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Der neue Flur

Lächelnd betrete ich meine neue Wohnung. Der Umzug ist gut verlaufen. Problemlos. Ein paar Menschen haben in ein paar Stunden nützliche Dinge transportiert und solche, an denen mir etwas liegt. Inzwischen sind alle gegangen, allein erkunde ich die noch wenig vertraute Umgebung. Den sechs Schritte langen Flur säumt eine Ballettstange. Auf der Reise vom Wohnzimmer in die Küche umfasst meine linke Hand das runde, raue Holz. „Linkerhand finden sie das geräumige Schlafzimmer, drei Schritte weiter auf ihrer rechten Seite erstreckt sich ein ozeanfarbenes Badezimmer mit Duschwanne.“ Welche Farbe hat noch gleich der Ozean?

Die Küche bietet ausreichend Raum für einen Tisch und zwei Stühle. Durch eine geöffnete Glastür betrete ich den Balkon. Er erstreckt sich über einen Meter weit in den mit Vogelstimmen gefüllten Innenhof. Auf dem Rückweg greift meine rechte Hand nach dem abgerundeten Holz. Es endet an der Tür zum Schlafzimmer. Vier Schritte weiter – ich befinde mich im Wohnzimmer - trifft mich ein wärmendes Sonnenlichtbündel. Ich finde einen Stuhl, auf den ich mich setze.

Am Winterabend meiner ersten Wohnungsbesichtigung schneit es stark. Der Weg zu ihr führt mich durch eine stille Welt voller Gedanken an Kindertage. Das Haus begegnet mir freundlich. Ich fühle mich in meinem zukünftigen Zuhause sehr behaglich. Meine Vormieterin erzählt mir leise Schneegeschichten. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Rücken. Ihre Stimme klingt sanft und beruhigend, gern würde ich die Nacht mit ihr verbringen.

Das Wohnzimmer erscheint mir riesig. Es hallt darin wider, sobald ich Geräusche mache. Wahrscheinlich, so denke ich in meinem Kopf, wahrscheinlich kommt es mir nur so geräumig vor, weil ich zuvor ein winziges Zimmer bewohnte, durch das Busse und Lastwagen direkt hindurch fuhren: Lärm und Vibrationen verbreitend. An die Geräusche gewöhnte ich mich bald. Diese dumpfen Vibrationen jedoch, die einem durch alle Knochen fuhren, einen nachts aus den Träumen rissen und die vor einiger Zeit meine Nachbarin töteten, sie vertrieben mich letztlich. Ich bin natürlich nicht vollkommen sicher, dass die alte Frau von den Vibrationen getötet wurde. Ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich gestorben ist. Aber wenn, so vermute ich, dann sicher an diesen unglaublich ungesunden Vibrationen.

Die neue Wohnung hingegen ist weder zu klein, noch ist sie in irgendeiner Weise, die ich wahrnehmen würde, unangenehm. Keine Vibrationen. Vor dem Haus führt eine schmale Straße entlang, in die hinein sich nur selten ein Lastwagen verirrt. Dies ist der ideale Ort für mein Vorhaben. Hier wird es in angemessenem Rahmen geschehen. Ich wähne mich in einer Umgebung voller Harmonie. Jede meiner Bewegungen geschieht entlang eines runden, glatten, warmen Holzkörpers, der zwischen den Räumen meiner neuen Welt eine Verbindung herstellt.

Während ich hier sitze, auf diesem Stuhl in der Geborgenheit meines Wohnzimmers, sehe ich mich auf einer Nussschale inmitten des Indischen Ozeans. Winzige, salzige Wellen treffen auf schweres, festes Holz und hinterlassen glockenhelle Töne. Bevor die Wellen vergehen, werfen sie das Licht der Sonne in meine Augen: grell, gleißend. Worte für eine Sinneswahrnehmung, die auf dem unscheinbaren Fischkutter an jenem Tag durchaus schmerzhaft gewesen sein mochte, die mir jedoch nun, da sie als Erinnerung wiederkehrt, ein jede Faser meines Körpers durchdringendes Wohlbehagen schenkt.

