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Kapitel 2

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Glück im Unglück

In dieser Nacht träumte ich wirres Zeug. Von einem dunkelgrünen Tannenwald in leichten Nebel eingehüllt. Ich sah mich selbst! Schnell rannte und sprang ich mühelos durchs Gelände.

Wie ein Raubtier auf Beutezug.

Mein Unterbewusstsein arbeitete auf Hochtouren. Fast schon konnte ich den Duft des Harzes riechen, so realistisch und unfassbar berauschend.

Aber ich war nicht allein in dieser wilden Herrlichkeit. Eine Gestalt, deren Umriss ich nur erahnte, erregte meine Aufmerksamkeit. Sie stand reglos auf einer sonnendurchfluteten Lichtung, umgeben von einer saftig grünen Wiese. Das Vogelgezwitscher untermalte diesen schönen Anblick und gab mir ein wohliges Gefühl. Die Stimmung hielt an, auch wenn ich mich im Traum mal wieder nicht von der Stelle bewegen konnte. Ich dachte sofort an meine Mom und wie schön es wäre, wenn ich sie hier wieder sehen könnte. Ihre Stimme noch einmal hören und eine letzte Umarmung spüren. Besser ein geträumter Abschied, als gar keiner!

Ich wollte wissen, wer da stand und streckte den linken Arm nach der Person aus, mehr blieb mir so angewurzelt nicht übrig. Der Schatten bewegte sich langsam auf mich zu. Je näher er kam, desto deutlicher und größer wurde er. Einzig sein Gesicht blieb wie verschleiert. Jetzt endlich konnte ich ihn, einen großen, dunkelhaarigen Mann, erkennen. Der komplett in schwarz gekleidete Hüne sollte mir eigentlich einen Schrecken einjagen, doch genau das Gegenteil passierte. Er war mir seltsam vertraut und dann stand er plötzlich dicht vor mir.

Mit seiner rechten Hand streichelte er mir über die Wange.

Bei dieser Berührung fuhr ich leicht zusammen, doch anmerken ließ ich mir meine Unsicherheit nicht. Er hob mein Kinn und meine Augen fielen von allein zu. Gleich darauf spürte ich seine harten Lippen auf meinem weichen Mund. Er fühlte sich so stark und gut an, dass ich nichts weiter denken konnte als: Mehr!

Meine Knie zitterten und meine Handflächen schwitzten. Als er von mir abließ, öffnete ich die Augen. Zu gern hätte ich gesehen, wer mir da gerade den Verstand rauben wollte, aber er war fort.

Typisch, ein Klassiker!

Ich wünschte mir, noch einmal von vorn zu träumen, nur diesmal noch viel schöner. »Zu schade«, seufzte ich, als ich aufwachte und mich in meinem zerwühlten Bett rekelte.

Noch etwas benommen taumelte ich zum Kleiderständer. Ich nahm meinen Morgenmantel und freute mich auf den Kaffee in der Küche. Cloé musste schon wach sein, dieser verlockende Duft nach frisch aufgebrühten Kaffeebohnen war verräterisch.

Ein milder Luftzug wehte mir um die Nase, als ich in den Spiegel neben meinem Kleiderschrank schaute.

Nathan hat recht: Das Kleid steht mir wirklich.

Ich lächelte verlegen bei diesem Gedanken, bevor meine Miene im nächsten Augenblick einfror. Mein Spiegelbild betrachtend, stotterte ich ungläubig: »Kleid? Hä? Ich hatte doch...! Wo ist mein Pyjama?«

Ich war mir so sicher, dass ich mich gestern Abend noch umgezogen hatte. Die pure Verzweiflung packte mich: »Das ist doch bekloppt. Total verrückt.«

Wieder erwischte mich ein Luftzug und wehte mir eine Haarsträhne ins Gesicht.

»Und die Fenster habe ich gestern Nacht extra fest verriegelt. Ganz, ganz sicher!«

Das war´s Jules, zweiundzwanzig und schon im Kopf kaputt.

Um Fassung ringend zog ich mir schnell meinen grünen Jogginganzug über, der wider Erwarten noch über der Stuhllehne hing. Ich brauchte jetzt dringend kaltes Wasser im Gesicht und dann einen starken heißen Kaffee, um runterzukommen. Wütend über so viel Chaos in meinem Kopf ging ich ins Bad.

Cloé rief aus der Küche: »Auch einen Kaffee, Jules?«

»Ja, unbedingt.«

»Beeil dich, du hast Besuch.«

»Was? Wer denn?«

»Es ist nur Nathan, der dir deine Schlüssel wiederbringen will.«

»Oh.« Mehr brachte ich nicht heraus.

Cloé hatte die offensichtliche Lüge vom Vorabend mitgeschnitten und mir fiel ad hoc nicht ein, welche Erklärung ich ihr jetzt präsentieren konnte. Ich entschloss mich erst einmal, nicht weiter auf die verfahrene Situation einzugehen. Was hier Seltsames vor sich ging, begriff ich selbst nicht. Ich würde mir noch etwas Besseres für sie einfallen lassen. Nach unserer ersten Annäherung wollte ich Cloé nicht enttäuschen.

