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Lieber ein Anfang mit Schrecken

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Opas Fallschirm öffnete sich nicht, wehte nur wie ein fadenscheiniges Fähnchen hinter ihm her. »Das war’s«, dachte ich laut, aber wenigstens hatte ich noch Funkkontakt.

»Was ist nun mit dem Wohnwagen?«, brüllte ich gegen den Wind an, der seit Tagen von Norden hereinblies.

»Kannste haben«, rauschte es aus dem Funkgerät, und Opas Stimme klang wie die eines Stummfilmschauspielers, der zum ersten Mal Gedichte über den Volksempfänger verbreitet.

»Und der Zapaca-Rum?«

»Kannste haben.« Die Flasche war genau so alt wie Opa, und wenn das hier so weiterging, dann würde sie morgen erstmals älter sein als er.

»Und Taleesha?«, schrie ich völlig panisch ins Mikrofon, denn jetzt konnte ich schon die angstvollen Fürze hören, die der alte Mann auf dem Weg nach unten fliegen ließ.

»Kannste«, war das letzte bedeutungsschwere Wort, das mein Opa von sich gab. In diesem Augenblick erfasste ihn eine Bö, und er wurde noch einmal in die Höhe gerissen. »Juhuu«, jubelte er, während ihn der kalte Morgenwind über die Grenze nach La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios trieb.

Ich kannte den Ort, hatte mich dort vor der Kirche gleichen Namens ein paar Tage zuvor ausgekotzt, und alle Einwohner hatten mir dabei zugesehen. Das ist der einzige Ort auf der Welt, der weniger Einwohner hat als Buchstaben im Ortsnamen, behaupte ich jetzt mal so. Ich hätte Opa dieselbe Aufmerksamkeit für seinen Touch-down gewünscht, aber da war nur ein Tohono O’Odham-Indianer, der sich gerade zur Entleerung seines Darms hinter einen Chaparralbusch zurückgezogen hatte, während ihm Opa vor die Füße fiel. Mir wäre es lieber, ich könnte einfach sagen, er sei ein Navajo gewesen oder ein Hopi, weil ich mir die Namen besser merken kann, aber ich will ja bei der Wahrheit bleiben, gerade in den Details. Ich musste still in mich hineinlachen, weil ich schon den ganzen Morgen Angst gehabt hatte, dass er beim Landen auf einem dieser Säulenkaktusse niederkommt (kann man das so sagen: dass er auf einem Säulenkaktus niederkommt?), aber wenigstens das hatte er ja vermeiden können. Ich drehte mich einmal um mich selbst, um sicherzustellen, dass ihn niemand sonst bei seinem Sturzflug beobachtet hatte, aber es war einsam hier unten, Arizona ist so verdammt leer, und der Indianer, der sich eine gute Meile entfernt die Hose hochzog, ohne Opa dabei aus den Augen zu lassen, zählte nicht, denn da, wo er war, war schon Mexiko.

Das Flugzeug, aus dem der alte Herr ausgestiegen war, hatte sich längst laut schnurrend entfernt und war nur noch ein Punkt mit Kondensationsschweif über den Ajo Mountains. Ozzy Montero und seine altersschwache Piper waren auf dem Weg zurück nach Why, wo Taleesha im Wohnwagen auf uns wartete. Hoffentlich wurde es ihr nicht zu langweilig, dann übertrieb sie es nämlich gern, und wenn sie zu viel geraucht hatte, konnte sie unberechenbar werden, auch schon am frühen Morgen. Opa kannte sie noch nicht lange, die beiden waren so was von verrückt aufeinander, das war schon manchmal peinlich - ich meine, er war 62 und sie, ich weiß nicht genau: fünfunddreißig? dreißig?

Die Sonne stand inzwischen über den Ajo Mountains und ihr Licht kroch die Bergflanken gegenüber hinunter ins Tal. Außer mir und dem Indianer hatte niemand Opas letzte Kapriole miterlebt, ich dachte nach, was ich tun konnte, um dem Ganzen einen versöhnlichen Schluss zu geben. Von hier bis dorthin, wo er jetzt lag, hatte ich freien Blick, aber keine freie Fahrt, denn das war sehr ungemütliches Gelände hier am Anfang der Sonora-Wüste. Man musste verdammt aufpassen, sobald man die schmale unbefestigte Straße nach Lukeville verlassen hatte, und dann standen auch noch überall diese Kakteen und trockenen Büsche rum. Aber, was soll ich sagen: Er war mein Opa, er war der Mann, der mir beigebracht hat, wie man Mundharmonika spielt, wie man sich durchsetzt, wenn es um eine Handvoll Kronenscheine geht, der mir gezeigt hat, warum es sich nicht lohnt, Angst zu haben. Wie hat er immer gesagt? Du brauchst nur ein Prozent mehr Mut als Angst, dann kann dir alles gelingen. Und das mit der Prozentrechnung hat er mir auch beigebracht. Also habe ich mich in den himmelblauen Travelette gesetzt, den Opa zusammen mit dem Wohnwagen in Iowa gekauft hatte, und bin losgebrettert Richtung Süden.