In der Nacht vernehme ich das Glucksen der geschmeidigen, verspielten Wellen noch deutlicher als am Tage. Wir angeln in der Dunkelheit, nur ein paar Taschenlampen durchbrechen sie manchmal. Unsere mit Fischabfällen beköderten Haken stellen, an lange Schnüre geknotet, den Fischen des Korallenriffs nach. Wir bewegen die Köder, indem wir die Angelschnüre durch das Wasser gleiten lassen. Auf und ab. Immer wieder. Gewitter grünlichgelber Lichtreflexe entladen sich inmitten eines schwarzen Ozeans. Sie werden von einzelligen Algen erzeugt. Mit offenem Mund staune ich über die Wunder dieser Welt. Das Leuchten entsteigt geräuschlos der vollendeten Finsternis. Unvermittelt ruckt etwas an meiner Leine. Jemand. Ein roter Zackenbarsch mit blauen Tupfen hat sich in meinen Köder verbissen. Der silberne Angelhaken steckt tief in einem stummen Maul voller scharfer Zähne. Der Fisch kämpft wild um sein Leben. Aber er verliert den Kampf, weil wir ihn essen wollen. So ist das Leben nun einmal. Und der Tod.

Während eines nächtlichen Tauchgangs beobachte ich die ehemaligen Mitbewohner des Barsches. Farbenfrohe Fische schwimmen träge zwischen sternförmigen Seelilien umher. Andere schlafen inmitten der Korallen, in einen Kokon aus Schleim gehüllt, der ihren Geruch überdecken und sie so vor den Angriffen der stets hungrigen Haie bewahren soll. Die Lebewesen erscheinen im Lichtkegel meiner Taschenlampe und sie verschwinden, sobald ich sie lösche. Mich fasziniert diese fremde Welt, in der ich schweben und sie dabei beobachten darf, wie sie funktioniert. Was kann es Schöneres geben? Meine stille Frage beantwortet sich nur einen Augenblick später: ich durchbreche die Wasseroberfläche und betrachte, auf dem Rücken treibend, Milliarden funkelnder Diamanten auf einem schwarzen Tuch aus Samt.

Wann war das geschehen? Wie war ich dorthin gelangt? Mein Zeitgefühl hat mich verlassen. Nur daran erinnere ich mich: ich habe diese Dinge zu einer Zeit gesehen, in der ich nicht allein war. Zu einer Zeit, während der ich gelebt habe. Vorher habe ich auch manchmal gelebt und auch danach, aber wirklich und dauernd am Leben war ich nur in der Zeit mit ihr gewesen.

Der Sonnenstrahl ist inzwischen fortgewandert und hat mich fröstelnd zurückgelassen. Durch die unkontrolliert über mich hereinbrechende Vergangenheit beunruhigt, will ich mich mit anderen Dingen beschäftigen. Ich ziehe es vor, den Erinnerungen zu entgehen. Nachdem ich einige Kartons geöffnet und wieder geschlossen habe, gehe ich durch die Räume der Wohnung und prägte mir alle Entfernungen genau ein. Dies wird die dominierende Beschäftigung meiner kommenden Tage sein: das Studium der wesentlichen Entfernungen.

An einem der folgenden Tage ergreift mich die Abenteuerlust und ich verlasse das Haus. Es sind vierzig Schritte bis zum Gemüsehändler, sechzig weitere und ich erreiche den Bäcker. Doch Achtung: nach dreiundvierzig Schritten habe ich eine Straße zu überqueren. So viel weiß ich bereits seit einiger Zeit. Elisa, die sanfte Vormieterin, hat mich einmal bis dorthin begleitet.

Ich erinnere mich an ihren Geruch nach frischer Wäsche und von der Wintersonne berührten Haaren. Während sie mich an ihrem Arm führt, streichelt sie (ich vermute, dies geschieht unbewusst) meine Hand. Bevor sie in den Süden zieht, erlaubt sie mir, ihr Gesicht anzusehen. Meine Hände ertasten dessen Konturen: sie berühren Haare, Augen, Nase, Ohren, Lippen und spüren auch die kleinen Fältchen, die sich bilden, wenn sie lächelt. Ihre Haut ist straff, doch auch weich und ich freue mich, dass zu ihrer Stimme passt, was ich mit meinen Fingerspitzen entdecke.