Nathan strahlte mich an. Einen Deut irritiert nickte ich im begrüßend zu, da ich mit einer weitaus negativeren Reaktion auf meine Rücksichtslosigkeit von gestern Nacht, rechnete. Ich erklärte es mir schnell mit seinem großherzigen Wesen und bemerkte, dass auch meine Mitbewohnerin mich bei ihm nicht verraten haben konnte. Verblüfft, wie loyal sie sich mir gegenüber verhielt, musterte ich sie kritisch. Cloé jedoch lächelte zurück und hielt mir meine rote Lieblingstasse mit den weißen Punkten entgegen.

»Hier, bitte«, sagte sie liebenswürdig. Ich wollte gerade wieder Hoffnung schöpfen, mich doch in ihrer Auffassungsgabe getäuscht zu haben. Als sie mir im nächsten Augenblick deutlich zu verstehen gab, dass ich mit meiner ersten Annahme völlig richtig lag.

»Bis später, Jules, und sei nicht so unachtsam mit deinen Sachen. Verschlossene Türen lassen sich ohne Schlüssel nur schlecht öffnen«, verabschiedete sie sich in ihr Zimmer. Mein ungläubiger Blick verfolgte sie bis in den Flur.

»Ich bin so froh, dass du gestern gut nach Hause gekommen bist. Wir haben dich gesucht, aber du warst spurlos verschwunden.«

»Hast du gestern noch angerufen?«

»Ja, ich wollte Cloé fragen, ob sie etwas von dir gehört hat. So gegen ein Uhr bin ich hier vorbeigefahren. In deiner Küche brannte Licht. Da wollte ich nicht mehr stören und dachte mir, ich hol dich jetzt ab und nehme dich mit zum Campus.«

»Die Uni? Oh nein. Wie spät ist es?«

»Du hast genau zehn Minuten«, rief mir Nathan nach, als ich bereits ins Bad hastete.

Es folgte ein ganz normaler Campustag, außer dass überall Gerüchte über den Tod von Gracy kursierten. Die einen tuschelten Herzfehler, die anderen vermuteten Mord oder Totschlag.

Für mich passte die Herzfehlertheorie gar nicht, dafür sah ihre Haltung viel zu unnatürlich aus. Wer fiel schon genau hinter einem Müllcontainer um, sortierte vorher noch schön-schaurig seine Schuhe um sich herum und blieb dann im Anschluss mit diesem erschrockenen Gesicht und den nach oben verdrehten Armen liegen? Sie hätte sich doch wenigstens an die Brust gefasst oder sich den linken Arm festgehalten. Nein, natürliche Todesursache hatte ich nach dem grausamen Anblick sofort ausgeschlossen.

Es war Mord!

Ob der mysteriöse Kerl etwas damit zu tun hatte? Ich wollte die Fantasie nicht gleich mit mir durchgehen lassen, deshalb konzentrierte ich mich lieber wieder auf meinen Kaffee, den ich in der Cafeteria trank.

Einige Tage vergingen, ohne dass etwas Aufregendes passierte, bis mich Prof. Stonehaven nach einer Vorlesung spontan zu sich nach Hause einlud: »Miss Pickering, ich würde mich sehr freuen, wenn sie uns heute Abend die Ehre geben würden. Meine Frau kocht und wäre entzückt, sie endlich persönlich kennen lernen zu dürfen.« Etwas eigen war mein Mentor schon, was er mit dieser Ansprache mal wieder deutlich unterstrich.

»Ja, sehr gern.«

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie.«

Mit dieser Information konnte er wohl nur die Bewertung meiner Semesterarbeit meinen. Ich lächelte zurück und nahm den kleinen Zettel mit seiner Adresse an mich.

»Ich erwarte Sie pünktlich um acht Uhr. Und seien sie bitte sehr hungrig, meiner Frau zuliebe.« Er wirkte amüsiert, als fiele ihm in diesem Zusammenhang eine entsprechende Situation wieder ein.

Es muss die Zusage sein. Wäre es sonst eine Überraschung? Aber er hat ja nicht gesagt, dass es eine positive Überraschung ist. Ist eine Überraschung nicht meistens positiv? Vielleicht hat er mich nur eingeladen, um mir die Absage schonend beizubringen? Hör auf damit!

Ich war nervös und die Gedanken gingen mir durch, als ich den Weg zu den Stonehavens zu Fuß zurücklegte. Bisher erschien es unnötig, meinen Mentor daheim aufzusuchen, schließlich hatte er sein eigenes Büro auf dem Campus. Umso erstaunter war ich über diese Einladung. Hinzu kam, dass er nur ein paar Straßen von mir entfernt wohnte. Punkt acht Uhr stand ich vor der alten Villa, welche Professor Stonehaven sein Heim nannte.

Das dunkelrote Haus mit dem schön angelegten Vorgarten stammte aus der Gründerzeit und befand sich bereits seit Generationen in Familienbesitz. Das unscheinbare und düstere Bauwerk, konkurrierte mit dem kunterbunten Garten. Ich klingelte an der Ein-gangstür, die von zwei weißen Säulen und einem kleinen Vordach umrahmt wurde.

