Читать книгу Römerinnen: Zwei Novellen - Стендаль (Мари-Анри Бейль), Stendhal - Страница 1

Vanina Vanini

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Es war an einem Frühlingsabend des Jahres 1829. Ganz Rom war in Bewegung. Der Duca di Bracciano (der berühmte Bankier Torlonia) gab in seinem neuen Palazzo an der Piazza di Venezia einen Ball. Was die Künste Italiens, was der Luxus von Paris und London an Prunk und Pracht nur aufbieten konnten, hatte zum Schmucke des Palastes beigetragen. Britanniens kühle blonde Schönheiten waren ob der Ehre der Einladung in Wallung geraten. Sie kamen in Menge, und die schönsten Römerinnen machten ihnen den Ruhm ihrer Schönheit streitig.

So war auch eine junge Dame in Begleitung ihres Vaters erschienen, der man ihre römische Herkunft auf den ersten Blick an ihrem ebenholzschwarzen Haar und ihren flammenden Augen ansah. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich ihr zu. Aus jeder ihrer Bewegungen sprach seltsamer Hochmut.

Angesichts all des Glanzes waren die anwesenden Ausländer sichtlich verblüfft. »Kein König in ganz Europa gibt solch ein Fest!« sagten sie.

Die europäischen Potentaten haben aber auch keine Paläste in römischer Architektur, und sie müssen ihre Damen nach der Hofrangordnung einladen, während der Duca di Torlonia nur hübsche Frauen in sein Haus bittet. An diesem Abend hatte er dabei besonderes Glück. Die Männer waren wie geblendet, und es war nur die Frage, welche unter so vielen schönen Frauen die allerschönste sei. Eine Zeitlang war man sich hierüber nicht einig; aber schließlich erklärte man die Principessa Vanina Vanini, jene junge Dame mit dem tiefschwarzen Haar und den Glutaugen, für die Königin des Abends. Alsobald strömten Fremde wie Römer in den Saal, in dem sie sich gerade aufhielt.

Gemäß dem Wunsche ihres Vaters, des Fürsten Asdrubale Vanini, tanzte Vanina zunächst mit etlichen deutschen Prinzen aus regierenden Häusern. Darauf ließ sie sich von einigen bildschönen hochvornehmen Engländern auffordern. Das steife Gebaren dieser Gentlemen langweilte sie. Mehr Vergnügen bereitete es ihr, den jungen, sichtlich maßlos verliebten Livio Savelli zu quälen, den glänzendsten jungen Römer, gleichfalls fürstlichen Blutes. Allerdings, einen Roman hätte man ihm nicht zu lesen geben dürfen; er hätte ihn nach den ersten zwanzig Seiten in die Ecke geworfen und behauptet, er bekäme Kopfschmerzen davon. In Vaninas Augen war dies sein Fehler.

Gegen Mitternacht verbreitete sich unter der Ballgesellschaft eine Neuigkeit, die ziemliches Aufsehen erregte. Ein junger Karbonaro, der in der Engelsburg gefangen gehalten worden war, hatte sich soeben gerettet. Dank seiner Verkleidung und seiner romantischen Tollkühnheit war er bis zu den Außenposten gedrungen. Mit einem Dolche war er auf die Soldaten losgestürmt und, wenn auch verwundet, durchgekommen. Sbirren folgten seinen Blutspuren durch die Gassen Roms. Man hoffte, ihn wiedereinzufangen.

Als diese Geschichte die Runde machte, führte Livio Savelli Vanina, mit der er getanzt hatte, gerade zu ihrem Platz zurück. Im Banne ihrer Schönheit und stolz auf den Eindruck, den sie ringsum machte, flüsterte er ihr, fast toll vor Liebe, zu:

»Bitte, sagen Sie mir einmal, wer könnte Ihnen denn eigentlich gefallen?«

»Der junge Karbonaro, der eben entronnen ist!« erwiderte ihm Vanina. »Er hat zum mindesten etwas mehr getan, als sich bloß ins irdische Dasein bemüht …«

Ihr Vater, der an die beiden herantrat, machte der Unterhaltung ein Ende.