Ich kehre heim in meine Wohnung, zähle erneut die Schritte bis in die Küche und öffne die Tür zum Balkon. Ihr Rahmen besteht aus glattem, schwerem Holz. Draußen setze ich mich auf einen Hocker und lausche den Stimmen des Frühlings. Aus einer Hosentasche ziehe ich ein Päckchen mit Tabak hervor und beginne, Zigaretten zu drehen. Ich habe vor langer Zeit bereits das Rauchen aufgegeben, doch liebe ich noch immer das Gefühl sich in meinen Händen verändernder Dinge. Und ich liebe den Duft des Tabaks, wie die Befriedigung, einen Gegenstand mit meinen Händen zu erschaffen.

Ich lebe seit einigen Tagen in meinem neuen Zuhause. Ich bewege mich in ihm mittlerweile sicherer, die wichtigsten Entfernungen des täglichen Lebens habe ich vermessen und abgespeichert. Die Wohnung ist eingerichtet und ich fühle mich in ihr geborgen, behütet. Weiterhin als beunruhigend empfinde ich jedoch, dass die Erinnerungen offenbar nicht aufhören mögen, mich zu verfolgen. Während ich meine Umgebung studiere, finden zurückgelassen geglaubten Bilder den Weg in meine neue Welt. Sie erscheinen mir fremd. Entfremdet. So fremd zum Teil, dass mich ihre Fremdheit neugierig macht. Was war eigentlich geschehen?

Unerwartet treffe ich schließlich die Entscheidung, die Erinnerungen zuzulassen. Wann immer sie entstehen, werde ich sie nicht zurückweisen. Immerhin lassen die synaptischen Verschaltungen in meinem Hirn auf geheimnisvolle Weise durchaus auch schöne Gemälde erscheinen: den Abendhimmel verbrennende Sonnenuntergänge, die sich sekündlich verändernden Farben des Meeres, Unwetter prophezeiende Wolkengebirge, Gesichter des Lebens, der Liebe, des Todes; versunken geglaubte Städte, Länder, Begegnungen- wirre Bilder durchfluten seither sekündlich mein Bewusstsein.

In all dem Durcheinander erscheinen die Gesichter jener Menschen, die meine Bahn berührten. Sie bringen die größte Freude, aber auch tiefste Trauer mit sich. Nach und nach entstehen die Geschichten meines Lebens, sie breiten sich in mir aus, sie ergreifen mich, während ich hier auf meinem Balkon sitze und wohlgeformte, duftende Gebilde meine Hände verlassen. Am Horizont ziehen derweil regenschwere Gewitterwolken auf. Ich kann hören, wie sie sich aufbauen. Der im Hinterhof gefangene, behagliche Geruch des Frühlings vermag meine mit dem Gewitter aufbrandende Furcht vor der alles vernichtenden Erinnerung nur wenig zu betäuben.

Für diesen Abend habe ich genug Zigaretten gefertigt. Die hereinbrechende Nacht kündigt sich an, indem sie mir kühl und feucht unter die Kleider fährt. Ich höre den prasselnden Regen rauschen, peitschende Winde begleiten ihn. Mühsam erhebe ich mich von meinem Stuhl und strecke mich. Es ist ein reales Gefühl, meinen Körper zu spüren. Auf dem Weg in mein Schlafzimmer taste ich mich an der Holzstange entlang. Ich stellte sie mir schwarz und ebenmäßig vor. Obwohl ich deutlich die raue Oberfläche unbehandelten Holzes fühle. Es sind zehn Schritte von der Balkontür bis an mein Bett. Sechs davon werden von der Stange begleitet.

Ich lege mich auf das Bett, ohne mich vorher zu entkleiden. Noch ist mir kalt von der nahenden Nacht und dem heranbrausenden Unwetter. Wann war das gewesen, als wir einen ganzen Urlaub lang gefroren hatten? Meine Erinnerung an den Norden ist voller Wälder, Seen, Regen, Licht, Rentiere, Polarlichter und Himmel. Die Luft ist klar und riecht nach Fichtenholz, Wasser, Räucherlachs und Pilzen. Rotkappen und Pfifferlinge wachsen im tiefen Moos. Es ist August, also Hochsommer bei uns zu Hause. Der nächtliche Bodenfrost zu dieser Jahreszeit ist ungewohnt. „Was möchtest du gern essen, meine Geliebte? Ein gebratenes Barschfilet oder doch lieber den über einem betulich daher prasselnden Holzfeuer gegarten Hecht. Diesen serviere ich im Speckmantel, falls wir ein Rentier erlegen und es räuchern können. Oder magst du doch lieber ein Pfifferling - Omelette mit Eiern vom skandinavischen Birkhuhn?“