Die Tür wurde gleich darauf geöffnet und eine elegante Dame in Abendrobe reichte mir die Hand. Wie automatisch griff ich danach und knickste bei der Begrüßung sogar. »Guten Abend, Mrs. Stonehaven, und vielen Dank für die Einladung.«

Dann schaute ich an mir herunter und dachte: Jeans, weißes T-Shirt. Gott sei Dank: der dunkelblaue Blazer.

»Nein. Nein, Kindchen, Sie sehen toll aus. Kommen Sie bitte, es freut mich Sie endlich kennen lernen zu dürfen. Barcley macht immer so ein Geheimnis um sie«, erklärte sie, als könnte sie Gedanken lesen, und lud mich mit einer eleganten Handbewegung nochmals ein, hereinzukommen.

Das Haus war altenglisch und sehr aristokratisch eingerichtet. Man kam sich fast vor, wie in einem alten Kitschroman mit Salon und Kaminzimmer.

Passt zu ihm!

Die Situation amüsierte mich, daher konnte ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Ich betrat das hell erleuchtete Esszimmer im Erdgeschoss des Hauses. In der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch oder besser: eine Speisetafel aus altem Familienbesitz. Der Tisch bot genug Platz für eine zwölfköpfige Familie. Ich fragte mich, ob die Stonehavens überhaupt Kinder hatten.

Mrs. Stonehaven hatte mehr als zwanzig Kerzen angezündet. Die Atmosphäre des Raumes passte hervorragend zu ihrem Kleid und der hochgestochenen Ausdrucksweise in diesem Haus.

Mein Professor erwartete mich bereits mit einer Porzellanpfeife im Mundwinkel. Auch er hatte sich extra schick gemacht. Er trug ein dunkelgrünes Herrenjaquette mit Lederbesatz an den Ellenbogen, dazu ein weißes Hemd und die obligatorische braune Fliege.

»Guten Abend, meine Liebe, es gibt Roastbeef mit Yorkshire-Pudding, eine Spezialität meiner Frau. Sie backt ihn traditionell im Ofen zusammen mit dem Roastbeef. Der Eierkuchenteig wird so mit dem Bratensaft betropft, und das gibt ihm zusätzlich Aroma. Ein Gedicht, glauben Sie mir! Bitte setzen Sie sich, Miss Pickering, ich hoffe, Sie haben gut herge-funden?« Er deutete mir meinen Platz an.

Ich fügte mich dem Abendprogramm.

Das Essen war wunderbar. Gesprochen wurde während der Mahlzeit nicht. Ich fühlte mich in der Zeit zurückversetzt und passte meine Tischmanieren der herrschaftlichen Situation an.

Gut, dass ich dank Mom nicht wie ein Schwein fresse.

Nach dem köstlichen Trifle, einer Süßspeise bestehend aus mehreren Schichten Obst, in Sherry getränktem Biskuit und Schlagsahne, wechselten wir in den Salon. Dieser befand sich zu meiner großen Freude gleich im Nebenraum, denn Treppen hätte ich in diesem übersättigten Zustand nur noch rollend mit Anschub bewältigt. Im Salon verbreitete das lodernde Kaminfeuer wohlige Gemütlichkeit.

Mir wurde schnell zu warm, daher stellte ich mich nah an das leicht gekippte Fenster. Die Hoffnung, etwas kühlende Luft durch den Spalt abzubekommen, war trügerisch, denn es war nicht die kühle Brise, die mich erschaudern ließ. Da lag wieder dieser unerklärlich vertraute Geruch in der Luft.

Das kann jetzt nicht sein!

Augenblicklich wechselte ich meine Position hinüber zum Lederohrensessel, der direkt neben dem Kamin stand. »Dann doch lieber zu warm als schon wieder Wahnvorstellungen«, erklärte ich mir im Stillen selbst und strich zufrieden über meinen aufgeblähten Bauch.

Mit einem Umschlag in der Hand kam Professor Stonehaven auf mich zu und lächelte durch seinen Schnurrbart: »Herzlichen Glückwunsch, meine liebe Juliette, Sie haben uns alle beeindruckt.«

Die Zusage für meine Forschungsstelle.

»Vielen, vielen Dank, Sie wissen ja nicht, was mir das bedeutet!« Ich sprang überglücklich auf und umarmte meinen Professor. Wahrscheinlich war meine Reaktion für ihn unangebracht und übertrieben, aber er wehrte sich nicht.

»Das haben sie sich verdient, meine Teuerste«, antwortete er ein wenig überrumpelt und erwiderte zaghaft meine Umklammerung. Seine Frau hingegen umarmte mich sofort herzlich und servierte etwas Hochprozentiges, um auf meinen Erfolg anzustoßen.

Eine halbe Stunde Smalltalk später machte ich mich auf den Heimweg. Die Schnäpse zeigten deutlich ihre Wirkung, besonders bei meinem Professor. Mrs. Stronehaven nahm ihm den Letzten wieder aus der Hand: »Barclay, mein Lieber, ich glaube, den trinken wir ein andermal.« Sie strich dabei liebevoll über seinen Kopf. Ein Anblick, den ich bei einer Mutter mit ihrem Kind erwartet hätte.

Sie hat die Hosen an. Eindeutig! Bei diesem Gedanken huschte mir unweigerlich ein Grinsen durchs Gesicht.