Der Kothaufen des Indianers dampfte noch in der kühlen Morgenluft, aber Opa begann schon kalt zu werden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er gleich die Augen öffnen und auf die Füße springen würde. ›Buhuu! Hast du dir etwa Sorgen gemacht? Nun nimm mir doch endlich den verdammten Fallschirmsack vom Rücken, das verfluchte Ding hatte seine eigenen Pläne.‹ Ich blieb ein paar Minuten bei ihm stehen, weil ich immer noch darauf wartete, dass er sich etwas für mich einfallen lassen würde. Aber nein, von seiner Seite kam nichts mehr. Also holte ich den Klappspaten von der Ladefläche und stieß ihn in den trocknen Boden.

* 11. November 1899 zu Nikolaiken (Masuren), † 16. August 1961 zu La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios. Das passt auf keinen Grabstein, dachte ich, während ich mich abmühte, ein Loch in die Wüste zu graben, von dem, was der Steinmetz allein für die Inschrift berechnet hätte, ganz zu schweigen.

Als ich schließlich mit meiner Arbeit zu einem erfolgreichen Ende kam – six feet deep, six feet long, aber für die Tiefe konnte ich nicht garantieren – hatte der Schweiß mein Hemd auf dem Rücken festgeklebt. Ich warf den Spaten über den Rand des Lochs und für eine halbe Sekunde stand das Spatenblatt so, dass es die Sonne auffing und den Strahl auf mein Gesicht lenkte. »Schon klar, Opa«, sagte ich, »für dich immer«. Ich zog mich hoch und krabbelte aus dem Loch. Da standen sie, siebzehn Männer, Frauen und Kinder, bereit, meinem Opa die letzte Ehre zu erweisen. Ein alter Mann mit einem prächtigen Pigalle-Sombrero trat vor, schüttelte mir die Hand und sagte etwas auf Spanisch, was ich nicht verstand. Vielleicht war es ja auch – wie heißt das? – Tohono O’Odhamisch, wer weiß das schon. Dann gab der mit dem Sombrero zwei Männern einen Wink, die packten den Körper und trugen ihn zum Grab. »¡Momento!« rief ich dazwischen.

Sie setzten ihn wieder ab, seinen Rücken gegen die Beine eines der beiden gelehnt – he, dachte ich, da sitzt du und schaust bei deiner eigenen Beerdigung zu. Ich nahm seine Brieftasche aus der Jacke, seine Zigarren und die kleine Echo Harp von Hohner, die ich ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte, die hatte er immer bei sich. Und dann war da noch dieser Zettel, ein Ausriss von einem Briefumschlag, noch die Briefmarken in einer Ecke, da stand was von Hand Geschriebenes, aber das konnte ich so schnell nicht entziffern, also habe ich den Zettel in seine Brieftasche gesteckt und alles zusammen in meinen Rucksack. Inzwischen hatten die beiden Trauergäste Opa in sein Grab gerollt, und ich brach ein paar der gelben Blüten von dem Chaparralstrauch, neben dem er gelandet war, um sie auf ihn zu verstreuen. Später habe ich gelesen, dass die Indianer die Blätter als Heilmittel verwenden bei Lebererkrankung, Harnröhrenentzündung, Magenbeschwerden, Hämorrhoiden und Bluthochdruck – passt ja, dachte ich.

Als das Loch wieder gefüllt war, legten die Jungs ein paar schwere Steine auf den Erdhaufen, ich weiß nicht, ob es die Kojoten vom Buddeln abhalten sollte oder ein alter indianischer Brauch war, ähnlich wie die Juden Steine auf die Gräber legen oder die Tibetaner auf den Bergpässen im Himalaja kleine Steinhügel aufschichten. Ich gab jedem Einwohner von La Buena Vista-und-so-weiter die Hand, stieg in den Pick-up und ließ Opa zurück. Er hatte übrigens Johann Friedrich Wuttke von Trettow geheißen, was ja für sich schon zu lang ist für eine Grabinschrift.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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