gestemmt. Elmer lag quer über dem Bett und stellte Untersuchungen darüber an, ob ihm das Blut zu Kopf steigen würde, wenn er diesen an der Seite herunterhängen ließ. Das tat es, immer.

»Ach, Herr Gott, gehen wir doch weg und machen wir irgendwas!« stöhnte er.

»Nichts los, gar keinen Sinn«, sagte Jim.

»Gehn wir nach Cato hinüber, besuchen wir die Mädels und saufen wir uns einen an.«

Da Kansas durch Staatsprohibition trocken war, lag die nächste Zuflucht in Cato, Missouri, in einer Entfernung von siebzehn Meilen.

Jim kratzte sich mit einer Buchecke am Kopf und stimmte zu:

»Ja, das ist eine glänzende Idee. Hast du Geld?«

»Am achtundzwanzigsten? Verdammt noch einmal, wo sollt' ich vor dem Ersten Geld herkriegen?«

»Höllenhund, du bist eine der größten Verstandesleuchten, die ich kenne, du wirst eine große Nummer als Jurist sein. Abgesehen davon, daß wir beide kein Geld haben und ich morgen ins Deutsche steigen muß, ist das ein großartiges Projekt.«

»Ach, na ja –« seufzte der plumpe Elmer, schwach wie ein krankes Kätzchen; er lag da und wälzte das ungeheure Problem.

Es war Jim vorbehalten, sie vor der öligen Langeweile zu retten, in die sie bereits langsam glitten. Er hatte sein Buch wieder genommen, stellte es aber, sorgfältig und gerade, auf den Tisch und stand auf.

»Ich möchte Nellie gern sehn«, seufzte er. »Ach, Mensch, die könnt's heute gut bei mir haben! Das kleine Biest! Der Teufel soll die Kommilitoninnen hier holen. Die wenigen, in die man sich verlieben könnte, die lauern immer nur drauf, daß sie einen im Hof abfangen und dazu bringen, daß man ihnen einen Antrag macht.«

»Herrje! Und ich muß Juanita sehn«, ächzte Elmer. »Hör doch auf von ihnen zu reden, ja! Ich hab' schon Herzklopfen bekommen, nur vom Denken an Juanny!«

»Höllenhund! Ich hab's. Geh und pump dir Zehn von dem neuen Chemie- und Physiklehrer. Ich hab' noch einen Dollar vierundsechzig, damit schmeißen wir's.«

»Aber ich kenn' ihn doch nicht.«

»Freilich kennst du ihn nicht, du Schwachkopf. Deshalb hab' ich ja an ihn gedacht! Erzähl die Geschichte von dem Scheck, der nicht gekommen ist. Ich werd' noch eine Stunde mit dem Deutsch da rumspielen, während du ihm den Zehner klaust –«

»Na,« kläglich, »so solltest du nicht reden!«

»Wenn du ein so guter Dieb bist, wie ich glaube, können wir den Fünf-Uhr-Sechzehn nach Cato kriegen.«

Der Zug bestand aus einem gewöhnlichen Waggon, einem kombinierten Raucher- und Gepäckwagen und einer verrosteten alten Maschine mit Tender. Der Zug schwankte, während er durch das abnehmende Licht dahin ratterte, derart auf dem verwahrlosten Gleis, daß Elmer und Jim gegeneinander geworfen wurden und sich an der Lehne festhalten mußten. Der Wagen tanzte wie ein Frachtkahn im Sturm. Große derbe Farmer, die ununterbrochen zum Wasserkühler trinken gehen mußten, stießen gegen sie oder griffen nach Jims Schulter, um sich zu stützen.

An jedem Teil des alten Raucherwagens, an den gestreiften Fenstern, den rostigen Eisenbeschlägen und den schmutzüberkrusteten Kokosmatten haftete ein Übelkeit erregender scharfer Geruch von billigem Tabakrauch, und überall, wo sie den roten Plüschbezug der Sitze berührten, wirbelte Staub auf und blieben Handabdrücke zurück. Der Wagen war gedrängt voll. Passagiere setzten sich auf die Lehne ihrer Bank und riefen Freunde jenseits des Ganges an.

Doch Elmer und Jim merkten nichts von Schmutz, Gestank und Überfülltheit. Schweigend saßen sie da, nervös gespannt, ein wenig keuchend, mit offenem Mund, mit verschleierten Augen, sie dachten an Juanita und Nellie.