Die Stadt lag in dunkelste Nacht eingehüllt, nur einige der Straßenlaternen flackerten gelegentlich unruhig auf. »Das war ein wirklich schöner Abend«, seufzte ich vor mich hin, als ein Auto rücksichtslos durch eine große Pfütze neben mir fuhr.

»Mistkerl!«, brüllte ich und sprang zeitgleich einen riesigen Satz zur Seite. Dann fluchte ich durchnässt und mit den Armen fuchtelnd dem Raser hinterher.

Ich weiß nicht mehr, warum ich den zweiten Wagen nicht kommen hörte, aber als ich die Straße überqueren wollte, kam dieser nur Zentimeter hinter mir zum Stehen. Die Bremsen quietschten laut auf und es roch nach verbranntem Gummi. Geschockt stand ich wie angewurzelt auf der Straße und schaute ungläubig auf die komplett abgedunkelten Scheiben des silbernen Jaguars.

Als ich mich gerade erholte, heulte der Motor erneut auf. Das Fahrzeug bewegte sich nun direkt auf mich zu. Wie automatisch reagierte ich mit einem Schritt zurück. Dann wiederholte mein Gegenüber dieses ungleiche Spiel. Nun bekam ich es langsam mit der Angst zu tun, gleichzeitig stieg auch Zorn in mir auf.

»Hey, noch einmal und...«, zischte ich und wollte noch anfügen: »…ich hol dich aus deiner Karre raus«, aber entschied mich lieber fürs Laufen, als der Wagen wiederum Jagd auf mich machte.

Ich rannte die Straße hinunter, dabei brach der Absatz meines linken Schuhs ab. Unbeeindruckt lief ich weiter und weiter. Der Wagen donnerte mir hinterher, er gab Vollgas und in den Kurven jammerten seine Reifen erbärmlich. Dicht blieb er mir auf den Fersen. Wie ein kalter Hauch im Nacken. Es gab keine Chance für mich, von der Straße wegzukommen und ihm so die Möglichkeit, auf Anschluss zu nehmen. Selbst meine läuferischen Fähigkeiten halfen mir nicht, meinen Verfolger abzuschütteln.

Da passierte es. Ich war unachtsam und gehetzt über einen erhöhten Pflasterstein gestolpert. Mitten auf der Straße kam ich zum Liegen. Mein Angreifer hatte freie Fahrt. Zum Entkommen war es zu spät. Ich zog nur noch instinktiv die Beine an, schloss die Augen und wartete auf den Aufprall. Mein Herz raste. Ich hielt die Luft an und dann...Nichts! Der Wagen wurde plötzlich langsamer und bog in die Seitenstraße rechts vor mir ab.

Ich brauchte einige Sekunden, um die neue Situation einzuschätzen, dann drehte ich mich völlig erledigt auf den Rücken.

»Was war das denn jetzt?«, fluchte ich keuchend dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Mein Knie schmerzte und erst jetzt bemerkte ich die blutende Schürfwunde, die ich mir während der Rutschpartie auf dem harten Asphalt zugezogen hatte.

***

Readwulf saß in seinem Jaguar vor dem Haus seiner Zielperson. Er beobachtete sein Opfer nun schon seit zwei Stunden aus sicherer Entfernung. Mit Mozarts Streichquartetten und einer Zigarette vertrieb er sich die Zeit. Er war eigentlich kein Raucher. Nur ab und zu gönnte er sich einen Glimmstängel, und diese Observationen waren wie geschaffen dafür.

Jetzt kam Bewegung ins Spiel, doch er kannte ihren Weg bereits. Er verfolgte Juliette bis zum Haus der Stonehavens. Sie hatte es nicht eilig und genoss die milde Abendluft.

Dann verschwand sie im Haus ihrer Abendeinladung, und Readwulf machte sich daran, seinen neuen Beobachtungsposten in Beschlag zu nehmen. Die Straße war nicht sehr belebt, sein Sichtfeld gut gewählt, daher entging ihm die feierliche Situation im Haus nicht. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen, bis man die Räumlichkeiten wechselte. Er verließ sein sicheres Versteck und schlich zur Hinterseite des Hauses. Sie stand am Fenster, als er um die Ecke bog. Gerade noch so konnte er unter dem Fenstersims in Deckung gehen. Beinahe hätte sie ihn gesehen.

Puh, knapp! Wie unprofessionell von mir. Readwulf begab sich eiligst wieder in seinen Wagen. Lange dauerte es nicht, bis sich die Haustür öffnete und eine herzliche Verabschiedungsszene zu sehen war.

Er fühlte sich zerrissen. Sollte er ihr noch Zeit geben? Wollte er wirklich wissen, warum Darius ihn beauftragt hatte? Niemals hatte er einen Auftrag hinterfragt. Er zweifelte auch jetzt nicht an der Wichtigkeit seiner Mission, trotzdem sträubte sich alles in ihm, sie zu töten.

Sie lief gerade an einer großen Pfütze vorbei, als ein Wagen unachtsam vorbeiraste. Readwulf traute seinen Augen kaum. Sie sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite.

Readwulfs Nackenhaare stellten sich auf. Er starrte sie sekundenlang wie versteinert an. „Was war das?“, zischte er. Wie hatte sie das gemacht? So sprang niemand, außer ihm!

