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Drittes Kapitel.

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Brixtonstrasse Nummer drei.

Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich höchlich und flösste mir grossen Respekt vor seiner Beobachtungsgabe ein. Zwar wollte mich ein leiser Argwohn beschleichen, ob die Sache nicht doch am Ende ein zwischen den beiden abgekartetes Spiel sei, aber welchen möglichen Zweck hätte das haben können? — Als ich mich nach Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.

„Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?“ fragte ich.

„Erraten — was?“ rief er gereizt auffahrend.

„Nun, dass der Mann ein abgedankter Marinesergeant war.“

„Jetzt ist keine Zeit zu Spielereien,“ stiess er in rauhem Ton hervor, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: „Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch, das schadet vielleicht nichts. — Also Sie haben wirklich nicht sehen können, dass der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?“

„Wie sollte ich?“

„Es scheint mir doch sehr einfach. Freilich ist es nicht leicht zu erklären, wie ich zur Kenntnis solcher Thatsachen komme. Dass zweimal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, forderte man Sie aber auf, es zu beweisen, so würden Sie es schwierig finden. Schon über die Strasse hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung und das verriet mir den Marinesoldaten.’ Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewusstsein und einer gewissen Befehlshabermiene; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren — natürlich musste er Sergeant gewesen sein.“

„Wunderbar!“ rief ich.

„Höchst alltäglich,“ versetzte Holmes, doch sah ich ihm am Gesicht an, dass er sich geschmeichelt fühlte. „Eben noch behauptete ich,“ fuhr er fort, „es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen mehr zu enträtseln. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein — hiernach zu urteilen.“ Er schob mir den Brief hin, welchen der Dienstmann gebracht hatte.

„Wie schrecklich,“ rief ich, ihn überfliegend.

„Es klingt allerdings etwas ungewöhnlich; wären Sie so gut, mir den Brief noch einmal vorzulesen?“

Der Brief lautete wie folgt:

„ Lieber Herr Holmes!

Heute nacht hat sich in der Brixtonstrasse Nummer 3 ein schlimmer Fall zugetragen. Unser Posten sah dort auf seinem Rundgang gegen zwei Uhr einen Lichtschimmer, und da das Haus unbewohnt ist, schöpfte er Verdacht. Er fand die Thür offen und in dem unmöblierten Vorderzimmer den Leichnam eines gutgekleideten Herrn am Boden liegen. Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio U. S. A. stand auf den Visitenkarten, die er in seiner Brusttasche trug. Eine Beraubung ist nicht erfolgt und die Todesursache noch unermittelt, denn es finden sich zwar Blutspuren im Zimmer, aber keine Wunde an dem Toten. Wir wissen nicht, wie er in das leere Haus gekommen sein kann, und die ganze Angelegenheit ist uns ein Rätsel.

Wären Sie geneigt, vor zwölf Uhr den Schauplatz zu besichtigen, so finden Sie mich dort. Ich lasse alles in statu quo bis zu Ihrer Ankunft. Sind Sie verhindert zu kommen, so werde ich Ihnen alle Einzelheiten berichten, und Sie thäten mir einen grossen Gefallen, wenn Sie mir Ihre Ansicht mitteilen wollten.

Ihr ergebener Tobias Gregson.“

„Gregson ist der schlauste Fuchs in der ganzen Polizeimannschaft,“ bemerkte mein Freund. „Er und Lestrade sind rasch und thatkräftig, aber durch nichts aus dem einmal hergebrachten Geleise zu bringen; dabei sind sie einander fortwährend in den Haaren und sind eifersüchtig wie zwei gefeierte Ballschönheiten. Wenn sie etwa beide auf dieselbe Fährte kommen, giebt es einen Hauptspass.“

Die behagliche Ruhe, mit der er sprach, schien mir unbegreiflich. „Es ist doch sicherlich kein Augenblick zu verlieren,“ rief ich; „soll ich Ihnen eine Droschke holen?“

„Noch weiss ich gar nicht, ob ich hingehen werde. Ich habe gerade einen Anfall von Trägheit und dann bin ich der faulste Kerl unter der Sonne; ein andermal kann ich freilich flink genug bei der Hand sein.“

