Читать книгу Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner - Страница 10

Bizarre Wahrnehmungen

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In den nächsten Tagen kam ich endlich in meinen normalen Rhythmus zurück und die nervige Müdigkeit verschwand. An den Nachmittagen hielt ich mich viel in meinem Zimmer auf und arbeitete mich durch die neuen Schulbücher. Da eine endlose Regenfront unseren Küstenstreifen fest im Griff hatte, kam mir der verordnete Stubenarrest nicht ungelegen, um den umfangreichen Lernstoff einzupauken. Ben hatte sich als Unterstützung abgemeldet; er war voll damit beschäftigt, eine groß angelegte Netzwerkparty für seinen Computerclub vorzubereiten. So waren die einzigen Ablenkungen einige Telefonate mit Charlie, die etwas Zeit in Weymouth bei ihrer Großmutter verbrachte.

Es verging kein einziger Tag, an dem ich nicht an den Jungen in New York dachte. Und obwohl ich, wenn ich es mir ehrlich eingestand, zu wissen glaubte, dass er bei dem Unfall gestorben war, fühlte ich, je öfter er in meinem Kopf war, ein unerklärliches Gefühl der Verbundenheit, was ihn in meinem Paralleluniversum geradezu ewig leben ließ. Ich sah ihn noch immer so deutlich wie am ersten Tag unserer Begegnung, aber ich hatte Angst, dass sein Bild mit der Zeit verblassen könnte. Daher holte ich es mir immer und immer wieder energisch aus meiner Erinnerung hervor. Ich versuchte mehrmals, ihn zu zeichnen, doch es gelang mir nicht. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf mein fotografisches Gedächtnis zu beschränken.

Widerwillig entließ ich an diesem Freitagnachmittag sein Bild aus meinen Gedanken, als ich pünktlich um fünf Uhr den mit Regenwasserlachen angereicherten Hof der Fahrschule betrat, um mich der Herausforderung meiner ersten Fahrstunde zu stellen.

»Ich bin James Leighton«, stellte sich der Mann im Tweed Jackett vor, der mit einer Klemmmappe bewaffnet an einem Opel Corsa mit Fahrschulaufkleber stand und mir erwartungsvoll entgegensah. »Sie müssen Miss Summers sein.«

»Ja, richtig.« Ich reichte ihm die Hand.

Das war also mein Fahrlehrer. Mein erster Eindruck war, dass er freundlich und kompetent wirkte. Ich schätzte ihn ungefähr so alt wie meinen Dad, vielleicht ein bisschen älter, denn er hatte schon leicht angegraute Schläfen. Er war schlank und bewegte sich sportlich, als er mir mit einer einladenden Geste die Fahrertür öffnete. »Sie haben angegeben, dass Sie schon Fahrpraxis haben?« Fragend sah er mich an.

Ich nickte und stieg ins Fahrzeug.

»Sehr gut, dann brauchen wir nicht ganz von vorn anzufangen. Nachdem Sie sich von dem ordnungsgemäßen Zustand des Fahrzeugs überzeugt haben, das habe ich bereits für Sie gemacht, können wir uns auf den Weg machen«, meinte er augenzwinkernd.

»Ist mir recht«, antwortete ich zufrieden. Ich wusste jetzt schon, dass ich sehr gut mit ihm auskommen würde.

»Na, dann wollen wir mal.« Er schlug die Fahrertür zu und begab sich auf die Beifahrerseite. Ich schnallte mich an, während er Platz nahm und ebenfalls zum Gurt griff. »Dann machen Sie sich bitte mit den Funktionen dieses Fahrzeuges vertraut.« Unter seinem aufmerksamen Blick suchte ich nach dem Blinker, den verschiedenen Einstellungen des Lichts, sogar nach der Nebelschlussleuchte und der Wischanlage, bis ich alle Schalter und Knöpfe verstanden hatte. »Gut. Dann richten Sie sich jetzt die Spiegel ein und dann starten Sie bitte den Motor.«

Der Motor meldete sich mit einem sonoren Brummen und ich ließ den Wagen langsam anrollen, aber nicht ohne vorher in den Rückspiegel geblickt zu haben, wie Charlie mir eingebläut hatte. Dann fädelte ich mich hochkonzentriert in den Verkehr ein. Um die Mundwinkel von Mr Leighton zuckte ein zufriedenes Lächeln.

Die latente Sorge, ob ich es packen würde, zum ersten Mal auf öffentlicher Straße mit Gegenverkehr zu fahren, erwies sich als unbegründet. Es machte mir nichts aus, bis auf zwei, drei Fehlschaltungen, die das Getriebe etwas zum Kreischen brachten, viele Tempoüberschreitungen und das Überfahren eines Stoppschildes, das Mr Leighton mit einem kräftigen Anschlag seiner Sicherheitspedale korrigierte, schlug ich mich gar nicht mal so schlecht. »Das darf nicht wieder passieren«, meinte er freundlich, aber eindringlich. »Bei der Prüfung würde das sofort zum Abbruch führen.« Ich nickte einsichtig, während Mr Leighton sich noch kurz eine Notiz auf seinem Block machte und mich dann verabschiedete. Mit dem festen Entschluss, beim nächsten Mal noch besser aufzupassen, hüpfte ich relativ zufrieden mit mir vom Hof.

Jetzt freute ich mich auf das Wochenende. Charlie hatte die wunderbare Frage gestellt, ob wir nach London fahren wollten. Ihr Vater hatte ihr dort eine kleine Eigentumswohnung in dem schönen Stadtteil Kensington vererbt. Ich war unheimlich gern dort und konnte den nächsten Tag kaum erwarten.