Bisher wusste er nur, dass sie eine ambitionierte Studentin war, attraktiv auf ihn wirkte und ihr Duft bei ihm einen berauschenden Effekt hatte. Als er sie damals auf der Tanzfläche zurückließ, wollte er jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg gehen. Der Tag ihrer ersten Begegnung, erst in der U-Bahn und dann im Club, irrlichterte seitdem in seinem Kopf herum. Das sorgte bereits für jede Menge ungewohnter Fragen. Aber jetzt? Jetzt verstand er langsam. Sie konnte ähnlich gut springen wie er, und das war wirklich alles andere als normal. Readwulf verlangte es nach mehr Informationen, also startete er den Motor und fuhr langsam aus der Parklücke. Sie stand wütend gestikulierend mitten auf der Fahrbahn und fluchte dem Raser hinterher. Er ließ seinen Wagen aufheulen und bremste nur Zentimeter vor ihr scharf ab. Er wollte sie provozieren, ja herausfordern, und hoffte, so mehr über sie zu erfahren.

Erst reagierte sie nicht wie erwartet, daher wiederholte er seinen Angriff noch zweimal, bevor sie blitzschnell auswich und weglief. Wie eine Wildkatze rannte sie ihm davon. Sie lief in ähnlicher Geschwindigkeit, wie er selbst laufen konnte. Natürlich war er etwas schneller, aber selbst mitanzusehen, wie unfassbar dynamisch diese Gangart auf andere wirken musste, war faszinierend für ihn. Plötzlich kam sie ins Straucheln und fiel. Readwulf bemerkte erst jetzt, wie gebannt und nah er ihr auf den Fersen war. Er bremste stark ab, behielt aber die Kontrolle über seinen Wagen und bog rechts vor ihr in eine Seitenstraße ab. Berauscht über die Geschehnisse und neuen Erkenntnisse folgte er der Straßenführung. Sein Kopf arbeitete schnell, sein Puls war beschleunigt und seine Hände umklammerten krampfhaft das Lenkrad.

Der einzig klare Gedanke war: Ich bin nicht der Einzige. Es gibt noch andere, die so sind…wie ich!

***

Versteinert kauerte ich auf dem kalten, nassen Asphalt. Ich versuchte, meine Glieder zu spüren und die Oberhand über meinen erstarrten Körper zu bekommen. Der Schock saß tief. Wollte der mich umbringen? Wieso passierte mir das? Ich stand schwankend auf. Mein Knie schmerzte fürchterlich und doch humpelte ich weiter nach Hause.

Daheim angekommen verarztete ich mich gerade selbst im Bad, als Cloé meine Not bemerkte. Wie eine gelernte Krankenschwester kümmerte sie sich aufopfernd um meine Wunde.

»Ich glaube, das ist geprellt. Wenn du Pech hast, ist ein Band gerissen«, bemerkte sie, als sie weiterfragend mein Bein untersuchte. »Wie siehst du eigentlich aus? Was ist denn überhaupt passiert?«

Ich reagierte nicht.

Sie legte mir einen sehr professionellen Verband an und holte einen Kühlakku aus der Küche.

»Nun sag schon!«, drängte sie erneut.

»Jemand hat mich verfolgt und fast überfahren. Ich bin weggerannt, aber dann gestolpert und mitten auf der Straße liegen geblieben. Ich dachte schon, das war es jetzt, aber der Wagen ist plötzlich abgebogen und verschwand.«

Stumm sah sie mir wachsam in die Augen, daher fügte ich noch hinzu: »Ich hab mir das nicht eingebildet, wirklich nicht!«

Zu meinem Leidwesen ging Cloé wieder einmal nicht auf mich ein. Im Gegenteil, wie aus dem Nichts kam: »Und was war nun mit deinem Schüssel? Wie bist du um Himmelswillen durch die verschlossene Wohnungstür gekommen?«

»Ähm…ich…« Überrumpelt von diesem plötzlichen Angriff fiel mir meine geniale Idee mit dem Zweitschlüssel im Blumenkasten wieder ein. Ich wollte nicht mehr lügen, das hatte ich so satt. Zu gern hätte ich Cloé in diesem Augenblick alles über mich erzählt. Von der Verfolgungsjagd vom Club nach Hause, dass mir allmählich Wirklichkeit und Wahnvorstellungen nicht mehr unterscheiden konnte. Ich hätte auch nicht ausgelassen, dass ich besonders schnell laufen konnte und meine Sprungkünste enorm waren. Dass ich für alles selbst keine Erklärung hatte und damit schon seit immer leben musste, ohne Informationen zu bekommen. Dad sprach ja nicht mit mir und Mom war tot. Wen hätte ich also fragen sollen? Für medizinische Untersuchungen fehlte mir bisher der Mut. Ich verspürte große Angst, am Ende als Versuchskaninchen im Labor zu enden. Insgeheim war der Job bei Dr. Nail die Hoffnung, endlich Antworten zu finden, die mir meine anormale Existenz erklären würden.

All das verkniff ich mir. Wie hätte ich begreiflich machen können, was ich selbst nicht verstand?