Die Pilze stammen vom Ufer eines Baches, dessen klarer Wasserkörper wie ein in immer gleicher Bewegung gefangenes Tier an unserem Zelt vorbei gurgelt. Gehe ich ein paar Meter weiter in den Wald hinein, treten die dunklen Nadelbäume beiseite und erlauben den Blick auf die glatte, schwarze Oberfläche eines ungefähr ovalen Sees. Seine Haut zerschneidend, fange ich einen Hecht mithilfe eines bunt schillernden Metallköders. Der Fisch zappelt am moosgrünen Ufer. In seinem stummen Kampf tut er ihr leid. Ich erlöse das schön gezeichnete Tier mit einem gezielten Stich meiner Taschenmesserklinge mitten in sein Herz. Sehr bald darauf liegt er vollkommen ruhig.

Einem Rentier dieses Schicksal anzutun, traue ich mir nicht zu. Ergo gare ich den Hecht ohne den in Aussicht gestellten Rentierspeck, dafür in Alufolie gewickelt, auf einem Birkenholzfeuer. Die Pilze stopfe ich dem Tier in seine zuvor sorgfältig geleerte, von Blut und Organen befreite Bauchhöhle. Der Nachtisch besteht aus Blaubeeren mit Milch. Milch ist teuer im Norden, doch die Blaubeeren sind tausendmal teurer. Jeweils zehn Beeren bezahlen wir mit einem unstillbar juckenden Mückenstich.

Während wir die Beeren und Pilze auf einem schmalen Festlandstreifen zwischen den Ufern von See und Bach sammeln, nieselt es unaufhörlich. Vermutlich aufgrund des unstillbaren Regens sind die Moskitos in diesem Teil Skandinaviens besonders zahlreich und sie fliegen, begleitet von jenem penetranten Summen, das wohl jeder Mensch fürchtet, unter die Regenjacken, auf die Socken, an die empfindlichen Stellen beim Pinkeln, um die Ohren, und alle Abwehrversuche sind beinahe noch schmerzhafter als die Mückenstiche selbst.

Am Lagerfeuer haben wir das Gefühl, die beiden einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Es stört uns wenig, dass wir das Feuerholz unserer Vorgänger benutzen, die diesen Lagerplatz vor uns entdeckt haben. Der Hecht schmeckt, hat ihr jedoch zu viele Gräten. Auch die Kombination aus Fisch, Pilzen und Zwiebeln bedarf ihrer Gewöhnung. Immerhin reift in mir das befriedigende Gefühl, das Abendessen als Jäger und Sammler zu bestreiten.

Unversehens wird es dunkel und wir müssen noch den Weg über den Waldsee, zu unserem Zelt zurücklegen. Sie sitzt vor mir und ganz vorn im Bug des Kanus brennt gelblich flackernd eine Petroleumlampe. Der See leuchtet schwarz und der Himmel und der Wald sind schwarz und die Sterne sind alle da und erleuchten uns den Weg, unterstützt von der kleinen Petroleumlampe und ich fühle mich winzig und unbeschreiblich glücklich und bald trüben wehmütige Tränen meinen Blick. Das Paddel sticht silberne Wunden in die ebene Haut des kohlefarbenen Sees. Die kleinen Wirbel kräuseln sich noch weit hinter dem Boot und ich wundere mich, dass ich in all der Dunkelheit überhaupt so weit zu sehen vermag.

Im Zelt empfängt uns ein heimeliger Geruch. Das Gemisch aus feuchter Kleidung, Autan und kaltem Rauch begleitet uns durch diese Nächte. Es ist kühl und klamm und nichts auf der Welt könnte besser sein, als sie für alle Zeit im Arm zu halten und ihren Duft zu atmen, ihre Wärme zu spüren. Ihr Haar streift mein Gesicht, wie die Erinnerung an diesen verzauberten Abend nun und hier meinen Geist streift, der sich jetzt daran erinnert, was später geschehen ist und der damals bereits ahnte, dass es enden würde. Nein, an jenem Abend wusste ich noch nicht, wie ich sie verlieren würde. In unserem magischen Zelt, zwischen Waldsee und Bach, existieren nur sie und ich und unsere Liebe und Wärme und Licht und Frieden und der alles verschlingende Aufruhr nicht enden wollenden Begehrens.