Ein verführerischer Duft weckte mich. Ich sprang die Treppe herunter und folgte ihm in die Küche. Meine Mutter stand am Herd und machte gerade meine geliebten Pancakes. Ich umarmte sie von hinten. »Morgen, Momsy.«

»Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen? Du hast in der Nacht wieder geredet.«

»Wirklich? Was hab ich denn gesagt?«

»Ich konnte es nicht verstehen. Es war so unzusammenhängendes Zeug und du hast auch sehr leise gesprochen. Aber als ich dich angesprochen habe, weil ich dachte, dass du vielleicht doch wach bist, hast du dich im Bett aufgerichtet und mich mit offenen Augen ernst angesehen und gesagt …« Sie machte eine Schnute und veränderte ihre Stimme: »›Bist du allein oder kommen noch mehr?‹ Dann bist du mit geschlossenen Augen wieder zurück aufs Kopfkissen gefallen.«

»Waas?« Ich bog mich vor Lachen.

»Ja, es war wirklich witzig. Du warst dabei im Tiefschlaf«, lachte meine Mutter und wendete den letzten Pfannkuchen mit einem geschickten Schwung der Pfanne, wie ein Profi.

»Oh Mann«, sagte ich nur kopfschüttelnd, »ich kann mich überhaupt nicht erinnern, was ich da geträumt habe.«

»Reich mal deinen Teller rüber, Schatz.«

Während sie mir einen der herrlich duftenden Fladen gab, dachte ich weiter angestrengt nach, aber es war alles weg. »Den Ahornsirup bitte, Mom.« Ich hielt ihr meine ausgestreckte Hand entgegen. Sie reichte ihn mir herüber, füllte die restlichen Pancakes auf einen großen Teller und setzte sich zu mir an den Küchentisch.

Wir saßen zum Essen meistens in der Küche an dem uralten Eichenholztisch, der meiner Urgroßmutter gehört hatte. Ich mochte das angenehm warme Gefühl, wenn ich meine Unterarme darauflegte. Überhaupt war unsere Küche total gemütlich. Seit Mom vor ein paar Jahren in einem plötzlichen Anfall von Renovierungswut die Wände in einem warmen Gelbton gestrichen hatte, wirkte es nun, zusammen mit den rötlichen Tönen der Terrakottafliesen, als säße man in einer spanischen Bodega. Wir hatten mindestens fünf schmiedeeiserne Obstschalen, die in allen Winkeln der Küche auf den Holzarbeitsplatten stationiert waren, üppig mit Zwiebeln, Knoblauch, Zitronen, Orangen und anderem Obst, hauptsächlich Äpfeln, bestückt. Dazwischen lagen Stapel mit Kochbüchern, meistens über mediterrane Küche, die sich im Laufe der Zeit angehäuft hatten.

Ich angelte mir meinen dritten Pancake und schmatzte genüsslich.

»Das ist die Backmischung, die dein Dad letzten Monat aus Boston mitgebracht hat«, informierte mich Mom.

»Escht klasche«, lobte ich.

»Wann fahrt ihr eigentlich?«

Ich schluckte einen großen Brocken herunter. »Charlie holt mich um zehn Uhr ab.«

Sie sah auf die Uhr. »Hast du schon was eingepackt?«

»Ja, ich bin startklar.«

»Dann tu mir doch bitte noch einen Gefallen, wenn du aufgegessen hast. Sei so gut und bring den Adams noch einen von den Apfelkuchen rüber, ja?« Sie deutete auf ein bereits mit Papier eingeschlagenes Exemplar auf der Arbeitsplatte hinter mir.

»Ist gut.«

Mom hatte den Ehrgeiz, keine Frucht der in unserem Garten stehenden alten und seltenen Apfelbäume umkommen zu lassen. Sie verarbeitete sie zu allem, Marmelade, Kompott oder Kuchen, und da sie verschiedene Reifezeiten hatten, war sie jedes Jahr im Spätsommer und im Herbst mehr als gut damit beschäftigt.

»Einer ist noch für Jane, den dritten kannst du anschneiden.« Jane war eine ihrer beiden Single-Freundinnen, die sich mit ähnlichen Männerproblemen wie die dauereinsame Rita herumschlug.

»Gut, dann nehme ich zwei Stück für die Fahrt mit.« Ich stand auf und stellte das Geschirr zusammen.

»Lass nur. Ich mach schon«, meinte Mom lächelnd.

»Okay, ich geh dann mal eben rüber.«

»Danke und grüß die beiden.« Sie begann den Tisch abzuräumen und ich schnappte mir den eingewickelten Kuchen.

Die Adams waren unsere Nachbarn, so lange ich denken konnte. Sie waren schon hier gewesen, als wir eingezogen waren. Ursprünglich waren sie aus Wales und wenn die beiden sich in ihrer alten Sprache unterhielten, hatte ich große Mühe, irgendetwas davon zu verstehen. Sie bewohnten ein sehr hübsches Cottage mit einem leicht verwitterten Dach, das wohl in naher Zukunft mal wieder instand gesetzt werden müsste. An den leicht unregelmäßigen grauen Steinen der Fassade, wo die Jahreszahl 1840 eingekerbt war, kletterten Rosen und Clematis empor und zusammen mit dem gut gestutzten Rasen des Vorgartens und den in allen Farben blühenden Blumen in den seitlich angelegten Beeten bot sich einem ein wirklich romantischer Anblick. Durchaus einer Postkarte würdig. Aber bei aller Romantik hatte dieses Haus auch eine ungewöhnliche Aura. Ich hatte immer das Gefühl, dass es mich direkt ansah. Aber das Gefühl war nicht unangenehm. Es war das letzte Haus in unserer Straße, einer Sackgasse. Dahinter war hauptsächlich Wiese bis zur Steilküste.

Mrs Adams war schon ewig nicht mehr am Strand gewesen. Sie war am liebsten zu Hause in ihren vertrauten vier Wänden. »Hier haben wir alles, was wir brauchen«, hatte sie geantwortet, als ich sie gefragt hatte, ob sie es nicht vermisse, mal nach London zu fahren oder gar weiter weg zu reisen. Das Haus verließ sie nur für Einkäufe oder Arztbesuche, wobei sie darauf angewiesen war, dass sie jemand mit dem alten, dunkelgrünen Rover fuhr, der gut behütet und selten genutzt in der Garage hinter dem Haus auf seinen Einsatz wartete. Sie selbst besaß keinen Führerschein.