Fürst Hasdrubal Vanini war ein reicher Mann, der sich von seinem Verwalter seit zwanzig Jahren keine Abrechnung vorlegen ließ. Wer ihm auf der Straße begegnete, hielt ihn für einen alten Schauspieler. Seine beiden Söhne waren Jesuiten geworden und in Verrücktheit gestorben. Der Fürst hatte sie vergessen. Sein größter Schmerz war der Umstand, daß seine Tochter Vanina keine Lust zum Heiraten zeigte. Sie war schon neunzehn Jahre alt und hatte die glänzendsten Partien ausgeschlagen. Welchen Grund hatte sie dazu? Den nämlichen, der Sulla zur Abdankung veranlaßte: sie verachtete die Römer.

Am Tage nach dem Balle fiel es Vanina auf, daß ihr Vater, sonst der sorgloseste Mensch von der Welt, der nie in seinem Leben von einem Schlüssel Gebrauch gemacht hatte, die Türe zu einer kleinen Treppe sorglich abschloß, die in ein Zimmer des dritten Stockes führte. Dieses Gemach lag nach einer Terrasse hinaus, auf der Orangenbäume standen.

Vanina machte ein paar Besuche in der Stadt. Als sie wieder nach Hause kam, war das Hauptportal des Palastes infolge der Vorbereitungen zu einer Illumination versperrt. Der Wagen mußte deshalb durch das Hoftor einfahren. Dabei überblickte Vanina die Rückfassade des Hauses und sah, daß eins der Fenster des von ihrem Vater abgesperrten Zimmers offen stand.

Nachdem sie ihre Gesellschafterin weggeschickt hatte, stieg sie auf den Oberboden des Palastes und fand nach langem Suchen ein vergittertes Fensterchen, von dem aus man auf die Terrasse mit den Orangenbäumen hinabsehen konnte. Das offene Fenster, das Vanina vom Hofe aus gesehen hatte, lag von hier nicht weit. Ohne Zweifel war das Zimmer bewohnt. Aber von wem?

Am Tage darauf war Vanina im Besitze des Schlüssels zu einer Türe, die auf die mit Orangenbäumen besetzte Terrasse ging. Wie ein Luchs schlich sie an das Fenster, das noch immer offen stand. Der Vorhang war dicht zugezogen. Trotzdem erspähte Vanina, daß im Hintergrunde des Gemaches ein Bett stand und daß jemand darin lag. Unwillkürlich fuhr sie zurück. Da erblickte sie einen Frauenrock auf einem der Stühle. Nunmehr lugte sie schärfer nach der im Bette liegenden Person. Sie war blond und sichtlich sehr jung. Vanina war überzeugt, es müsse ein weibliches Wesen sein. Der auf den Stuhl geworfene Rock hatte Blutflecke. Auch an den Frauenschuhen, die auf einem Tische standen, waren Blutspuren zu sehen.

Als die Unbekannte eine Bewegung machte, bemerkte Vanina, daß sie verwundet war. Über ihrer Brust lag ein großes blutgetränktes Stück Leinwand, nur mit Bändern befestigt. So sah ein von einem Wundarzt angelegter Verband nicht aus!

Vanina stellte fest, daß sich ihr Vater täglich um vier Uhr in seine Zimmer zurückzog und regelmäßig kurz darauf die Kranke besuchte. Er verließ sie stets sehr bald wieder und pflegte sodann zur Gräfin Vitelleschi zu fahren. Sobald er fort war, ging Vanina hinauf nach der Terrasse und beobachtete die Fremde. Ihre empfindsame Natur entflammte sich rasch für die unglückliche junge Frau. Was für ein Abenteuer hatte sie bestanden? Ihr blutiges Kleid war augenscheinlich von Dolchstößen durchbohrt. Man konnte die Löcher zählen.