In einer abgeschiedenen Bucht baden wir im vierzehn Grad kalten Wasser der nördlichen Ostsee. Wir lieben uns im Meer, am helllichten Tag. An einem anderen Tag streiten wir uns auf der Fahrt zu einer der millionen malerischen Schäreninseln darüber, wie ein Kanu zu steuern ist. Außerdem bringt uns dieser Ausflug den größten Hecht der gesamten Reise, eine unüberschaubare Menge köstlicher Barschfilets und einen völlig überraschenden Regenschauer, dem wir eines der lustigsten Fotos des Urlaubes verdanken. Es wird mich übrigens noch viele Jahre später wundern, welch leidenschaftliche Freude die ehemals überzeugte Tierschützerin unserem blutigen Treiben abgewinnen kann, da es fernab jeglicher Zivilisation zum Nahrungserwerb geworden ist.

Besonders intensiv blendet mich das Licht jener Tage. In dem klaren Wasser müssten wir die Fische eigentlich sehen können, sobald wir sie, am Haken um ihr Leben zappelnd, dem Tod entgegen drillen. Doch in den kräuseligen Wellen entdecke ich nur das Sonnenlicht, das sich in ihnen bricht, sehe nur dessen tausendfach gebrochene Reflexion und all die Träume aus Licht, die in ihr gefangen sind.

Wir sind in Mittelschweden angekommen. Hier erheben sich nur mehr wenige, kleinwüchsige Bäume und Sträucher. Ihre dürren, knorrigen Zweige hängen voller schwarzer Bartflechten. Nachtfröste und wilde Rentierherden begleiten uns auf unserem Weg in den Norden. Die Moore beflügeln meine Fantasie und ich frage mich oftmals, ob ihre Gedanken wohl annähernd den meinen ähneln mögen.

Wir schlagen unser Lager an einem einsamen See auf, lassen das Kanu zu Wasser und versuchen vom Boot aus, einen Fisch für das Abendessen zu angeln. Auf einer Halbinsel legen wir an und bemerken erst an Land, dass wir einem annähernd schwarzen Nerz seinen Fluchtweg versperren. Er richtet sich auf und faucht uns an. Der flauschige Kerl verteidigt mutig sein Revier gegen die scheinbar übermächtigen Eindringlinge. Wir treten einen Schritt zur Seite und geben ihm die Gelegenheit, lebend zu entkommen. Lautstark in unsere Richtung zischend, zieht sich der Marder zurück. Wir angeln von der Landzunge aus mit künstlichen Ködern. Ich würde gern einen Saibling oder wenigstens eine Regenbogenforelle fangen. Kurze Zeit später jedoch entdecken wir ein Ruderboot auf dem See und bekommen Angst, entdeckt zu werden. Wir haben uns nicht um Angelscheine gekümmert. Als wären sie zwei unschuldige Weidenruten, verstauen wir die Angeln unauffällig im Bauch unseres Kanus.

Im Schutz eines mannshohen Granitbrockens vor dem Zelt habe ich ein Feuer entfacht. Es hätte die Nacht aller Nächte werden können, hätte ich nicht aus lauter Gewohnheit und irgendeinem nichtigen Grund einen Streit vom Zaun gebrochen. Mitten zwischen zwei Tagen verlasse ich das Zelt und traue meinen Augen nicht: grüne und gelbe Gardinen werden am Himmel zu- und aufgezogen. Sie wehen im Wind, fallen herab und treiben fort, entstehen neu und ändern derweil ihre Farbe in orangerot. Ich hatte darauf gehofft, aber nicht wirklich mit ihnen gerechnet. Ich fühle mich magisch angezogen. Hypnotisiert. Ich möchte diesen märchenhaften Anblick mit ihr teilen. Aber sie liegt dort im Zelt und ist voller Zweifel. Das Wunder dieser Nacht existiert nicht für sie. Sie tut mir Leid.