Mr Adams konnte zwar fahren, nur sah es mittlerweile auch seine Frau als ein gewagtes Abenteuer an, sich seinen Fahrkünsten anzuvertrauen. Es wurde ihm im Ort auffallend viel Platz auf der Straße eingeräumt, sobald ihn die Leute hinterm Steuer erkannten. Er hatte früher ein kleines Friseurgeschäft in Highcliffe. Mittlerweile war er vierundsiebzig Jahre alt, aber er schnitt noch immer mit Leidenschaft die Haare seiner treuen Kundschaft, die jetzt zu ihm nach Hause kam. Dazu platzierte er sie auf einen alten Stuhl aus Aluminiumrohr mit rotem Kunstlederbezug, während er gewissenhaft seine verschiedenen Utensilien auf dem kleinen Tisch neben dem antiken Herd ausbreitete und ihnen zum Zeichen, dass er mit der Arbeit begann, einen eierschalenfarbenen Umhang umlegte und hinter dem Hals verknotete. Mit diesem Anblick war ich quasi aufgewachsen.

Ich nahm den kürzeren Weg durch die an warmen Tagen meistens offen stehende Küchentür und platzte in einen solchen Arbeitstermin. Mr George hatte heute das Vergnügen. Ich bewunderte seinen Mut, denn neben einem schlechten Gehör hatte sich bei Mr Adams mittlerweile der Bedarf einer Brille mit gefühlten dreißig Dioptrien eingestellt. Ich musste ständig an den Begriff ›Froschauge‹ denken, wenn er zu mir schaute.

»Hallo, Val! Na, soll ich dir deine schönen langen Haare abschneiden?«, rief er mir kichernd zu, als ich eintrat, und klapperte wild mit der Schere in meine Richtung. Er fand diesen Scherz witzig und machte ihn immer wieder. Als ich klein war, hatte er mal viel mehr von meinem Haar abgeschnitten, als ich ihm zugestanden hatte. Das hatte ich ihm sehr übel genommen und einige Zeit ziemlich geschmollt. Außerdem hatte ich daraufhin mit Nachdruck verkündet, niemals wieder zum Friseur zu gehen.

»Sehr witzig, Mr Adams«, kniff ich mir ein verzerrtes Lächeln ab und er lachte nur noch mehr. Ich hatte ihm längst verziehen. Er war ein sehr netter alter Herr.

Mrs Adams mochte ich schon deshalb sehr, da sie sich nach dem Tod meiner Großmutter häufig als Babysitterin zur Verfügung gestellt und mir wunderschöne Gutenachtgeschichten über Elfen und andere Fabelwesen erzählt hatte.

Ich ging durch den schummerigen Flur in Richtung Wohnzimmer, vorbei an den zahlreichen liebevoll eingerahmten Fotografien von jungen Menschen, in sommerlicher Umgebung aufgenommen. Die Adams hatten ihre einzige Tochter sehr früh verloren. Sie starb mit ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahren an einem inoperablen Gehirntumor. Seitdem hatten sie immer wieder junge Studenten aufgenommen, die hier in der Nähe die Sprachschulen besuchten. Mom hatte mir erklärt, dass es für die Adams eine tröstliche Ablenkung sei, junge Menschen bei sich zu haben und zu umsorgen. Inzwischen fühlten sie sich für die Aufgabe aber zu alt und gaben ihre beiden Gästezimmer nur noch in absoluten Ausnahmefällen an frühere Lieblingsstudenten, die aus Anhänglichkeit auch nach langer Zeit hin und wieder zu Besuch kamen.

»Oh, hallo, meine Kleine, das ist aber lieb von deiner Mom, dass sie wieder an uns gedacht hat«, flötete Mrs Adams entzückt, als sie mich mit dem Apfelkuchen in der Hand ins Wohnzimmer kommen sah.

Der Anblick der kleinen, immer noch recht schlanken, alten Dame mit dem weißen, hochgesteckten Haar und dem geblümten Kleid mit Spitzenkragen inmitten ihres mit gemusterten Tapeten und blümchenstoffbezogenen Mobiliar überladenen Wohnzimmers wirkte auf mich wie ein arrangiertes Foto für ein Landhausstil-Magazin.

»Aber das ist doch klar, Mrs Adams.«

Ich blieb immer ihre Kleine. Es machte mir aus ihrem Mund nichts aus. Es fühlte sich sogar fast behaglich an.

Mrs Adams erhob sich mit ein wenig Mühe aus ihrem dunkelgrün und beige geblümten Ohrensessel, in dem sie sehr viel Zeit verbrachte, um zu nähen oder zu lesen. Hier unter der alten Stehlampe sei das beste Licht im Haus für derartige Arbeiten, hatte sie mal erklärt. Aber viele Male, wenn ich überraschend hier hereingeschneit war, hatte ich sie einfach nur still sitzend vorgefunden, das Foto in dem schlichten Silberrahmen betrachtend, das wie ihr wertvollster Schatz den alleinigen Platz auf dem kleinen Tischchen mit der selbst gehäkelten Spitzendecke einnahm. Lediglich eine winzige Vase mit einer frischen Rosenblüte flankierte das Bild. Es zeigte ein hübsches, aber sehr blasses junges Mädchen mit langen, hellblonden Haaren: ihre Tochter. Ich glaube, sie redete sogar mit diesem Bild, denn manchmal, so auch heute, hatte ich ein Gemurmel gehört, bevor sie mich begrüßt hatte. Es war mir irgendwie unangenehm, das Gefühl zu haben, möglicherweise in eine Art Andacht geplatzt zu sein, und ich beschloss, demnächst daran zu denken, mein Eintreten mit einem Räuspern oder lauten Rufen anzukündigen.

»Bleibst du auf einen Tee, Liebes?«, fragte sie freundlich lächelnd.