Eines Tages sah Vanina die Unbekannte deutlicher. Ihre schönen blauen Augen starrten gen Himmel. Offenbar betete sie. Sodann kamen ihr Tränen. Die junge Prinzessin konnte sich kaum noch bezwingen. Am liebsten hätte sie die Unglückliche angesprochen.

Am nächsten Tage wagte sich Vanina draußen auf der Terrasse zu verstecken, ehe ihr Vater kam. Von da aus beobachtete sie, wie Fürst Hasdrubal ins Zimmer der Unbekannten trat. Er brachte einen Korb mit Lebensmitteln und sah beunruhigt aus. Er sprach wenig und so leise, daß die Lauschende die einzelnen Worte nicht verstand, obwohl das Fenster offen war. Bald verschwand er wieder.

»Die arme Frau muß furchtbare Feinde haben,« sagte sich Vanina. »Mein sonst so sorgloser Vater wagt niemanden ins Geheimnis zu ziehen und läßt sichs nicht verdrießen, täglich die enge steile Treppe hinaufzugehen.«

Eines Abends, als Vanina ihren Kopf zwischen die Vorhänge des offenen Fensters hindurchsteckte, hatte die Unbekannte ihren Blick gerade dahin gerichtet. Vanina sah sich entdeckt.

»Ich habe Sie in mein Herz geschlossen!« rief sie aus.

Die Unbekannte winkte ihr einzutreten.

»Ich muß Sie vielmals um Entschuldigung bitten,« erklärte Vanina. »Meine törichte Neugier mag Ihnen sehr ärgerlich sein. Ich schwöre Ihnen Geheimhaltung, und wenn Sie es verlangen, komme ich niemals wieder her.«

»Wer sollte Ihren Anblick nicht als Glück empfinden?« erwiderte die Fremde. »Wohnen Sie hier im Palaste?«

»Gewiß!« antwortete Vanina. »Sie kennen mich also nicht! Ich bin Vanina, die Tochter des Hauses.«

Die Unbekannte machte ein erstauntes Gesicht und wurde rot.

»Gönnen Sie mir die Hoffnung, Sie alle Tage hier zu sehen,« sagte sie. »Nur möchte ich nicht, daß der Fürst von Ihren Besuchen erfährt.«

Vanina, die starkes Herzklopfen hatte, fand das Benehmen der Unbekannten vornehm. Gewiß hatte die arme junge Frau irgendeinen Machthaber beleidigt, oder vielleicht in einem Anfalle von Eifersucht ihren Liebhaber umgebracht. Einen gemeinen Grund hatte ihr Unglück sicherlich nicht.

Die Unbekannte gestand ihr, daß sie an der Schulter verwundet sei. Die Wunde reiche bis in die Brust und sei sehr schmerzhaft.

»Und Sie haben keinen Wundarzt?« rief Vanina aus.

»Wie Sie wissen, sind in Rom die Ärzte verpflichtet, der Polizei über alle Wunden, die sie behandeln, genau zu rapportieren. Der Fürst hat mir diesen Verband hier eigenhändig anzulegen geruht.«

Mit vollendetem Geschick vermied die Unbekannte jegliche Rührseligkeit. Vanina war toll verliebt. Etwas freilich störte die junge Prinzessin stark. Sie machte nämlich die Wahrnehmung, daß die Fremde einmal mitten in der doch so ernsten Unterhaltung Mühe hatte, eine plötzliche Lachlust zu unterdrücken.

»Ich möchte Ihren Namen gern wissen,« sagte Vanina zu ihr.

»Ich heiße Clementina.«

»Also, liebe Clementina, morgen um fünf komme ich wieder!«

Am nächsten Tage traf Vanina ihre neue Freundin in verschlimmertem Zustande an.

»Ich werde einen Wundarzt holen lassen,« schlug Vanina vor, indem sie die Kranke umarmte.