Cloé war mit der Zweitschlüsselerklärung scheinbar zufrieden, griff mir jedoch wieder temperaturfühlend an die Stirn.

»Ich hab nichts!«

Sie fragte nicht weiter nach, ging aber auch nicht auf meine Unfallgeschichte von heute Nacht ein. Sie schaute mich nur wieder studierend an. Dann erklärte sie cool: »Kommst du jetzt allein zu Recht? Ich bin ziemlich müde und würde mich gern in mein Zimmer zurückziehen!« Ihr Verhalten war sehr seltsam und prompt hatte ich den Eindruck, dass sie mir doch nicht glaubte.

»Alles okay, ich gehe auch gleich schlafen. Gute Nacht...und hey, danke noch mal!«

Sie verschwand in ihrem Zimmer.

Am nächsten Tag kam ich bereits mittags von der Uni heim. Zwei meiner Kurse waren ausgefallen. Cloé war noch nicht zu Hause. Das Laufen fiel mir nicht mehr schwer. Ja, ich merkte kaum noch etwas von meinem Sturz. Trotzdem wollte ich noch einmal den Verband wechseln und nach der Wunde schauen. Als ich im Badezimmer die Kompresse entfernte und vom Schorf nur noch eine kleine rote Stelle zu sehen war, lies ich den Mull fallen. »Das gibt es doch nicht!«, stotterte ich. Ich hatte das Gefühl, meine Fähigkeiten würden sich in letzter Zeit deutlich verstärken. Dass jetzt aber noch etwas Neues hinzu kam, ließ mich erschaudern, und ein wenig Angst kam in mir auf.

Ich will das nicht mehr! Wann hört das endlich auf? Hört das überhaupt jemals auf?

Gut! Zugegeben, schneller heilende Wunden waren nicht das Schlechteste, aber wieder so ein Wunder, das ich vor allen anderen verbergen musste. Ungläubig schaute ich auf den blassen Fleck an meinem Knie, da kam mir ein anderer Gedanke. Vielleicht war das alles nur meiner Einfälligkeit entsprungen? Vielleicht wies das auf einen ersten schizophrenen Schub hin und ich schaute bereits tief in den schwarzen Abgrund der geistigen Umnachtung?

Durcheinander und selbstmitleidig ging ich in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ruhe und ein wenig die Augen zu schließen, war alles was ich wollte.

»Alles wird gut, Jules«, raunte ich im Halbschlaf. Dann entschwand ich ins Land der Träume.

Ich fantasierte bereits seit einigen Nächten von der seltsamen Lichtung, von dem faszinierenden Mann. Erneut trafen wir uns im Wald. Er war in Schwarz und ich in Grün gekleidet. Alles war so klar erkennbar, nur sein Gesicht nicht.

Diesmal teilte eine schier endlos hohe Mauer aus dicken Glasbausteinen die Lichtung in zwei Hälften. Er stand auf der einen, ich auf der anderen Seite. Mit den Fingerkuppen berührte ich die Wand. Sie war kalt und glatt. Er tat es mir gleich und dann kratzte er mit dem Nagel über die eisige Fläche.

Instinktiv presste ich die Hände auf meine Ohren, als mir klar wurde, wie still es hier war. Außer einem dumpfen Hallen erreichte mich kein Laut.

Er gestikulierte mit den Händen und deutete nach oben. Ich schüttelte den Kopf, denn ich verstand nicht was er mir sagen wollte. Einen Schritt trat er nach vorn, ganz nah an die Mauer und legte seinen Handrücken auf. Als seine Fingernägel sich zu spitzen Krallen verformten traute ich meinen Augen nicht. Gefesselt starrte ich ihn an. Er nickte mir zu und da begriff ich. Ich hob die Hände und wartete darauf, dass auch meine Nägel sich verändern würden. Nichts passierte!

Er schüttelte den Kopf, sein Zeigefinger legte sich auf seine Schläfe und verweilte dort. Dann nickte er.

Ich versuchte es erneut und schloss dabei die Augen. Die Vorstellung von wachsenden Nägel erschien mir jedoch zu seltsam. Das konnte nicht funktionieren. Oder doch?

Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete ich die hässlichen Klauen und ich hoffte inständig, dass das kein Dauerzustand werden würde. Traum hin oder her, alles fühlte sich hier so real an.

Er stieß seine Hände in die Eiswand und kletterte elegant zwei Meter nach oben, dann stoppte er. Ich ahmte ihm auf meiner Seite in gleiche Höhe nach und dann gab ich Gas. Diesmal sollte er mir folgen.

Meine Aktion war waghalsig und atemraubend. Ich war vom Tempo wie berauscht. Die Mauer ragte schier unendlich bis in die Wolken. Ich blickte mich um und griff unachtsam daneben.

Mein freier Fall wurde plötzlich von seiner Stimme begleitet: »Luftkissen!«

Ich schloss die Augen und wartete auf den harten Aufprall, doch ich landete weich und unbeschadet.

Mein Herz sprang fast aus meiner Brust. Ich wagte nicht die Augen zu öffnen. Meine Hände fühlten den flatternden Stoff unter mir. Einen Sekundenbruchteil später spürte ich, wie er mich in seine Arme nahm und an sich presste.