»Heute nicht, Mrs Adams, nächstes Mal gern wieder. Aber ich fahre gleich nach London.«

»Oh, wie schön!« Mrs Adams klatschte die Hände zusammen. »Dann wünsche ich dir viel Freude, mein Kind, und bitte sag deiner Mutter ein ganz herzliches Dankeschön.«

»Ja, mach ich. Bis bald, Mrs Adams.«

Sie brachte mich noch zur Vordertür und öffnete sie. Die Sonne blendete. Es würde ein schöner Tag werden.

»Ach, das ist wohl ein neuer Freund, der schon auf dich wartet. Viel Spaß euch jungen Leuten«, freute sich Mrs Adams.

Ich blickte mich um und sah den Mini von Charlie vor unserem Haus stehen. Den Wagen kannte sie doch eigentlich. Wurde sie langsam vergesslich?

»Ach, das ist doch Charlie, Mrs Adams.«

Die alte Dame stutzte und tastete nach ihrer Brille, die sie oft wie einen Haarreifen auf dem Kopf trug, wurde aber nicht fündig. Sie kniff die Augen enger zusammen und formte ihren Mund zu einem kleinen Schnabel, während sie angestrengt ihre Wahrnehmung zu verdeutlichen suchte.

»Also, bis dann«, sagte ich im Weggehen.

»Aber …«, setzte sie leise an, als wollte sie noch etwas anmerken, doch ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und flitzte davon.

Ich fand Charlie in der Küche, über den letzten Pancake herfallend. Natürlich nicht ohne die schuldbewusste Miene, die sie bei Kalorienbomben üblicherweise an den Tag legte. Sie saß am Küchentisch und fachsimpelte mit meiner Mutter, die gerade fein geviertelte Äpfel in den großen, uralten Topf von Oma kippte, über die Zubereitung von Marmelade. Charlie trug eines der gewagten neuen Tops mit grellem Schwarz-weiß-Kontrast. Meine Augen fingen auf der Stelle an zu flimmern.

»Ah, da bist du ja. Bist du so weit? Können wir los?« Sie schob den letzten Krümel in den Mund und erhob sich. Ich deutete auf das enge, kurzärmelige Shirt, doch bevor ich etwas sagen konnte, sprudelte sie gut gelaunt hervor: »Sieht scharf aus oder? Deine Mom dachte, das sei ein Irrgarten.« Sie zupfte das Shirt an beiden Seiten über den Rippen in die Breite, um das spiralartige Motiv, das den ganzen Brustbereich einnahm, zu präsentieren. »Wenn ich es nicht in London anziehen kann, wo dann?«

Mom warf mir einen amüsierten Blick voller Zweifel zu und meinte dann diplomatisch, zu Charlie gewandt: »Ja, da passt es ganz sicher.«

Ich verzichtete auf einen weiteren Kommentar, dachte aber daran, sie später zu bitten, ihre um die Hüfte geschlungene Jeansjacke drüberzuziehen, da ich fürchtete, bei längerem Hinsehen in Hypnose zu fallen. »Von mir aus kann’s losgehen«, sagte ich stattdessen.

Charlie verabschiedete sich von meiner Mutter. »Ich bringe Ihnen Val morgen Abend heil wieder, Mrs Summers.« Sie klang wie eine Erwachsene, die ein Kind abholt. Ich musste grinsen und schüttelte unmerklich den Kopf. Solange es mir gewisse Freiheiten einbrachte …

Ich griff meinen vollgestopften Rucksack, drückte Mom und nahm die Provianttüte mit dem Kuchen entgegen, bevor ich aus der Haustür schlüpfte und auf schnellstem Wege den Beifahrersitz bestieg.

Begleitet von sanften Chill-out-Klängen erreichten wir zügig die Autobahn. Und standen im Stau. »Was ist denn hier los?«, schnaubte Charlie. »Das kann doch nicht wahr sein.« Es ging nur noch im Schritttempo voran. Ich stemmte meine Füße gegen das Armaturenbrett, legte meine Hände in den Nacken und atmete laut durch den Mund aus. Charlie trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad und kaute heftig auf ihrem Kaugummi herum. »Val, nimm bitte die CD raus, lass uns mal Radio hören. Vielleicht sagen die was. So ein Mist«, fluchte sie weiter. »Ich hatte wirklich nicht die Absicht, mein Wochenende auf der Straße zu verbringen.«

Ich stellte auf Radio um und musterte sie prüfend. Sie wirkte angespannt. »Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Du bist irgendwie neben der Spur. Hat das mit Tobey zu tun?«

»Tobey, immer wieder Tobey. Bist du es nicht langsam leid, dir das anzuhören?«, fragte sie müde lächelnd.

»Charlie, du bist meine beste Freundin und, ja, natürlich würde ich es mir immer wieder anhören«, entgegnete ich inbrünstig. »Also, komm schon, erzähl, was ist los?«

Sie atmete tief ein und aus. »Ach, es ist … Ich verstehe ihn im Moment einfach überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Wir hatten letztens ein langes Gespräch über unsere räumliche Trennungssituation. Tobey will nun doch auf jeden Fall sein Studium dort fortsetzen und meinte nun, dass es hart wird mit einer Fernbeziehung, die so lange dauert. Er hat daher vorgeschlagen, dass wir eine Pause einlegen und uns mit anderen verabreden sollten. Sag mal, ist das nicht krass? Das ist doch Schlussmachen oder was würdest du davon halten?«

Ich war geschockt. »Das hört sich allerdings ganz so an«, sagte ich stockend. »Ist das wieder eine seiner Provokationen oder meinte er es ernst?«, fragte ich kopfschüttelnd.

»Sieht so aus«, sagte Charlie grimmig.

»Dass er es ernst meint?«

»Ja.«

»Wie soll denn so was funktionieren? Ihr springt beide mit anderen in die Kiste und danach kommt ihr wieder zusammen, als wäre nichts gewesen? Sorry, aber das ist echt krank, wenn er sich das so vorgestellt hat. Dann ist Schlussmachen die bessere Alternative. Wie soll denn später wieder Vertrauen in eurer Beziehung entstehen?«, ereiferte ich mich entrüstet. »Ihr würdet euch doch beide ständig fragen, mit wem der andere was hatte und wie ernst es war. Also wirklich, Charlie, der spinnt doch.« Ich mochte Tobey wirklich, aber diesen Vorschlag fand ich abartig. »Außerdem, wenn einmal die Hürde Sex mit anderen in der Beziehung genommen wurde, ist sie immer wieder leicht zu überschreiten. Das ist jedenfalls meine Meinung«, stellte ich klar und verschränkte missbilligend die Arme.