»Lieber will ich sterben,« erwiderte diese, »als daß ich meinen Wohltäter in Gefahr brächte.«

Vanina redete ihr eifrig zu:

»Der Wundarzt von Monsignore Savelli-Catanzara, dem Stadtkommandanten Roms, ist der Sohn eines unsrer Dienstboten. Er ist uns ergeben und braucht in seiner Stellung vor niemandem Furcht zu haben. Mein Vater tut ihm unrecht, indem er ihn nicht für unbedingt zuverlässig hält. Ich werde ihn rufen lassen …«

»Nein, nein! Ich will keinen Arzt!« rief die Unbekannte mit einer Lebhaftigkeit, die Vanina hätte stutzig machen müssen. »Nur Sie sollen kommen und mich besuchen. Und wenn es Gott gefällt, mich zu sich zu rufen, so werde ich glücklich sterben in Ihren Armen.«

Am folgenden Tage war ihr Befinden noch schlechter. Beim Weggehen sagte Vanina:

»Wenn Sie mich lieben, dann erlauben Sie mir, daß ich endlich einen Wundarzt holen lasse.«

»Wenn er kommt, ist mein Glück dahin.«

»Ich muß es tun,« erklärte Vanina.

Die Unbekannte hielt sie zurück, indem sie ohne ein Wort zu sagen ihre Rechte ergriff und Küsse darauf drückte. Lange sprach keins von beiden. Der Fremden standen Tränen in den Augen. Endlich gab sie Vaninas Hand frei und sagte in einem Tone, als gehe sie in den Tod:

»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Vorgestern, als ich Ihnen sagte, ich hieße Clementina, da hab ich gelogen. Ich bin ein unglücklicher Karbonaro …«

Vanina war tief betroffen. Sie rückte ihren Stuhl zurück, und bald darauf erhob sie sich.

Der Kranke seufzte.

»Ich weiß wohl,« sagte er, »mein Bekenntnis beraubt mich des einzigen Glückes, das mich noch ans Leben bindet. Aber es wäre meiner unwürdig, wenn ich Sie weiter täuschte. Ich heiße Pietro Missirilli und bin neunzehn Jahre alt. Mein Vater ist ein armer Arzt in San Angelo in Vado, und ich bin Karbonaro. Wir sind bei unsrer letzten Venta überrumpelt worden. Man hat mich in Ketten von der Romagna nach Rom geschleppt. Dreizehn Monate lag ich in einem Kerkerloche, Tag und Nacht bei trübem Laternenlicht. Da geriet eine barmherzige Seele auf den Gedanken, mich retten zu wollen. Man zog mir Frauenkleider an. So entrann ich meiner Zelle und war schon an der Außenwache vorbei, da hörte ich, daß einer der Posten auf die Karbonari schimpfte. Ich verabreichte ihm eine Ohrfeige. Ich versichere Sie: das war nicht etwa eitle Prahlerei. Es geschah aus Geistesabwesenheit. Nach dieser Unbesonnenheit wurde ich durch die Straßen Roms verfolgt. Es war Nacht. Ich bekam Bajonettstiche und schon verließen mich meine Kräfte … Da laufe ich in ein Haus, dessen Türe offen stand. Ich höre, wie die Soldaten hinter mir die Treppe hinaufrennen. Ich springe in den Nachbargarten und falle zu Boden, ein paar Schritte vor einer Dame, die dort spazieren geht …«

»Das war die Contessa Vitelleschi, die Freundin meines Vaters …« unterbrach ihn Vanina.