Die beiden Mädchen, Juanita Klauzel und Nellie Benton, waren keineswegs professionelle Töchter der Freude. Juanita war Kassiererin in der Cato Lunch und Schnellimbiß-Stube; Nellie war Gehilfin bei einem Damenschneider. Sie waren gute Mädchen, nur wenig widerstandsfähig, und fanden etwas Extrageld für rote Pantoffel und Nußschokolade sehr nützlich.

»Juanita – so ein lieber kleiner Kerl – sie hat so viel Verständnis für die Sorgen, die man hat«, sagte Elmer, als sie die feuchten Treppen der verrußten Steinstation von Cato hinunterbalancierten.

Als Elmer, ein Fuchs, der eben von der Mittelschule in Paris, Kansas, gekommen war, die Anfangsgründe der hohen Schule des Liebelns zu lernen begonnen hatte, war er ein laut schwadronierender Bengel gewesen, der in Gegenwart munterer Damen blöde aussah, an Tische stieß, herumbrüllte und alle Welt wissen lassen wollte, wie wacker lasterhaft er wäre. Er war noch immer ziemlich lärmend und stolz auf seine Verruchtheit, wenn er in schnapsseliger Stimmung war, aber in seinen dreieinviertel College-Jahren hatte er gelernt, wie man mit Mädchen verkehrt. Er war zutraulich, er hatte eine gewisse Leichtigkeit, er war fast sanft; er konnte ihnen zärtlich und belustigt ins Auge sehen.

Juanita und Nellie wohnten bei Nellies verwitweter Tante – einer moralischen Dame, die jedoch wußte, wann ihre Anwesenheit unerwünscht war – in drei Zimmern über einem Eckladen. Sie waren eben von der Arbeit zurückgekommen, als Elmer und Jim die gebrechliche hölzerne Außentreppe hinaufstampften. Juanita lungerte auf einem Diwan herum, den nicht einmal eine prächtige orientalische rotgelbe Decke (ein bärtiger Wesier war darauf zu sehen, drei tanzende Damen in Chiffonhosen, eine Narghileh und eine Moschee, die kaum größer war als die Narghileh) jemals dazu bringen konnte, nach etwas anderem auszusehen als einem cachierten Bett. Sie lag zusammengerollt da, fingerte mit einer nervösen und müden Hand an ihrem Fußgelenk herum und las ein aufregendes Kapitel von Laura Jean Libby. Ihre Bluse war am Hals offen, ihr billiger Strumpf hing kümmerlich herunter. Sie sah ganz un-Juanitamäßig aus – ein aschblondes, hübsches Mädchen mit blassem Teint, aus deren Augen eine schlecht verhehlte Sinnlichkeit leuchtete.

Nellie, ein dralles, lustiges Kind, brünett wie eine Jüdin, hatte einen verschmutzten Schlafrock an. Sie kochte Kaffee und erzählte von ihren Sorgen mit ihrem Arbeitgeber, dem frommen Damenschneider, während Juanita überhaupt nicht zuhörte.

Die jungen Männer stahlen sich ins Zimmer ohne anzuklopfen.

»Ihr Teufel – so hereinzuschleichen, wo wir gar nicht angezogen sind«, kreischte Nellie.

Jim machte sich an sie heran, nahm ihre rundliche Hand vom Henkel der Steingut-Kaffeekanne und gluckste: »Ja, freut ihr euch denn gar nicht, daß wir da sind?«

»Ich weiß nicht, ob ich mich freu' oder nicht! Jetzt gib Ruh'! Benimm dich, ja?«

Elmer fühlte sich selten Jim Lefferts überlegen. Aber jetzt empfand er seine Macht über Frauen – über eine gewisse Art Frauen. Schweigend, voll Verlangen nach Juanita, ihr mit seinen heißen Augen befehlend, sank er auf den augenblicklich orientalischen Diwan, streichelte ihre blasse Hand mit seinen dicken Fingerspitzen und murmelte: »Nanu, du armes Ding, du siehst aber müde aus!«

»Das bin ich auch, und – ihr hättet heute nachmittag nicht herkommen sollen. Wie ihr das letztemal da wart, hat Tante einen hysterischen Anfall gekriegt.«

»Hurra das Tantchen! Aber du freust dich doch, daß ich da bin?«

Sie wollte nicht antworten.