Charlie fuhr wieder ein paar Meter und stoppte erneut. Mit traurigen Augen sah sie mich an. »Ich sehe es ganz genauso. Das Problem ist nur, ich liebe Tobey und will nicht Schluss machen. Aber ich will auch diesen Scheiß mit der Unterbrechung nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Sie tat mir so leid. Liebe konnte ganz schön wehtun. Ich war in diesem Moment froh, dass ich keinen Freund hatte, der mich in so ein Gefühlschaos stürzen konnte.

»Aber überleg mal, Charlie, wenn er dich genauso lieben würde wie du ihn, würde er dann so einen Vorschlag machen? Das könnte er doch gar nicht, weil er vor Eifersucht platzen würde. Oder?«

Sie beantwortete die Frage nicht, denn ich hatte das ausgesprochen, was sie eigentlich gar nicht hören wollte. Vielleicht hatte ich es zu hart formuliert. Aber ich würde ihr mit meiner ehrlichen Meinung sicher mehr helfen, als wenn ich die Dinge schönredete.

Wieder fuhr Charlie den Wagen an. »Na endlich, das wurde ja auch Zeit«, grantelte sie gereizt.

Es ging jetzt ein wenig schneller voran, daher setzte ich mich wieder gerade in den Sitz und zog den Gurt stramm.

»Weißt du«, sagte Charlie langsam, »das Schlimme ist, dass du zu hundert Prozent recht hast. Trotzdem kann ich nicht aus meiner Haut.«

»Es ist aber auch total blöd, solche Dinge am Telefon zu besprechen«, warnte ich. »Man sollte sich dabei in die Augen sehen. Dann erkennt man viel mehr und wird eher das Richtige tun. Glaub ich wenigstens. Aber ich bin keine Fachfrau in diesen Dingen.«

»Doch, Val, du durchblickst das alles unheimlich klar. Ich muss mich echt wundern. Du bist jünger als ich und trotzdem … ja … weiser.«

»Nun hör aber auf«, protestierte ich.

»Doch, ist so.« Charlie nickte und schob nervös die Lippen hin und her.

Ich wehrte ab. »Nein, ich denke, es ist einfach so, dass ich alles von einer gewissen Distanz aus betrachten kann, weil ich da nicht emotional drinstecke. Das macht es sicher leichter, Dinge klarer und objektiver zu sehen.«

»Sicher, das ist natürlich auch richtig.«

Sie hatte inzwischen wieder eine gute Reisegeschwindigkeit erreicht und starrte eine Weile schweigend durch die Windschutzscheibe. Auf einmal kam Spannung in ihren Körper. »Val, ich hab mich eben entschieden. Ich werde nächste Woche, wenn er zwei wichtige Klausuren hinter sich hat, zu ihm rüberfliegen. Dann soll er mir das alles noch mal ins Gesicht sagen, wenn wir uns gegenüberstehen. Und dann werde ich entscheiden«, ließ sie feierlich verlauten. »Danke.« Sie wirkte erleichtert, diese Entscheidung getroffen zu haben. Und hoffnungsvoll.

»Das ist sicher das Beste«, bestätigte ich.

Sie nickte langsam und packte das Lenkrad noch fester an. Dann wandte sie wie ausgewechselt den Kopf zu mir um. »Nun genug von mir. Wie war deine erste offizielle Fahrstunde?«

»Sehr gut!«, antwortete ich begeistert. »Mr Leighton ist echt sehr nett.«

»Und wie kamst du mit dem Verkehr klar?«

»Eigentlich kein Problem. Habe nur ein paar Verkehrszeichen übersehen.«

»Ach ja?« Sie hob die Augenlider weit nach oben. »Hoffentlich keine wichtigen?«

»Nur ein Stoppzeichen«, sagte ich, es übertrieben als nichtig abtuend.

»Ach so, dann ist es ja nicht so schlimm«, meinte sie sarkastisch grinsend. »Nein, im Ernst, Val, wenn du dich reinhängst, kannst du doch relativ schnell die Prüfung machen.«

»Hab ich auch vor.«

»Beeil dich mal, dann kannst du mich bald kutschieren.«

»Auf jeden Fall«, erwiderte ich selbstbewusst.

Der Stau löste sich auf und wir kamen wieder richtig gut voran. Im Radio sprachen sie von der Notlandung einer kleinen Privatmaschine auf der Autobahn, aber wir hörten nicht mehr richtig hin und wechselten wieder zum CD-Player.

Das Treppenhaus roch angenehm nach Reinigungsmitteln, als wir in den ersten Stock hinaufgingen. Charlie schloss die überdimensionale, schwarz lackierte Wohnungstür auf und legte ihre Handtasche und die Autoschlüssel auf das hohe Tischchen unter dem großen Flurspiegel. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Wir ließen unser Gepäck auf die hellen Holzdielen fallen und warfen uns in die beiden vor dem Fenster stehenden Sessel. »Tadaaa«, machte Charlie und breitete die Arme wie zu einem Willkommensgruß aus. Wir lachten uns an, doch ich wurde von dem desaströsen Motiv auf ihrem Shirt wieder hypnotisch angezogen und mein Blick rutschte unweigerlich herab. Ich verzog gequält das Gesicht.

»Was?«, funkelte sie mich unwirsch an.

»Charlie, das Shirt ist grauenvoll.«

»Findest du?«

»Absolut.«

»Warum hast du das nicht in New York gesagt?«

»Hab ich doch. Als du es anprobiert hast. Du hast es an mir vorbeigeschmuggelt. Ich hab’s erst in dem Café wiedergesehen.«

Die Ertappte grinste scheinheilig. »Ach ja, stimmt.« Sie blickte an sich herunter. »Ist es wirklich so schlimm?«

»Scheußlich wäre noch geschmeichelt. Meine Augen brennen schon«, bestätigte ich ihr in unwiderruflichem Ton.