»Was! Sie hat es Ihnen erzählt?« rief Missirilli aus. »Wie dem auch sei: diese Dame, deren Name nie genannt werden soll, hat mir das Leben gerettet! Als die Soldaten in ihr Haus drangen, um mich zu ergreifen, brachte mich Ihr Herr Vater in seinem Wagen hierher … Es geht mir gar nicht gut. Der Bajonettstich in der Schulter erschwert mir seit mehreren Tagen das Atmen. Ich werde sterben … und zwar, wenn ich Sie nicht wiedersehe, in der unseligsten Stimmung …«

Vanina hatte geduldig zugehört. Eilends ging sie dann fort. Missirilli glaubte in ihren schönen Augen nicht die Spur von Mitgefühl, sondern nichts als gekränkten Stolz gesehen zu haben.

In der Nacht stellte sich ein Wundarzt ein. Er kam allein. Missirilli war in Verzweiflung. Er fürchtete, Vanina nie wiederzusehen. Er fragte den Arzt aus. Der waltete seines Amtes, gab aber keine Antwort. Ebenso schweigsam blieb er an den nächsten Tagen.

Unverwandt ruhten Pietros Augen auf der Fenstertüre nach der Terrasse, durch die Vanina eingetreten war. Er fühlte sich sterbensunglücklich.

Einmal, gegen Mitternacht, kam es ihm vor, als husche ein Schatten über die Terrasse. War das Vanina?

Allnächtlich preßte Vanina ihre Wangen an die Fensterscheibe des Gemachs des Karbonaro.

»Wenn ich mit ihm spreche, bin ich verloren!« sagte sie sich. »Nein! Ich darf das niemals wieder tun.«

Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, kam ihr wider willen die Freundschaft in den Sinn, die sie für den jungen Mann gefühlt, als sie ihn törichterweise noch für ein Weib gehalten hatte. »Erst habe ich mich ihm so zärtlich und zutraulich gezeigt, und jetzt meide ich ihn vollständig!« warf sie sich vor.

In vernünftigen Augenblicken erschrak sie über den Wandel, der in ihrer Seele vorgegangen war. Seit sich Missirilli entdeckt hatte, war ihre ganze bisherige Gedankenwelt wie in Nebel verhüllt und in weite Ferne gerückt.

Noch waren keine acht Tage verronnen, als Vanina, bleich und zaghaft, zusammen mit dem Arzt in das Gemach des Kranken trat. Sie verblieb nur ein paar flüchtige Augenblicke. Aber nach einigen Tagen erschien sie nochmals, wieder mit dem Arzte: aus Menschlichkeit. Und schließlich, als es Missirilli wieder viel besser ging und Vanina nicht mehr den Vorwand hatte, sich um sein Leben zu ängstigen, wagte sie eines Abends allein zu kommen.

Als Missirilli sie erblickte, war er namenlos glücklich; aber er suchte seine Liebe zu verbergen. Um alles in der Welt wollte er die Manneswürde nicht verletzen. Vanina war mit schamrotem Gesicht zu ihm gegangen. Sie fürchtete, Liebesbeteuerungen zu hören. Um so mehr wunderte sie sich über die edle, demütige, fast zu wenig zärtliche Freundschaft, die er ihr erwies. Als sie von ihm schied, machte er keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

Ein paar Tage später kam Vanina abermals. Pietro verhielt sich genau wieder so. Er versicherte sie seiner verehrungsvollen Ehrerbietung und ewigen Dankbarkeit.

Da Vanina auch nicht das geringste getan hatte, was den jungen Karbonaro hätte veranlassen können, seinen Gefühlen Zwang anzutun, so fragte sie sich: »Bin ich der allein liebende Teil?« Voll Bitternis empfand das bis dahin so stolze junge Mädchen, wie ungeheuerlich toll sie war. Sie heuchelte Frohsinn und sogar Gleichgültigkeit. Sie erschien seltener, brachte es indessen nicht über sich, den jungen Kranken gar nicht mehr zu besuchen.

Missirilli war halb wahnsinnig vor Liebe, aber er vergaß weder seine niedere Herkunft noch das, was er sich selbst schuldig war. Er hatte sich fest vorgenommen, nur dann aus sich herauszugehen und seine Liebe zu verraten, wenn Vanina ihn acht Tage lang nicht besuchte.