Bitte, bitte lieber Gott - lass diesen Traum von Mann noch da sein, wenn ich meine Augen öffne.

Die Geschichte fand diesmal kein abruptes Ende. Sonst wachte ich in solchen Moment auf.

Ich blinzelte mit den Lidern und langsam wurde sein Gesicht deutlich erkennbar. »Du?«, schrie ich bis ins Mark erschrocken, als mich der mysteriöse Kerl lächelnd zuzwinkerte. Mit allem hatte ich gerechnet, mir gewünscht, endlich zu wissen, wer er war. Und dann so eine Enttäuschung.

»Das darf nicht sein«, kreischte ich, doch diesmal war ich bereits wach und wieder zurück in meinem Zimmer.

Wow! Ich hab seinen Geruch noch in der Nase.

Adrenalin schoss durch meine Adern, und ich war sofort von Null auf Hundert. Getrieben von Koffeinlust öffnete ich die Zimmertür und fragte laut den Flur hinunter: »Cloé, willst du einen Kaffee mit mir trinken?«

»Danke, hab schon einen. Komm, ich will dir jemanden vorstellen.«

Ich stutzte. Der so vertraute Duft kam nicht aus meinem Traum. Er war hier! In meiner Wohnung! Vermutlich hatte ich deshalb meinen Traummann so deutlich in ihm erkannt. Der Geruch wurde immer intensiver, je näher ich der Küche kam. Da saß er! Ich konnte es nicht glauben. Der Typ wirkte entspannt, hockte an unserem Küchentisch mit einer Kaffeetasse in der Hand.

Irritiert starrte ich ihn an. Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab, stand auf und kam mir entgegen.

»Mein Name ist Readwulf, ich glaube wir sind uns bereits zweimal begegnet.«

Cloé nickte und schmunzelte ihn an: »Das ist Juliette Pickering, meine Mitbewohnerin.«

Ich wollte ihm aus reiner Höflichkeit die Hand reichen, da ergriff er sie und verblüffte mich mit einem Handkuss, der an eine Verbeugung gekoppelt war.

Wie schnulzig, altmodisch. Was für ein Schleimer.

Ich zog meine Hand sofort wieder weg. »Woher kennt ihr euch?«

»Cloé ist meine Cousine.«

Nie im Leben! Die Wahrheit würde mir jetzt bestimmt keiner von beiden sagen, daher entschied ich, mir Cloé später zu schnappen und sie auszuquetschen, bis ich eine vernünftigere Erklärung bekäme. Ich kochte innerlich, denn die Situation stank bis zum Himmel. Das konnte kein Zufall sein.

»Na, dann will ich mal nicht weiter stören.« Ich verließ auf dem Absatz wendend die Küche und stürmte wütend zurück in mein Zimmer. Ich bekam es gerade noch hin, die Tür nicht komplett zufliegen zu lassen, und warf mich vorwärts wieder aufs Bett. Den Kopf in ein Kissen gepresst schimpfte ich los: »Was bildet der sich ein? Wie dreist muss man sein, auch noch in meine Wohnung zu kommen? So ein arroganter Schnösel. Zum Kotzen diese aufgesetzte Art!«

Ich war wahnsinnig geladen, und diese belämmerte Kuh Cloé macht da auch noch mit. Bestimmt hatten die Zwei sich schon ausführlich über mich lustig gemacht. War das jetzt Verfolgungswahn?

Wie soll man da nicht schizophren werden? Verdammt!

Ich verstand erneut gar nichts mehr und im selben Moment schoss mir wieder einmal Wasser in die Augen, diesmal jedoch aus purer Wut. Am liebsten hätte ich losgeschrien, auch vor lauter Ärger über mich selbst. Ich hatte es nicht besser verdient, wie konnte ich nur so naiv sein. Ich kannte sie erst ein paar Wochen und weiß eigentlich nichts von ihr.

Ich bin so blöd, dass es nervt.

Bisher hatte ich nicht mal mit Nathan oder Tess über meine Vergangenheit gesprochen. Die beiden kannte ich ebenfalls erst ein dreiviertel Jahr. Sie standen mir inzwischen viel näher und doch vergaß ich meine Vorsicht bei ihnen nie.

Ausgerechnet Cloé! Aber das war gar nicht der Auslöser für meine extreme Wut. Wohl eher die Tatsache, dass ich ihr fast alles über mich und meine unnatürliche Gabe, oder besser, meinen Fluch anvertraut hätte. Sie brachte mich fast so weit, wirklich ALLES auszuplaudern und jetzt schoss mir nur noch durch den Kopf: Vorsicht ist besser, als Nachsicht. Leider bestätigte mich diese traurige Tatsache wieder mal darin, allein auf dieser Welt zu sein.

Ich zog mir schnell die alten Joggingsachen über und beeilte mich, aus der auf einmal viel zu engen Wohnung herauszukommen.

»Wohin willst du jetzt?«, rief Cloé.

»In den Wald Laufen«, zischte ich in die Küche.

Ich rannte einen Marathon in weniger als einer Dreiviertelstunde, bevor ich wieder klar denken konnte. So viel Wut hatte ich schon lange nicht mehr und schon gar nicht auf mich selbst. Und jetzt, mit etwas Abstand betrachtet, fand ich meinen übertriebenen Abgang peinlich.