Sie presste ein unterdrücktes Lachen hervor. Zu meiner Erleichterung war sie nicht beleidigt. »Du hast recht, es ist scheußlich.« Mit einem Ruck federte sie lachend vom Sessel hoch, krallte ihre Tasche und flitzte ins Schlafzimmer. »Ich werde dich von dem Anblick erlösen«, rief sie aus dem angrenzenden Zimmer herüber und ich hörte, wie sie den derben Reißverschluss ihrer Louis Vuitton-Tasche aufriss.

Ich bückte mich zu meinem Rucksack und zog eine Wasserflasche heraus. Während ich mehrere kleine Schlucke nahm, sah ich mich um. Charlies Dad hatte die Jugendstilwohnung kurz vor seinem Tod renovieren lassen und sich dabei von Charlies Geschmack, der in Einrichtungsdingen überraschend treffsicher war, unterstützen lassen. Alles war in sehr hellen Pastellfarben – sandfarben, beige, grau und weiß – abgestimmt und die klassischen Möbel, die hier vorher gestanden hatten, waren durch moderne ersetzt oder neu bezogen worden. Die schneeweiß gestrichenen Türen und Fenster stachen effektvoll von der hellgrau gestrichenen Wand ab.

Charlies Kopf erschien im Türrahmen. »Ich hoffe, das findest du besser«, sagte sie aufgedreht.

Ich schaute skeptisch, war auf alles gefasst. »Lass sehen.«

Sie sprang nun vollends durch die offene Tür und presste ihre Fäuste wie ein Model in die Taille. »Und, was meinst du?« Gespannt sah sie mich an.

Jetzt hatte sie ein kunstvoll verwaschenes, blass cremefarbenes Rippenshirt mit sehr langen Ärmeln an, darunter blitze ein hellblaues Spitzenshirt hervor und die schwarze Hose hatte sie durch eine hellblaue, auf alt getrimmte Designerjeans ersetzt. Der rehbraune Nietengürtel dazu, farblich abgestimmt mit den Ballerinas, war ein Traum. Man sah, dass es ausgewählte, teure Stücke waren und trotzdem wirkte alles lässig. »Du siehst super aus, Charlie«, kommentierte ich ihren pastellfarbenen Auftritt.

»Danke«, antwortete sie geschmeichelt. Sie ließ sich wieder in dem Sessel mir gegenüber nieder, fuhr sich durch ihre dicke blonde Mähne und schaute aus dem Fenster. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass die Wohnung sie inspiriert hatte. Sie passte nun perfekt zur Einrichtung.

»Ich denke, vielleicht sollte ich doch rüber in die Staaten ziehen und mal sehen, wie es läuft«, griff Charlie unvermittelt ihr vorherrschendes Thema wieder auf. »Eine gemeinsame Wohnung mit Tobey wäre schon schön. Es macht so viel Spaß, etwas Neues aufzubauen, eine Wohnung einzurichten.«

Mein Lächeln gefror. Sie würde fortgehen? »Meinst du das ernst?«, fragte ich mit einem flauen Gefühl in der Magengegend.

»Ich weiß nicht, vielleicht«, sinnierte sie, den leeren Blick auf das vollgestopfte hohe Bücherregal am Ende des Raumes geheftet.

Ich spürte, wie meine Gesichtszüge absackten. »Aber wolltest du nicht erst dein Studium hier beenden?«

Meine Stimme musste jammervoll geklungen haben, denn als sich unsere Blicke trafen, richtete sie sich im Sessel auf. »Ist doch nur so eine Idee. Ich weiß noch nicht. Guck doch nicht so, Val. Selbst wenn ich irgendwann ganz rübergehe, würde ich dafür sorgen, dass wir uns so oft wie möglich sehen können. Dafür lass ich gern die Kreditkarte glühen«, lachte sie aufmunternd.

Der Gedanke gefiel mir trotzdem nicht. Die USA waren nicht mal eben um die Ecke. »Das ist eine Scheißidee, Charlie. Du willst doch wegen ihm nicht dein Studium schmeißen, oder?«, stieß ich hervor. Klar war es egoistisch von mir, aber der Gedanke, meine beste Freundin an die andere Seite des Ozeans zu verlieren, frustrierte mich maßlos.

»Vielleicht verstehst du es, wenn du in eine ähnliche Situation kommst. Den Menschen, den man liebt, möchte man eben immer um sich haben«, sagte sie fast entschuldigend.

Ich fragte mich, ob ich auch für einen Jungen mein Zuhause und meine Freunde aufgeben würde.

Abwesend polierte sie nun mit einem Finger die Nieten auf ihrem Gürtel und sagte leise, als hätte sie meine Gedanken erraten: »Zu Hause ist da, wo er ist.« Dann hob sie den Kopf und sah mich beschwörend an, als wäre sie davon überzeugt, dass ich diese Erfahrung auch eines Tages machen würde. »Wie gesagt, die Würfel sind noch nicht gefallen. Vielleicht überstehen wir die zwei Jahre und ich hoffe immer noch, dass Tobey dann zurückkommt.«

Ich nickte nur und entschied, das Thema erst einmal ganz weit hinten in meinem Kopf zu parken. Man soll sich über ungelegte Eier keinen Kopf machen, fiel mir Dads hilfreiche Devise ein.

Charlie erhob sich. »Ich schlage vor, wir lassen unseren Krempel hier einfach so liegen und ziehen gleich weiter, okay? Wir haben durch den blöden Stau schon genug Zeit verloren.«

»Find ich auch«, erwiderte ich und sprang aus dem tiefen, bequemen Sessel auf.