Der Hochmut der Prinzessin kämpfte den letzten Kampf. Schließlich sagte sie sich:

»Wenn ich ihn besuche, so tue ich das meinetwegen, weil es mir Freude bereitet. Nie und nimmer werde ich ihm das Mitgefühl eingestehen, das er in mir erweckt hat.«

Fortan verweilte sie länger und länger bei Missirilli, aber er sprach mit ihr, als ob ein Dutzend andrer Menschen dabei sei.

Eines Abends, nachdem sie ihn den ganzen Tag über verwünscht und sich gelobt hatte, noch kälter und herber denn bisher gegen ihn zu sein, gestand sie ihm ihre Liebe. Bald hatte sie ihm nichts mehr zu versagen.

Die Torheit war groß, aber Vanina war glückselig. Missirilli vergaß, was er seiner Manneswürde schuldig zu sein wähnte. Er liebte, wie ein Neunzehnjähriger unter Italiens Himmel zum ersten Male liebt. Er machte alle Wirren der Liebe aus Leidenschaft durch; ja, er gestand der stolzen jungen Fürstin, durch welche Politik er sie erobert hatte. Das Übermaß ihres Glückes war ihm erstaunlich.

Vier Monate eilten dahin. Eines Tages erklärte der Arzt seinen Patienten für völlig wiederhergestellt.

»Was soll ich nun beginnen?« fragte sich Missirilli. »Bei einer der schönsten Römerinnen versteckt bleiben? Aber dann bilden sich die schnöden Tyrannen, die mich dreizehn Monate lang im stockdunklen Kerker haben schmachten lassen, am Ende gar ein, sie hätten meinen Mut gebrochen. Italia, du hast wirklich kein Glück, da dich deine Kinder so leicht im Stiche lassen!«

Vanina zweifelte nicht daran, daß Pietro das höchste Glück darin erblickte, stets mit ihr vereint zu bleiben. Dies schien in der Tat so zu sein. Aber in seiner jungen Seele hatte ein bittres Wort des Generals Bonaparte Widerhall gefunden und ihn von jeher in seinem Verhalten gegen Frauen beeinflußt. Als Bonaparte im Jahre 1796 aus Brescia marschierte, versicherten ihn die Häupter der Stadt, die ihm das Geleit bis ans Stadttor gaben, die Brescianer liebten die Freiheit mehr denn alle anderen Italiener.

»Das weiß ich!« gab der Korse zur Antwort. »Das sagen sie mit Vorliebe ihren Liebsten!«

In beklommenem Tone erklärte Pietro:

»Wenn die Nacht kommt, muß ich fort.«

»Sieh aber zu, daß du bei Tagesanbruch wieder im Palast bist,« erwiderte Vanina. »Ich werde aufbleiben.«

»Bei Tagesanbruch bin ich schon mehrere Meilen weg von Rom.«

»So!« sagte Vanina kalt. »Wohin gehst du?«

»Nach der Romagna, um mich zu rächen.«

»Da ich reich bin,« sagte Vanina im ruhigsten Tone, »nimmst du hoffentlich Waffen und Geld von mir an.«

Ein paar Sekunden schaute Missirilli sie starr an; dann fiel er ihr um den Hals.

»Stern meines Lebens!« rief er aus. »Deinetwegen könnte ich alles vergessen, selbst meine Pflicht! Aber je edler dein Herz ist, um so mehr mußt du mich verstehen!«

Vanina begann heftig zu weinen. Sie kamen überein, daß Pietro erst am übernächsten Tage Rom verlassen solle.

Am andern Morgen sagte Vanina:

»Pietro, du hast bereits mehrfach gesagt, eine bekannte Persönlichkeit, ein römischer Fürst zum Beispiel, der über viel Geld verfügt, könnte der Sache der Freiheit den größten Dienst leisten, sobald Österreich einmal mit irgendeiner Großmacht im Kriege läge.«

»Gewiß!« gab Missirilli erstaunt zur Antwort.