Die Bilder beruhigen und stimmen mich gleichzeitig traurig. Ich stehe von meinem Bett auf und ertaste meinen Weg aus dem Schlafzimmer in die Küche. Dort setze ich mich auf einen Stuhl und lehne mich mit der linken Schulter an die warme Heizung. Ich fröstele. Vor mir auf dem Tisch sollte eine Flasche Rotwein stehen. Voller Vorfreude greife ich nach dem kühlen Glaskörper. Neben der Flasche liegt ein Korkenzieher: diese Szene erscheint mir von langer Hand vorbereitet. Ich entkorke die Flasche, rieche an der entstandenen Öffnung und trinke erfreut einen ersten Schluck. Ich mag es, meinen Wein direkt aus der Flasche zu trinken. Er stammt aus Chile und schmeckt mir. Zufrieden lehne ich mich auf dem Stuhl zurück. Ich schließe zwei sinnlose Augenlider und hoffe auf ein paar Bilder, die mich zuversichtlich zu stimmen vermögen.

Einige Tage später zelten wir an einem norwegischen Fjord. Dorschangeln an der Küste, das Wasser so klar als wäre es gar nicht vorhanden. Wir schießen Fotos von todgeweihten, trotzig um ihr kleines Leben kämpfenden Fischen an silbernen Haken und von weißkehligen Wasseramseln, die in den Stromschnellen der Bäche nach Insektenlarven tauchen. Muscheleintopf mit Zwiebeln und Weißwein im Eingang des Zeltes auf einer vom Frost gepuderten Wiese. Am Morgen schauen ein paar neugierige Kühe auf ihrem Weg zur Weide in unsere verletzliche Behausung. Wir sind sehr glücklich an diesem Morgen und ahnen, dass wir irgendwann einmal zu dritt sein werden.

Der Abend wird schrecklich kalt, jede Umarmung zu einem Akt der Lebenserhaltung. Ihre Berührungen schenken mir unmenschliche Wärme, gnadenlose Zärtlichkeit. Wie kann sie mir so etwas antun? Sie ist alles. In diesem Augenblick ist die Nähe der Welt gefangen. Ich bin überrumpelt von Liebe und Glück und Geborgenheit. Sie schenkt mir so viel mehr als alles in diesem Moment voller Wärme und Haut und Schweiß und Kälte und Hitze. Der Atem weiß, das Laken nass und kalt, klar und bunt, kalt und heiß und kalt. Die Trauer trifft mich hart, mit gnadenloser Schärfe und Klarheit.

Die Tage und Wochen verfliegen rasch. Irgendwann fange ich in einem der hellblauen Flüsse des Nordens eine halbpfündige Bachforelle. Schon lange habe ich diesen scheuen Räubern nachgestellt. Ich bin sehr stolz und wünsche mir, sie möge Anteil an meiner Freude nehmen. Ich grille den Fisch vorsichtig an einem schlanken Birkenzweig. Nach dem Essen wird ihr schlecht und sie muss sich übergeben. Sie beteuert, dass ihre Übelkeit nichts mit dem Fisch zu tun hat. Wir ahnen beide, dass es einen anderen Grund geben muss. Einen, der unsere Welt verändern wird. Als wir schließlich wieder zu Hause ankommen, können wir weder Licht noch Leichtigkeit jener Tage wiederfinden. Daheim existieren nur noch Bilder. Bilder auf Papier und Bilder im Kopf.

Ich greife nach der Flasche und durchsuche mein Hirn nach weiteren Erinnerungen. Der Wein ist warm und mild und eben so färbt er das Gefühl, das sich in mir ausbreitet.

Wir kehrten gemeinsam zurück und lebten eine Zeitlang nebeneinander her. Ich frage mich, ob ich in meinen Tagträumen Gründe finden werde. Die Gründe für ihr letztendliches Verschwinden. Kurz vor ihrem Tod sitze ich an ihrem Bett und halte ihre Hand. Sie sagt, ich trüge einen großen Teil der Verantwortung daran, was mit ihr geschehen ist.

