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Die gewaltige Gewölbehalle des Laienrefektoriums wurde zum Wartesaal jener Zuschauerinnen und Zuschauer, die Norma und Timon mithilfe des Ordnungspersonals hatten aufhalten können. Allerdings war damit nur knapp ein Viertel des Publikums zurückgeblieben. Alle Übrigen waren durch die anderen Ausgänge ins Freie gelangt und längst auf dem Heimweg. Norma mischte sich unter die Leute, die sich zwischen den gigantischen Weinpressen he­rumdrückten und sich in Geduld übten. Person für Person wurden Name und Adresse festgehalten. Eine Aufgabe, für die ein halbes Dutzend Schutzpolizisten der Rheingauer Polizeistationen angerückt war. Ausführliche Gespräche mit den Zeugen würden in den kommenden Tagen erfolgen und jede Menge Zeit sowie kriminalistisches Gespür erfordern, wie Norma aus eigener Erfahrung wusste. Als sie nach Ecki Winterstein und den Mitgliedern seines Teams Ausschau hielt, konnte sie keinen von ihnen entdecken. Vermutlich hatte sich der Regisseur seinen Leuten angeschlossen und die Basilika über den uralten Zugang zum Mönchsdormitorium verlassen, was aber kein Problem sein sollte. Die Mitglieder des Drehteams ließen sich leicht ermitteln.

Die Disziplin der Ausharrenden war bemerkenswert. Nörgeleien und Beschwerden blieben weitgehend aus. Im Großen und Ganzen schienen alle aufrichtig betroffen zu sein, dass ein Mensch zu Tode gekommen war, während sie sich mit dem Film vergnügt hatten. Wer über eine Wolldecke verfügte, wärmte sich damit die Schultern. Drei Mädchen in luftigen Sommerkleidern hatten dankbar die Plaids von Lutz entgegengenommen. Nun half er Katalin Schatzer und anderen Mitarbeiterinnen der Klosterstiftung dabei, die Menschen mit Kaffee und Tee zu versorgen.

Auf der Suche nach Timon verließ Norma das Laienrefektorium. Scheinwerfer tauchten die Klostergasse in helles Licht. Eine Polizeifotografin schoss eine Aufnahme nach der anderen. Weiße Kreidestriche auf den Sandsteinplatten kennzeichneten die Lage des Toten, dessen Leichnam bereits auf dem Weg in die Frankfurter Rechtsmedizin war. Rot-weiße Bänder sperrten den Bereich zwischen der Klosterkirche und dem Säulengang ab. Dahinter bewegte sich eine Schar in weiße Overalls gehüllter Gestalten: die Männer und Frauen der Wiesbadener Tatortgruppe. Ein Mann kniete am Boden und setzte ein Nummernschild neben eine Stelle, an der sich möglicherweise eine Spur befand. Der Ablauf war Norma so vertraut, dass ihr das untätige Herumstehen seltsam falsch vorkam. Doch sie hatte getan, was sie tun konnte. Im Schatten eines Pfeilers entdeckte sie Timon, der sich wie sie in die Rolle des Zaungastes fügen musste. Als Mediziner und Biologe arbeitete er an Ermittlungen mit, die in den Kompetenzbereich des hessischen Landeskriminalamts fielen. Verdächtige Todesfälle im Rheingau zu klären, gehörte zum Aufgabenbereich des Polizeipräsidiums Westhessen, das seinen Sitz in Wiesbaden hatte und dessen Einsatzgebiet über die Grenzen der Landeshauptstadt hinausreichte. Milano und Wolfert gehörten seit Jahren zum Ermittlerteam für Tötungsdelikte. Endlich fanden die Kommissare Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Norma und Timon. Über die Verbindung zu Norma bestand zwischen den drei Männern eine gute Bekanntschaft, ja beinahe eine Freundschaft.

Milano strich sich eine Locke aus der Stirn. Lag es am Kunstlicht, oder mischten sich in die dunklen Haare, die ihm über den Kragen reichten, tatsächlich graue Strähnen? »Dein erster Eindruck, Timon. Was mag die Tatwaffe sein? Ein dünner Draht?«

»Dem würde ich zustimmen«, sagte Timon. »Die Kollegen in Frankfurt werden dazu sicher bald Genaueres sagen können.«

»Der Tote machte einen muskulösen Eindruck«, beschrieb Wolfert seine Beobachtung. »Wie jemand, der vor allem im Freien arbeitet. Kein hilfloses Opfer, wie mir scheint.«

»Der Angreifer muss ihn von hinten überwältigt und die Schlinge blitzschnell und mit aller Kraft zugezogen haben«, vermutete Timon. »Auf diese Weise hat selbst ein kräftiger Mann wenig Chancen.«

»Grundsätzlich müssen wir von einem zu allem entschlossenen Täter ausgehen«, knurrte Milano. »Und der ist längst über alle Rheingauer Berge! Wir können nur hoffen, dass jemand aus dem Publikum etwas Entscheidendes beobachtet hat.«