»Höre! Mut hast du. Dir fehlt es nur an Macht. Ich biete dir meine Hand und ein Jahreseinkommen von zweimalhunderttausend Lires. Die Einwilligung meines Vaters verpflichte ich mich zu bringen.«

Pietro sank ihr zu Füßen nieder. Vanina strahlte vor Freude.

»Ich liebe dich von ganzem Herzen,« sagte er. »Aber ich bin ein armer Diener meines Vaterlandes. Und je unglücklicher Italien ist, um so treuer muß ich an ihm hängen. Um deines Vaters Einwilligung zu erringen, müßte ich jahrelang eine traurige Rolle spielen … Vanina, ich schlage deine Hand aus!«

Missirilli klammerte sich an seinen Patriotismus. Sein Mut brach fast zusammen.

»Es ist mein Unglück,« fuhr er fort, »daß ich dich mehr liebe als das Leben. Rom verlassen zu sollen, ist mir fürchterlich. Ach, warum ist Italien noch immer nicht von den Barbaren befreit! Mit welcher Wonne würde ich dann mit dir über den Ozean gehen, um in Amerika zu leben!«

Vanina stand da wie eine Marmorstatue. Pietro hatte ihre Hand ausgeschlagen! Ihr Stolz bäumte sich. Dann aber warf sie sich in seine Arme.

»Nie bist du mir liebenswerter gewesen!« rief sie. »Mein Landdoktorchen, ich bin doch dein auf ewig! Du bist ein ganzer Mann, ein wahrer alter Römer!«

Alle Zukunftsgedanken, alle die trübseligen Regungen des gesunden Menschenverstandes waren zunichte. Vanina wie Pietro waren voll reinster Liebe.

Als sie wieder vernünftig zu reden vermochten, sagte die Principessa:

»Ich werde dir sehr bald in die Romagna nachfolgen. Ich lasse mir die Bäder von Poretto verordnen. In unserm Schlosse zu San Nicolo bei Forli mache ich Station …«

»Dort will ich mein Leben mit dir verbringen!« beteuerte Missirilli.

»Mein Schicksal ist fortan, alles aufs Spiel zu setzen,« sagte Vanina und seufzte. »Ich werde mich für dich zugrunde richten. Was tuts? Kannst du eine Entehrte lieben?«

»Bist du nicht mein Weib?« sagte Missirilli. »Mein immerdar angebetetes Weib! Ich werde dich lieben und schützen!«

Vanina hatte gesellschaftliche Pflichten. Kaum war sie fort, da dünkte es Missirilli, er habe sich wie ein Barbar benommen.

»Was heißt Vaterland?« fragte er sich. »Es ist kein lebendiges Wesen, dem wir für eine Wohltat Dank schuldeten. Wenn wir unsre angebliche Pflicht ihm gegenüber nicht erfüllen, wird es nicht unglücklich. Es kann uns nicht verfluchen. Vaterland und Freiheit, das ist, nicht anders wie ein Mantel, ein Ding, das mir nützlich ist. Ich muß es mir erwerben, wenn ich es nicht von meinem Vater ererbt habe. Im Grunde liebe ich beides nur, weil es mir nützliche Dinge sind. Wenn ich sie zu nichts gebrauchen könnte – etwa wie einen Pelzmantel im Hochsommer – wozu wollte ich sie mir erwerben. Um einen so ungeheuerlichen Preis? Vanina ist wunderschön. Sie hat eine erlesene Seele. Andere werden um sie werben. Sie wird mich vergessen. Welche Frau hätte es je bei einem Liebhaber belassen? Die römischen Fürsten, die ich schlichter Bürger verachte, haben so manches vor mir voraus. Sie müssen verführen. Ach, wenn ich scheide, so vergißt mich Vanina, und ich habe sie auf ewig verloren!«

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