Die Luft war wunderbar. Ich ließ das Seitenfenster herunter, bevor ich begann, den mitgebrachten Kuchen auszupacken und Charlie ein Stück herüberzureichen, woraufhin ich einen nicht allzu ernst gemeinten strafenden Blick erntete. »Ich probier nur mal. Den Rest isst du, Spargel. Du kannst es vertragen.« Sie biss ein winziges Stück ab, stöhnte »Lecker« und legte das angebissene Stück auf dem Papier in die vordere Ablage, wo sie es fortan unruhig beäugte. Keine zwei Kreuzungen weiter holte sie das Kuchenstück mit einem gemurmelten »Scheiß drauf« wieder heran und verzehrte alles bis auf den letzten Krümel. Entspannt lehnte sie sich auf dem Fahrersitz weit zurück und versprach feierlich, wie gefühlt jeden zweiten Tag: »Ab morgen mache ich Diät.«

»Klar«, erwiderte ich wie immer und wir beide wussten, dass es nicht dazu kommen würde.

In einer kleinen Seitenstraße vor einem alten Kontorhaus fanden wir eine Parklücke und starteten von hier unseren Bummel über den Borough Market, wo die Händler bereits begannen, ihre Waren zusammenzupacken. Dann folgte ein mehrstündiger Marathon durch diverse trendige Vintage Boutiquen. Als wir in dem Gewirr der kleinen Straßen und Gassen endlich unser Auto wiedergefunden hatten, dämmerte es schon leicht, da sich der Himmel komplett zugezogen hatte. Charlie stellte ihre Tasche auf die Motorhaube und begann nach dem Autoschlüssel zu graben. »Wo bist du blödes Ding? Mist! Mist! Mist!«

Es war erstaunlich, wie sie es jedes Mal wieder fertigbrachte, den Autoschlüssel innerhalb der überschaubaren Begrenzung einer Handtasche scheinbar unwiederbringlich zu versenken. Ich schaute ihr amüsiert dabei zu und kaute auf meinem Daumennagel herum, als ich aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung sah. Reflexartig drehte ich mich herum und mein Blick fiel sofort auf ein nur sehr vage zu sehendes, undefinierbares Lichtgebilde, mehrere Schritte von Charlies Wagen entfernt. Es sah aus wie die sehr schwache Reflektion eines glänzenden Gegenstandes. Millionen kleiner pastellfarbener Lichtpunkte ergaben eine diffuse Form ohne exakte Konturen, die kurz über dem Kopfsteinpflaster zu schweben schien. Ich wollte sehen, ob es sich mit meinem Blickwinkel verändern würde, und bewegte mich darauf zu, als es unvermittelt leicht hin und her zu schwingen begann. Es war schwierig, die Größe des Gebildes auszumachen, da ich die Entfernung nicht einschätzen konnte, aber es sah so aus, als hätte es sich jetzt ein Stück entfernt.

Na klar, sehr witzig. Ich hätte auch gleich darauf kommen können. Da saß sicher irgendwo einer mit einem Laserpointer oder so am Fenster und lachte sich scheckig. Gerade wollte ich mich wieder umdrehen, um dem Verursacher keine Gelegenheit zu geben, sich auf meine Knochen zu amüsieren, als die Erscheinung hinter der nächsten Hausecke verschwand, als würde sie sich selbstständig bewegen.

Charlie wühlte immer noch, unflätige Bemerkungen ausstoßend, in ihrer Tasche. »Das gibt’s doch nicht. Der Scheißschlüssel muss doch hier irgendwo sein.«

Ich lief zu der Häuserecke und reckte meinen Kopf vor. Da war es, in der Mitte der Gasse, und schien auf mich zu warten. Was war das für ein Ding? Ich suchte mit intensivem Blick alle Fenster in der Umgebung ab, von denen diese Projektion möglich gewesen wäre. Aber ich entdeckte nichts. Meine Theorie bröckelte.

Der Lichtfleck bewegte sich nun ein wenig weiter und tanzte vibrierend über die Asphaltfragmente der engen Straße, um dann am schmiedeeisernen Gitter am Eingang eines sandfarbenen Hauses mit schwarzen Fensterrahmen zu verharren. Vorsichtig ging ich hinterher, doch es verschwand wiederum hinter der nächsten Hausecke. Blitzschnell rannte ich ihm nach. Das Ding verharrte in einiger Entfernung an einer Steinmauer und ich glaubte jetzt sogar eine leicht fluoreszierende Silhouette auszumachen. Atemlos vom Laufen und vor Aufregung stoppte ich und fixierte es wie ein Jäger seine Beute. Ich strich meine Haare aus dem Gesicht und spähte wieder verstohlen in alle Richtungen und zu den Fenstern der Häuser hoch, aber nichts rührte sich. Wenn da doch irgendein Freak, der sich nun vermutlich vor Lachen bog, etwas auf die Straße projizierte, war er sehr gut getarnt. Unweigerlich musste ich an Katzen denken, die in aussichtlosem Jagdfieber den kleinen roten Punkten, die von Laserpointern erzeugt werden, hinterherrennen. Aber wie kriegt man einen Strahl um eine Hausecke? Unmöglich vom Fenster aus. Und auch auf der Straße war ich ganz allein. Das unergründliche Phänomen huschte weiter die kleine Gasse hinunter und ich versuchte dranzubleiben, aber hinter der nächsten Ecke war es verschwunden. Verloren blieb ich auf einer kleinen Kreuzung stehen und drehte mich wie ein Brummkreisel um meine eigene Achse. Ich kniff meine Augen zusammen und blickte angestrengt, jeden Winkel absuchend, in vier kleine Gassen. Doch es blieb verschwunden. Als ich mich genervt zum Gehen wenden wollte, merkte ich, dass ich nicht ganz sicher war, aus welcher der kleinen Straßen ich gekommen war. Sie sahen alle ganz ähnlich aus. »Verdammt«, schimpfte ich laut.