„Aber dies ist doch gerade ein Fall, wie Sie ihn sich gewünscht haben.“

„Jawohl; aber was kommt schliesslich dabei heraus, liebster Freund? Gelänge es mir auch, den Knoten zu lösen, so würden doch Gregson, Lestrade und Co. sich alles auf ihr Konto schreiben. Das hat man davon, wenn man kein Angestellter ist.“

„Aber er bittet ja um Ihre Hilfe.“

„Ja, er weiss, dass ich mehr verstehe als er, und giebt das mir gegenüber auch zu; doch würde er sich lieber die Zunge abbeissen, als vor einem Dritten meine Ueberlegenheit anzuerkennen. Wir wollen uns die Sache indessen doch ansehen. Ich übernehme sie vielleicht auf eigene Faust. Dann kann ich die beiden wenigstens auslachen, wenn ich auch sonst nichts davon habe. Also vorwärts!“

Er fuhr rasch in seinen Ueberzieher und ging so geschäftig hin und her, dass ich wohl sah, die gleichgültige Stimmung war bei ihm vorüber und seine volle Thatkraft zurückgekehrt.

„Wo ist Ihr Hut?“ fragte er.

„Wünschen Sie denn, dass ich mitkomme?“

„Ja, wenn Sie nichts Besseres vorhaben.“

Schon im nächsten Augenblick sassen wir in einer Droschke und fuhren mit Windeseile nach der Brixtonstrasse.

Es war ein bewölkter, nebliger Morgen, alle Häuser lagen in einen Schleier gehüllt, von derselben grauen Schmuztfarbe wie die Strassen. Jetzt liess die Laune meines Gefährten nichts mehr zu wünschen übrig; er sprach mit grosser Zungengeläufigkeit über Cremoneser Geigen und den Unterschied zwischen einer Amati und einer Stradivarius. Ich verhielt mich ziemlich still; das trübe Wetter und das traurige Geschäft, welches wir vorhatten, drückten auf mein Gemüt.

„Es scheint, dass Sie sich in Ihren Gedanken gar nicht mit der Sache beschäftigen, um die es sich handelt,“ unterbrach ich Holmes endlich in seinen musikalischen Auseinandersetzungen.

„Noch fehlen mir alle Einzelheiten,“ erwiderte er; „es ist ein grosser Irrtum, sich eine Theorie zu bilden, ehe man sämtliches Beweismaterial in Händen hat; das beeinflusst das Urteil.“

„Sie werden bald genug Gelegenheit bekommen, Ihre Beobachtungen anzustellen,“ sagte ich; „hier sind wir schon in der Brixtonstrasse und das dort muss das Haus sein, wenn ich nicht sehr irre.“

„Kein Zweifel. — Halt, Kutscher, halt! —“ Wir waren noch eine ziemliche Strecke entfernt, doch bestand er darauf, dass wir ausstiegen und das letzte Ende zu Fuss zurücklegten.

Das Haus Nummer 3 machte einen düstern, unheimlichen Eindruck. Es gehörte zu einer Gruppe von vier Gebäuden, die etwas abseits von der Strasse lagen; zwei waren bewohnt, zwei standen leer. An den trüben Fensterscheiben der letzteren fielen nur hier und da die angeklebten Zettel in die Augen, auf denen ,Zu vermieten‘ stand. Jedes der Häuser hatte ein kleines Vorgärtchen, mit wenigen kränklichen Pflanzen auf den Beeten; mitten hindurch führte ein schmaler mit Kies bestreuter Pfad von gelblichem Lehm, der durch die Regengüsse der vergangenen Nacht völlig aufgeweicht worden war. Eine drei Fuss hohe Backsteinmauer, die ein hölzernes Gitter trug, bildete die Einfassung des Gartens. Am Gitterthor lehnte ein handfester Polizist, von einer Schar Neugieriger umringt, die ihre Hälse reckten und sich vergeblich abmühten, zu sehen, was drinnen im Hause vorging.