***

Sein Auto stoppte abrupt und er zog sein Handy aus der Jackentasche. Er wählte eilig eine Nummer und am anderen Ende der Leitung meldete sich nach zweimaligem Klingeln eine helle Frauenstimme: »Winter. Hallo?«

»Cloé wir müssen uns treffen. Unbedingt!«

»Bist du in London? Was ist passiert?«

»Sie kann...Sie hat...Wie soll ich dir das jetzt so schnell erklären? Sie ist wie ich!«

»Wer?«

»Juliette Pickering!«

»Es war einen Moment still in der Leitung, bevor sie antwortete: »Bei mir. Morgen Nachmittag gegen drei Uhr ist sie an der Uni, aber das weißt du sicherlich bereits, oder?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde das Gespräch von ihr abgebrochen.

In dieser Nacht lag er stundenlang wach und versuchte, das für ihn Unfassbare richtig einzuordnen. Darius hatte ihn aufgezogen und ihm erklärt, er sei ein Findelkind, das eines Tages ohne jede Nachricht auf den Stufen vor dem Kloster lag. Niemand wusste, wer ihn dort abgelegt hatte, und folglich konnte sich auch keiner der Ordensbrüder erklären, womit seine Andersartigkeit zu erklären war. Seine Fähigkeiten hielt man im Kloster für eine Gottesgabe. Die Brüder sahen in ihm einen neuen Messias, dessen Geheimnis man für alle Zeiten bewahren müsste. Wenn er also der Auserwählte war, wer war dann sie?

Am nächsten Tag schellte er wie vereinbart um drei Uhr und Cloé öffnete die Wohnungstür. Readwulf kam eilig die Treppe hinauf und umarmte sie.

»Es ist schön, dich zu sehen, auch wenn die Umstände weniger erfreulich sind.«

»Du musst mir alles haarklein erzählen«

Er nickte bestätigend und setzte sich an den Küchentisch. Er schilderte seine Erlebnisse der letzten Nacht. Dann fragte er: »Wenn es noch jemanden wie mich gibt und dein Onkel mich genau auf diese Person angesetzt hat, weiß er dann auch von ihren Fähigkeiten?«

»Wenn er es weiß, erklärt das auch den viel zu großen Zufall - Darius hat mir ihre Annonce vermittelt!«

Ungläubig schauten sich beide an.

»Dann hat er mich all die Jahre belogen!«

Zorn und Enttäuschung wüteten in Readwulfs Gesicht.

»Du musst mit ihm reden. Vielleicht gibt es für all das eine plausible Erklärung.«

Readwulf schwieg. Darius war ihr Onkel und bisher wie ein Vater für ihn gewesen. Wenigstens hatte er das bis zu diesem Moment gedacht.

Schweigend saßen beide in der Küche über ihrem Kaffee. Dass Jules in ihrem Zimmer geschlafen hatte und plötzlich den Flur betrat, bemerkten sie zu spät. Alles in der Wohnung roch intensiv nach ihr, daher achtete er nicht weiter darauf, als er an ihrem Zimmer vorbei in die Küche lief. Als die Frage in die Küche hallte: »Cloé willst du einen Kaffee mit mir trinken?«, konnte Readwulf nicht mehr verschwinden. Cloé zuckte mit den Schultern. Sie hatte nichts von Jules ausgefallenen Vorlesungen gewusst und war fest davon überzeugt, allein in der Wohnung zu sein, als sie von der Arbeit gegen halb drei nach Hause gekommen war. Sie stimmten sich kurz mit Blicken ab und entschieden sich für die Variante `totale Konfrontation’ statt `geordneter Rückzug’.

Readwulf war nun sehr gespannt auf Juliettes Reaktion und sie enttäuschte ihn keinesfalls. Mit seiner vornehmen Art und dieser überlegenen Haltung hatte er sie nach nur vier Sätzen wieder aus der Küche vertrieben. Den Handkuss hingegen genoss er in vollen Zügen. Als seine Lippen sanft ihren Handrücken streiften, hatte er Mühe, sich zurückzuhalten. Er war froh, dass es ihr nicht ebenso erging und sie sich stattdessen seiner schnellstens entzog. Mit jeder Begegnung wirkte sie auf ihn einladender. Wie ein saftiges Steak, welches er nicht schnell genug verschlingen konnte. Gut, dieser Vergleich hinkte etwas, denn mit banalem Fleisch wollte er sie nicht vergleichen.

Cloé beobachtete das Schauspiel aus sicherer Entfernung.

Sie kannte Readwulf genau, wusste zwar nicht viel über die dubiosen Aufträge, die er von ihrem Onkel erhielt, aber eines wusste sie: Er führte seine Jobs immer aus!

»Bitte Readwulf, sprich mit Darius und bring in Erfahrung, was an Juliette so gefährlich ist, dass er dich dafür braucht.«

Verblüfft über Cloés rasche Kombinationsfähigkeit blickte er auf: »Das werde ich! Halt du hier die Stellung, wir bleiben in Kontakt.«

Mit einer kurzen Umarmung verabschiedete er sich und verschwand.

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Blutlegende

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