Wolfert wandte sich Norma zu und blinzelte angestrengt hinter seinen starken Brillengläsern. »Du hast vorhin erwähnt, dass dir der Mann vor der Filmvorführung aufgefallen war. In der Menge vor der Basilika. Was genau war da los?«

»Ich hatte eine Zeichnung entdeckt, die an einer Säule hing«, sagte Norma. »DIN-A4-Format. Viel Schwarz, wie mit Kohlestift gemalt. Auch der Glatzköpfige hat sie bemerkt – und er wirkte erschrocken.«

»Der Mann war ein Stück weit vor dir, Norma«, bemerkte Milano misstrauisch. »Wie willst du das beurteilen?«

»Er hat hinübergestarrt, und ich konnte sein Gesicht im Profil sehen. Und seine Körperhaltung. Er war wie versteinert … als wäre das Blatt Papier eine Warnung.« Dieser Gedanke hatte sich gebildet, während sie ihn aussprach.

»Eine Warnung?«, wiederholte Wolfert nachdenklich. »Wenn ja, hat er sie wohl nicht ernst genug genommen. Hast du die Zeichnung ebenfalls gesehen, Timon?«

Timon verneinte. »Leider nicht in diesem Gedränge. Was genau konntest du darauf erkennen, Norma?«

Sie rief sich den Anblick ins Gedächtnis. »Eine Reihe von Tannen, die Spitzen tanzend im Wind. Eine Hütte, davor eine Gestalt. Ein Mensch, geduckt wie ein … wie ein verängstigtes Tier. Irgendwie … gruselig.« Ihr fiel etwas ein. »Winterstein ist die Zeichnung ebenso nicht entgangen.«

»Winterstein?«, stutzte Wolfert.

»Ecki Winterstein, ein Regisseur.« Die Stimme ertönte hinter Norma. Es war Lutz, der die letzten Sätze aufgeschnappt hatte. Von dem Stück Papier habe er vorhin nichts mitbekommen, fügte er an.

Eine Schutzpolizistin näherte sich der kleinen Gruppe um Norma und wedelte mit einem Schreibblock. Sie stellte sich als Leiterin der Rheingauer Einsatzgruppe vor. »Eine Reihe von Zuschauern konnten wir bereits nach Hause schicken. Insgesamt wird es sicher noch ein, zwei Stunden dauern, bis wir von den restlichen die Daten aufgenommen haben. All die Menschen zu ermitteln, die vorher gegangen waren, wird eine Mammutaufgabe. Danke, dass Sie diese Leute aufgehalten haben«, sagte sie, an Norma und Timon gewandt.

»Konnten Sie Angehörige des Toten ausfindig machen?«, fragte Wolfert.

»Offenbar war er allein gekommen, aber wir wissen jetzt seinen Namen«, erklärte die Schutzpolizistin zufrieden. »Ein Kollege kannte ihn, und mehrere Zeugen haben die Identifizierung anhand eines Handyfotos bestätigt. Axel Teubener, ein Rheingauer Winzer.« Sie überreichte Wolfert einen Zettel mit der Adresse.

Milano ließ ein lobendes »Benissimo!« hören. »Wir fahren sofort los. Gibt es noch etwas?«

»Nun, Axel Teubener hat keine Vorführung von ›Der Name der Rose‹ ausgelassen«, sagte die Schutzpolizistin.

»Warum auch nicht?«, meinte Wolfert. »Der Film ist schließlich einer der Filmklassiker schlechthin.«

Norma mischte sich in die Unterhaltung ein. »War er nur ein großer Fan, oder gab es einen besonderen Grund dafür?«

»Er war vor allem Fan der eigenen Schauspielkunst. Teubener hat 1985 als Statist mitgewirkt. Wussten Sie, dass es damals im Rheingau eine Menge Männer mit Tonsur gegeben hat?«, fügte die Schutzpolizistin mit einem belustigten Lächeln hinzu.

»Ich hätte mich auch als Komparse anheuern lassen«, erklärte Wolfert zu Normas Verblüffung.

Nachdem sich die Kommissare für die Informationen bedankt hatten, kehrte die Schutzpolizistin ins Laienrefektorium zurück.

»Lasst uns nach der Zeichnung suchen«, drängte Norma. »Vielleicht stammt sie vom Täter …«

»Oder ist schlicht das Werk eines Hobbymalers«, fiel ihr Milano ins Wort. »Wenn dir das Gekritzel so wichtig erscheint, dann kopiere es.«

»Ich kann nicht zeichnen«, protestierte sie.

»Das kriegst du hin«, entgegnete der Kommissar mit süffisantem Grinsen. »Auf, Dirk! Wir sollten mit den Angehörigen reden, bevor sie auf Facebook von Axel Teubeners Ableben erfahren.«

Absolut uneinsichtig erteilte er Normas Bitte, sie zum Weingut begleiten zu dürfen, eine kompromisslose Abfuhr.

Mord im Kloster Eberbach

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