Ich hatte erwartet, Sherlock Holmes würde sich sofort hineinbegeben, um seine Untersuchungen zu beginnen, Nichts schien ihm jedoch ferner zu liegen. Mit einer Gelassenheit, welche mir unter den obwaltenden Umständen unnatürlich erschien, schlenderte er vor dem Hause auf und ab, den Blick bald auf den Boden gerichtet, bald in die Luft, bald wieder nach dem Gitterzaun oder den gegenüberliegenden Häusern. Nach einer Weile betrat er den Kiesweg, das heisst, er ging auf dem Grasstreifen neben dem Pfad, die Augen forschend zur Erde gesenkt. Zweimal blieb er lächelnd stehen und ein Ausruf der Befriedigung entfuhr ihm. Es waren zwar viele Fussspuren in den nassen Lehmboden eingedrückt, sie konnten jedoch von den Polizisten herrühren, die gekommen und wieder gegangen waren. Wie mein Gefährte hoffen konnte, da noch etwas Wesentliches zu entdecken, begriff ich nicht; allein nach den Proben seiner Beobachtungskunst, die ich schon von ihm erhalten hatte, musste ich mir sagen, dass er ohne Zweifel vieles sah, was mir gänzlich verborgen blieb.

An der Hausthüre kam uns ein grosser, blasser, flachshaariger Mann mit einem Notizbuch entgegen. Er eilte auf Holmes zu und schüttelte ihm mit grosser Wärme die Hand. „Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie kommen,“ sagte er, „alles ist noch ganz unberührt geblieben.“

„Nur nicht der Fussweg,“ erwiderte mein Freund. „Wäre eine Büffelherde drübergelaufen, sie hätte ihn kaum mehr zertrampeln können. Natürlich haben Sie erst genaue Beobachtungen angestellt, Gregson, bevor Sie das zuliessen.“

„Ich hatte drinnen im Haus zu viel zu thun,“ sagte der Detektiv ausweichend. „Mein Kollege Lestrade ist hier; ich dachte, er würde sich darum kümmern.“

Holmes zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe und sah mich an. „Wo zwei Männer wie Sie und Lestrade an Ort und Stelle sind, hat ein Dritter nicht mehr viel zu suchen,“ bemerkte er.

Gregson schntunzelte selbstgefällig, und rieb sich die Hände. „Wir haben gethan, was wir konnten; aber es ist ein wunderlicher Fall — ich kenne ja Ihre Vorliebe für dergleichen.“

„Sind Sie in einer Droschke hergekommen?“

„Nein, ich nicht.“

„Aber Lestrade?“

„Der kam auch zu Fuss.“

„So? — Dann können wir wohl das Zimmter besehen.“

Wie das zusammenhing, war mir nicht recht ersichtlich, auch Gregson machte ein verwundertes Gesicht, während er Holmes in das Haus folgte.

Ein sehr staubiger, gedielter Korridor führte nach Küche und Speisekammer, rechts und links befanden sich noch zwei Thüren. Die eine mochte wohl wochenlang nicht geöffnet worden sein, die andere führte in das Zimmer, wo die geheimnisvolle Missethat verübt worden war. Holmes trat, dort ein, und ich begleitete ihn, von unheimlichen Gefühlen ergriffen, wie sie die Gegenwart des Todes uns einzuflössen pflegt. Das grosse, viereckige Gemach sah noch geräumiger aus, weil keine Möbel darin standen. Die grelle Tapete an den Wänden war hie und da mit Schimmel überzogen, an einigen Stellen hing sie in Fetzen herunter, so dass der helle Kalkbewurf zum Vorschein kam. Der Thüre gegenüber befand sich ein grosser, offener Kamin mit einem Gesims, an dessen einer Ecke ein rotes Wachslichtstümpchen klebte. Das einzige Fenster, welches den Raum erhellte, war mit einer Schmutzkruste überzogen, die nur ein mattes, ungewisses Licht hindurchliess. Die düstere, graue Beleuchtung passte so recht zu der dicken Staubschicht, welche auf der Zimmerdiele lagerte.