Ich hörte ein gedämpftes, hohles Lachen, das irgendwo aus einem Hauseingang zu kommen schien. Erst jetzt bemerkte ich, dass dies eine ziemlich finstere Gegend war. Ein mulmiges Gefühl riet mir, schnellstens zurückzukehren. Ich drehte mich um und lief in die schwach beleuchtete Gasse, aus der ich glaubte, gekommen zu sein. Ein Hund bellte und ich hörte, wie eine Dose gekickt wurde. Zu spät bemerkte ich, dass ich genau auf einen leicht schwankenden Mann zulief, der das Geräusch verursachte. Wieder trat er gegen die Dose und sie landete fast vor meinen Füßen.

»Na, Kleine, wo soll’s denn hingehen? Brauchst du Gesellschaft?«

Mein Kopf begann zu glühen. Ich war allein, ich wusste nicht genau, wo ich war, und der Typ sah nicht besonders freundlich aus. Als er fast vor mir stand und mit lüsternem Gesichtsausdruck meinen Arm packen wollte, erinnerte ich mich an den oft in Filmen gesehenen Tritt in die Kronjuwelen eines Mannes und nahm all meinen Mut zusammen, diese Form der Abwehr beherzt auszuführen.

Plötzlich erklang dicht neben mir ein dumpfes, grollendes Knurren. Ich erschrak und zuckte zurück, als etwas mein rechtes Bein streifte. Drohend glitt ein großer, graubrauner Hund heran und schob sich an mir vorbei, den Mann fest fixierend. Konzentriert setzte er eine Pfote vor die andere, den Kopf leicht an die Schultern herangezogen, wie zum Sprung bereit. Das Knurren verstärkte sich. Es war eine Promenadenmischung mit strubbeligem Fell. Und der Hund verstand es, seine blitzenden Zähne in wirklich furchteinflößender Weise zu fletschen.

Der Mann zeigte sich sehr beeindruckt und wirkte schlagartig nüchterner. Er war von mir zurückgewichen, ging rückwärts, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, und schnauzte mich jetzt mit angsterfüllten Augen wütend an: »Ist das dein Köter? So was gehört an die Leine. Am besten verpasst du ihm noch einen Maulkorb. Blödes Biest!« Als er sich ein paar Schritte entfernt hatte, drehte er sich um und rannte, sich immer wieder umblickend, davon. Dabei stieß er irgendwelche Flüche aus.

Ich atmete ein paarmal erleichtert durch. Der Hund folgte dem Mann nicht. Seine Lefzen zuckten nur einige Male, als wollte er seinem Sieg noch einmal Nachdruck verleihen, dann wandte er sich zufrieden um, schaute mich kurz an und verschwand im Schatten eines Hauseinganges.

Das war skurril. Ganz klar, der Hund hatte mich verteidigt. Mein Körper begann leicht zu zittern, als mir bewusst wurde, wie unangenehm diese Begegnung hätte verlaufen können. Ich sah mich um, aber der vierbeinige Retter blieb verschwunden. »Danke, Hund«, murmelte ich erleichtert und rannte in eine der kleinen Straßen zurück, die mir jetzt bekannt vorkam.

An der nächsten Ecke war ich unsicher, ob ich richtig abgebogen war, doch wie an einer Schnur gezogen landete ich wieder in der kleinen Sackgasse, wo Charlie mir aufgeregt entgegensah. »Mensch, wo warst du? Ich rede und rede und als ich mich umdrehe, bist du überhaupt nicht da. Ich habe mir schon die wildesten Gedanken gemacht«, stöhnte sie laut auf und bekräftigte ihren Unmut mit einer Geste ihrer beiden Hände, als müsste sie eine Last abwiegen.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Was denn, ne schwarze Katze?« Sie schien etwas sauer zu sein. »Du kannst doch nicht einfach abhauen. Ich hab einen Mordsschrecken bekommen, als ich merkte, dass ich mit der Luft quatsche. Du warst auf einmal spurlos verschwunden. Sag nächstens wenigstens Bescheid, wenn du wieder Sherlock Holmes spielst.«

»Tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht. Ich wollte dich nicht erschrecken«, meinte ich einsichtig, »aber da war irgendetwas, etwas Unheimliches.«

»Was meinst du?« Sie kam mit skeptischem Blick auf mich zu.

»Es war irgendwie … ein Licht … dreidimensional. Wie ein Objekt oder … eine Gestalt, aber aus flirrender Luft bestehend. Ich weiß auch nicht, wie ich es anders beschreiben soll.«

»Ein Ufo?« Sie grinste spöttisch.

»Quatsch.« Ich war aber doch geneigt, selbst das in Erwägung zu ziehen.

»Das hast du dir doch nur eingebildet, so etwas gibt es nicht.« Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Nein, Charlie, ich bin dem Ding um mehrere Ecken gefolgt.«

Sie runzelte die Stirn. »Du hast doch kein Fieber, oder?«

Jetzt platzte mir der Kragen. »Wieso denkt ihr eigentlich alle immer, dass ich spinne?«, rief ich aufbrausend. »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Du könntest mir wirklich mal glauben.«

Charlie wich mit erhobenen Händen einen Schritt zurück. »Schon gut, war ja nicht so gemeint«, versuchte sie mich zu beschwichtigen. »Wenn du es sagst. Vielleicht war es ja ein Mini-Ufo oder so.«

Ich konnte ihrem Blick ansehen, dass sie mich für übergeschnappt hielt, und es kränkte mich. War denn niemand außer mir bereit, wenigstens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es irgendwelche unerklärlichen Phänomene geben konnte? Vielleicht Ben. Er war zumindest näher an der Materie. Ich beschloss, die Sache nicht mehr zu vertiefen. Da Charlie sich so sehr sperrte, fand ich es müßig, weiter mit ihr darüber zu diskutieren.

»Okay, wahrscheinlich hat mich jemand mit so einer Art Laser-Projektion verarscht und sich irgendwo halb totgelacht«, sagte ich und versuchte, es nicht allzu beleidigt klingen zu lassen.

»Genau«, meinte Charlie und schien erleichtert, sich mit dem Thema nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. »Komm, steig ein, wir fahren jetzt nach Shoreditch rüber und gehen was essen.«

Ich erwähnte das Ereignis das ganze Wochenende nicht mehr, obwohl es mich noch eine Weile beschäftigte.

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer

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