Ich spüre das Verlangen, mich zu bewegen. Ich liebe bereits diesen langen Flur, von dem meine Schwester sagt, er sei viel zu dunkel. Das Wohnzimmer liegt still vor mir, eine Wüste ohne Sand oder Skorpione. Das nehme ich zumindest an. Der ereignislose Raum langweilt mich. Im Schlafzimmer schließe ich, wie an jedem Abend, die Fensterläden. Elisa hat panische Angst vor Gewittern, deshalb brachte sie seinerzeit zwei riesige, himmelblau gestrichene Fensterläden innen vor dem Fenster ihres Schlafzimmers an. Die Vorstellung, mich auf diese Weise vor der Welt verbergen zu können, hat mir von Anfang an gefallen. Gewitter schrecken mich nicht, ich finde sie aufregend. Aber ich habe Angst vor bösen Geistern und starken Gefühlen und vor Verantwortung und vor Frauen und Männern und vor dem Leben und dem Licht und vor Lachen, ohne zu weinen, und vor Gott und der Frage, was danach kommt.

Ich schließe die hölzernen Läden und frage mich, ob ich bereits müde genug bin, um schlafen zu können. Nein. Ich werde einen weiteren Schluck Wein trinken und vielleicht noch eine Episode meines vergangenen Lebens an mich heran lassen.

Sicher und ohne Hilfsmittel, jedoch leicht schwankend, finde ich meinen Weg durch den Flur und in die Küche. Dort riecht es nach frischem Fleisch. Ich erinnere mich, am Vormittag ein Schweineschnitzel aus dem Gefrierschrank genommen und zum Auftauen in die Spüle gelegt zu haben. Ich finde die Bratpfanne im Ofen, stelle sie auf den Herd, gebe etwas Öl hinein und stelle die Kochplatte an. Als die Wärme der sich erhitzenden Pfanne endlich mein wartendes Gesicht erreicht, lege ich das Schweineschnitzel hinein und registriere unmittelbar den anschmiegsamen Duft gebratenen Fleisches. Ich halte das Ende des Pfannenstieles in meiner rechten Hand und lache.

Für den Rest meines Lebens möchte ich in diesem Zustand verweilen. Ich bin absolut schwerelos und befinde mich fernab jeder ernsthaften Verantwortung. Ich würde diese Empfindung gern mit jemandem teilen. Es fällt mir jedoch niemand ein, der meine Gefühle hätte verstehen sollen. Und welcher Mensch versteht denn schon die Gefühle eines ganz und gar anderen?

Das Fleisch schmort in der Bratpfanne und in meinem Hirn regt sich die Assoziation eines männlichen Genitals, das sich in der Hitze versteift und aufrichtet. Der in heißem Öl brutzelnde Schweinefleischpenis wächst mir entgegen. Fett spritzt auf meine Hände und Unterarme. Ich verstreiche es mit den Handflächen und stochere mit der Gabel nach dem Schnitzel. Anders als auf den Bildern in meinem Kopf ist es deutlich geschrumpft. Außerdem beginnt es, unangenehm zu riechen. Eine enttäuschende Erfahrung. Ich hebe die Pfanne an und schiebe ihren Inhalt mithilfe eines hölzernen Pfannenwenders in den Ascheimer. Ohne spürbare Verzögerung riecht es nach angeschmortem Plastik.

Dann eben Brot. Ich schneide eine Scheibe oder etwas Ähnliches von dem Laib herunter. Sie liegt auf meinem großen Holzbrett und wartet geduldig auf ihre Entjungferung. Sie ist feucht und riecht sehr erfreulich. Die Butterdose finde ich in einem meiner neuen Regale. Ich nehme sie daraus hervor und öffne ihren vermutlich blauen Deckel. Mit dem Finger bohre ich ein Loch in das weiche Fett. Ich krümme meinen rechten Zeigefinger und hole ein paar Gramm Butter aus dem halben Pfund hervor. Langsam verstreiche ich das gefügige Fett mit meiner gesamten rechten Hand auf dem feuchten Stück Brot. Dabei bekomme ich eine Erektion. Wie lange ist das eigentlich her, mein letzter Fick? Ich nehme die derart besudelte Scheibe Brot in meine rechte Hand und balle die zu einer Faust. Wieder spüre ich meinen harten Schwanz in der Hose. Ich drücke und knete das Stück Brot und stopfte es mir in den Mund. Nichts an diesem Augenblick vermag mich zu befriedigen. Ich weine und dann lache ich, weil ich weinen muss und gar nicht anders kann.

unschuldig, wenn du träumst

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