Alle diese Einzelheiten fielen mir jedoch erst später auf. Anfangs richtete ich mein ganzes Augenmerk auf die leblose Gestalt, welche ausgestreckt am Boden lag, den stieren Blick nach der Decke gerichtet. Es war ein mittelgrosser Mann von etwa vierundvierzig Jahren, breitschulterig, mit krausem, schwarzem Haar und kurzem Stoppelbart. Sein Anzug bestand aus Rock und Weste von schwerem Doppeltuch, hellen Beinkleidern und tadellosem Weisszeug. Auch gehörte ihm wohl der glatt gebürstete, hohe Hut, den ich neben ihm sah. Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, die Fäuste geballt und die Beine fest übereinander geschlagen, wahrscheinlich im Todeskampf. In seinen starren Zügen lag ein Ausdruck des Entsetzens und eines so grimmigen Hasses, wie ich ihn noch nie zuvor in einem Menschenantlitz erblickt zu haben glaubte. Dieser bösartige Zug, dazu die niedere Stirn, die breite Stumpfnase und das vorstehende Kinn, gaben dem Toten ein widerliches, tierisches Aussehen, das durch seine gekrümmte, unnatürliche Lage noch abschreckender wurde. Ich habe den Tod schon in mancher Gestalt gesehen, aber nie hat er mir einen so grauenvollen Eindruck gemacht, wie in jenem öden Hause der Londoner Vorstadt.

Der Geheimpolizist Lestrade hatte uns an der Stubenthüre empfangen. „Der Fall wird Aufsehen machen,“ sagte er mit Nachdruck; „ich bin wahrhaftig kein Neuling mehr, aber etwas Aehnliches habe ich noch nie erlebt.“

„Wir suchen vergeblich nach einem Aufschluss,“ fiel Gregson ein.

Sherlock Holmes war neben dem Leichnam niedergekniet, den er genau untersuchte.

„Eine Wunde haben Sie also nicht entdeckt?“ fragte er, auf die zahlreichen Blutspuren am Fussboden deutend.

„Nein, es ist keine zu finden,“ versicherten beide.

„So rührt das Blut also von einem andern Menschen her, von dem Mörder vermutlich, wenn nämlich ein Mord verübt worden ist. Der Fall erinnert mich an Van Jansens Tod in Utrecht im Jahre 1834. Haben Sie den im Gedächtnis, Gregson?“

„Nein, ich weiss nichts davon.“

„Sie sollten die Geschichte nachlesen. Es giebt nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon dagewesen.“

Während er sprach, fuhren seine geschickten Finger bald hierhin, bald dorthin; er drückte, befühlte, betastete alle Glieder und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass ich kaum begriff, wie er die einzelnen Ergebnisse seiner Untersuchung aufzufassen vermochte. Sein Blick trug dabei denselben geistesabwesenden Ausdruck, den ich schon öfter an ihm bemerkt hatte. Schliesslich roch er an den Lippen des Toten und betrachtete die Sohlen seiner feinen Lederstiefel.

„Liegt er noch genau so, wie man ihn gefunden hat?“ fragte er.

„Wir haben ihn untersucht, ohne ihn von der Stelle zu bewegen.

„Gut, dann lassen Sie ihn jetzt nur ins Leichenhaus schaffen. Es ist nichts Thatsächliches mehr zu ermitteln.“

Eine Tragbahre stand schon in Bereitschaft, und auf Gregsons Ruf kamen vier seiner Leute herbei. Als sie die Leiche aufluden, um sie fortzutragen, fiel ein Ring zu Boden und rollte über die Diele. Lestrade fuhr wie ein Stossvogel darauf zu, hob ihn auf und betrachtete ihn mit verblüffter Miene.

„Der Trauring einer Frau — wie kommt der hierher?“ rief er.

Wir starrten alle nach dem goldeiten Reif auf seiner flachen Hand; welche Braut mochte den am Finger getragen haben?

„Die ohnehin schon verwickelte Angelegenheit wird durch diesen Fund noch schwieriger,“ bemerkte Gregson.