»Nein?«

Unverschämte Augen bohrten sich in die ihren, die sich verlegen abwandten, wegsahen und auf der kahlen Wand Sicherheit suchten.

»Nein?«

Sie wollte nicht antworten.

»Juanita! Und ich hab' mich vielleicht was nach dir gesehnt, die ganze Zeit, seit dem letztenmal!« Seine Finger faßten nach ihrem Hals, aber weich. »Freust du dich nicht ein bißchen

Als sie ihren Kopf umdrehte, sah sie ihn eine Sekunde lang mit einem Blick an, in dem ein verwirrtes Geständnis lag. Sie flüsterte heftig, »Nicht – laß das!« als er ihre Hand nahm, rückte aber näher und lehnte sich an seine Schulter.

»Du bist so groß und stark«, seufzte sie.

»Aber, bei Gott, du hast ja keine Ahnung, wie ich dich brauche! Der Rektor, der alte Quarles – Qualle ist gut, weiß Gott, ha, ha, ha! – weißt du noch, was ich dir von ihm erzählt hab'? – er paßt mir auf, weil er glaubt, ich und Jim wären's gewesen, die die Fledermäuse in der Kapelle losgelassen haben. Und dann sind mir diese gottverdammten wöchentlichen Bibelstunden so zum Kotzen – diese ganzen Sachen über die alten heiligen Nußknacker. Und dann denk' ich an dich, und dann, weiß der Kuckuck, wenn du nur auf der anderen Seite vom Ofen in meinem Zimmer dort sitzen könntest, mit deinen feinen kleinen roten Pantoffeln auf dem Nickelgitter – ach, dann war' ich glücklich! Du glaubst doch nicht, daß ich bloß so'n Kaffer bin, was?«

Jim und Nellie waren jetzt in dem Stadium, in dem man einander anstößt und kreischt, »Ach geh', hör' auf, ja!« während sie über dem Kaffee standen.

»Hört mal, ihr Mädels, zieht euch was anderes an und kommt mit, wir gehen mit euch essen, und vielleicht tanzen wir dann auch ein bißchen«, schlug Jim vor.

»Wir können nicht«, sagte Nellie. »Tantchen ist ganz wild, weil wir vorgestern abend so spät von einem Ball nach Haus gekommen sind. Wir müssen zu Haus bleiben, und ihr Jungens müßt euch davonmachen, bevor sie zurück ist.«

»Ach, so kommt doch!«

»Nein, wir können nicht!«

»Ja, sieht ganz danach aus, daß ihr zu Haus bleibt und strickt. Ihr habt euch irgendwen herbestellt und wollt uns jetzt los werden, das ist die ganze Chose.«

»Gar keine Rede, Mr. James Lefferts, und wenn's so wär', würd' es euch auch nichts weiter angehen!«

Während Jim und Nellie zankten, legte Elmer seine Hand Juanita um die Schulter und zog sie langsam an sich. Er war felsenfest davon überzeugt, daß sie schön, daß sie herrlich, daß sie das Leben wäre. In der Weichheit ihrer sich rundenden Schulter war der Himmel, und ihr helles Fleisch war lebendige Seide.

»Komm, gehen wir ins andere Zimmer«, bat er.

»Oh – nein – nicht jetzt.«

Er packte ihren Arm.

»Schön – aber komm erst in einer Minute nach«, flüsterte sie zitternd. Laut, zu den anderen: »Ich geh' mir das Haar richten. Ich schau' ja fürchterlich aus!«

Sie schlüpfte in das Zimmer nebenan. Ein gewisses reifes Selbstvertrauen verschwand aus Elmers Gesicht, er sah aus wie ein rundgesichtiges, ein wenig erschrockenes großes Baby. Im Bemühen unbekümmert zu erscheinen tappte er im Zimmer herum und staubte eine rosa-goldene Vase mit seinem großen zerknitterten Taschentuch ab. Er war in der Nähe der Verbindungstür.

Er warf einen Blick auf Jim und Nellie. Sie hielten sich bei den Händen, während der Kaffeetopf munter überkochte. Elmers Herz pochte. Er glitt durch die Tür, schloß sie und wimmerte, wie in Angst:

»O – Juanita –«

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