„Vielleicht vereinfacht er sie auch,“ äusserte Holmes bedächtig. „Jedenfalls nützt es nichts, den Ring noch länger anzusehen; wir werden nicht klüger davon. Haben Sie nichts in den Taschen gefunden?“

„Im Flur liegt alles beisammen!“ erwiderte Gregson, „kommen Sie!“ Wir verliessen das Zimmer. „Hier ist der ganze Inhalt,“ fuhr er fort, auf einen Haufen verschiedener Gegenstände deutend. „Eine goldene Uhr No. 97163 von Barrand in London, eine kurze Uhrkette von massivem Gold, ein goldener Ring mit dem Freimaurerzeichen; ein Hundekopf mit Rubinaugen als Vorstecknadel; ein Visitenkartentäschchen von russischem Leder, auf den Karten steht Enoch I. Drebber aus Cleveland, das stimmt mit den Zeichen der Wäsche überein. Kein Portemonnaie, aber loses Geld in der Westentasche im Betrag von sieben Pfund dreizehn Schilling. Eine Taschenausgabe von Boccaccios Decamerone, auf dem Titelblatt der Name Joseph Stangerson. Zwei Briefe, einer an E. I. Drebber, der andere an Joseph Stangerson.“

„Wohin adressiert?“

„An die amerikanische Wechselbank. Beide Briefe kommen von der Dampfschiffgesellschaft Guion und betreffen die Abfahrt ihres Dampfers von Liverpool. Offenbar stand der Unglückliche im Begriff, nach New York zurückzukehren.“

„Haben Sie über jenen Stangerson Erkundigungen eingezogen?“

„Versteht sich,“ versetzte Gregson; „an sämtliche Zeitungen sind Anzeigen geschickt worden; auch ist einer meiner Leute nach der Wechselbank gegangen, ich erwarte ihn bald zurück.“

„Haben Sie in Cleveland angefragt?“

„Ja, die Depesche ist heute früh abgegangen.“

„Was war der Wortlaut?“

„Wir gaben einfach die Umstände an und baten um Mitteilung der einschlägigen Thatsachen.“

„Sie haben nicht etwa über einen Punkt, der Ihnen besonders wichtig schien, eingehendere Nachricht verlangt?“

„Ich habe nach Stangerson gefragt.“

„Weiter nichts? Liegt nicht eine Thatsache vor, um die sich der ganze Fall dreht? Wollen Sie nicht noch einmal telegraphieren?“

„Meine Depesche enthielt alles Erforderliche,“ versetzte Gregson in beleidigtem Ton.

Sherlock Holmes lachte in sich hinein und wollte eben noch eine Bemerkung machen, als Lestrade, der inzwischen im Zimmer geblieben war, zu uns in den Flur kam.

„Soeben habe ich eine Entdeckung gemacht, Gregson,“ sagte er, sich mit selbstgefälliger Miene die Hände reibend. „Hätte ich nicht die Stubenwände genau untersucht, wir wären schwerlich darauf aufmerksam geworden.“

Die Augen des kleinen Detektivs funkelten vor innerem Triumph, dass er seinem Kollegen den Rang abgelaufen hatte. „Kommen Sie,“ sagte er, in das Zimmer zurückeilend, das uns weit weniger grausig erschien, seit die Leiche fortgeschafft war; „so, jetzt treten Sie dorthin.“

Er strich ein Schwefelholz an seiner Stiefelsohle an und hielt es gegen die Wand. In einer Ecke war die Tapete abgerissen und auf dem hellen Kalkbewurf, der darunter zum Vorschein kam, stand mit grossen, blutroten Buchstaben das Wort

Rache

zu lesen.

„Das hat der Mörder mit seinem eigenen Blut geschrieben,“ fuhr Lestrade fort, „hier auf der Diele sieht man noch, wo es hinuntergetropft ist. Einen besseren Beweis, dass kein Selbstmord vorliegt, könnten wir gar nicht haben. Sehen Sie das abgebrannte Licht auf dem Kaminsims? Beim Scheine desselben ist das Wort in dieser sonst so dunkeln Ecke geschrieben worden!“

„Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich in dem Zimmer umzusehen,“ sagte Holmes, ein Vergrösserungsglas und ein Zentimetermass aus der Tasche ziehend. „Sie erlauben mir wohl, das jetzt nachzuholen.“

Geräuschlos ging er in dem Raume hin und her; bald stand er still, bald kauerte er am Boden, einmal legte er sich sogar mit dem Gesicht platt auf die Diele. Er war so vertieft in seine Beobachtungen, dass er unsere Anwesenheit ganz vergessen zu haben schien; auch hielt er fortwährend leise Selbstgespräche, dazwischen stöhnte er laut oder pfiff wohlgefällig vor sich hin und feuerte sich durch ermutigende Ausrufe zu neuer Hoffnung an. Er kam mir vor wie ein edler Jagdhund, der rückwärts und vorwärts durch das Dickicht springt, vor Begierde heult und winselt und keine Ruhe sindet, bis er die verlorene Fährte wieder aufgespürt hat. Wohl zwanzig Minuten lang setzte er seine Untersuchungen fort, mass mit der grössten Genauigkeit die Entfernung zwischen verschiedenen Punkten am Boden, die für mein Auge ganz unsichtbar waren und dann die Höhe und Breite der Wände. Was er damit bezweckte, war mir unerklärlich. An einer Stelle las er behutsam ein Häufchen grauen Staubes von der Erde auf und verwahrte es sorgfältig in einem Briefumschlag. Zuletzt richtete er sein Vergrösserungsglas auf das rätselhafte Wort an der Wand und betrachtete jeden Buchstaben aufs genaueste. Das Ergebnis schien ihn zu befriedigen und er steckte das Glas wieder ein.

„Man sagt, das Genie sei nichts als unermüdliche Ausdauer,“ bemerkte er lächelnd; „so falsch das an und für sich auch ist, auf die Arbeit des Geheimpolizisten lässt es sich doch anwenden!“

Gregson und Lestrade waren dem seltsamen Gebahren des eifrigen Dilettanten mit neugierigen, aber etwas verächtlichen Blicken gefolgt. Sie schienen sich nicht klar zu machen, was ich längst wusste, dass nämlich Sherlock Holmes, selbst bei seinen scheinbar unbedeutendsten Handlungen, stets ein bestimmtes Ziel fest im Auge behielt.

„Nun, was halten Sie von dem Fall?“ fragten beide jetzt in einem Atem.

„Sie sind auf so gutem Wege, meine Herren,“ erwiderte Holmes nicht ohne einen leisen Anflug von Spott, „da wäre es die grösste Anmassung von meiner Seite, wollte ich mich Ihnen zur Hilfe anbieten. Den Ruhm, der Ihren Verdiensten gebührt, sollen Sie auch allein ernten. Vielleicht kann ich Ihnen im weiteren Verlauf Ihrer Forschungen noch von Nutzen sein, dann stehe ich gern zu Diensten. Es wäre mir übrigens doch erwünscht, wenn ich den Schutz mann sprechen könnte, der die Leiche gefunden hat. Sagen Sie mir, bitte, wie er heisst und wo er wohnt.“

Lestrade schlug sein Notizbuch auf. „John Rance hat jetzt keinen Dienst; Sie werden ihn sicher in seiner Wohnung am Kennington Parkthor, Audley Court No. 46 finden.“ Holmes notierte sich die Adresse.

„Kommen Sie mit, Doktor,“ rief er mir zu, „wir suchen ihn auf.“ Dann verabschiedete er sich von den beiden Geheimpolizisten. „Ich will Sie noch auf einiges aufmerksam machen, was Ihnen vielleicht einige Mühe ersparen kann,“ sagte er. „Hier ist ein Mord begangen worden; der Täter ist sechs Fuss gross, im besten Mannesalter, hat verhältnismässig kleine Füsse, trug Stiefel mit breiten Spitzen und rauchte eine Trichinopolly-Cigarre. Er kam mit seinem Opfer in einer Droschke angefahren; von den Hufeisen des Pferdes waren drei alt und das am linken Vorderfuss neu. Der Mörder hat eine rötliche Gesichtsfarbe und ungewöhnlich lange Fingernägel an der rechten Hand. — Das sind nur ganz unbedeutende Einzelheiten, aber sie könnten Ihnen doch einen Anhaltspunkt geben.“

Lestrade und Gregson sahen einander ungläubig lächelnd an.

„Wie ist denn der Mann umgebracht worden, wenn ein Mord vorliegt?“ fragte ersterer.

„Vergiftet,“ gab Holmes kurz zur Antwort. Nach diesem kategorischen Ausspruch entfernte er sich rasch, und seine beiden Nebenbuhler blickten ihm mit offenem Munde nach.

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Eine Studie in Scharlachrot

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