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SEPTEMBER

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Dienstag, 6. September

Liebes Tagebuch,

der Labor Day ist offiziell vorüber. Der Fernsehen zeigt nur noch das Testbild, eine bunt gestreifte Erinnerung daran, dass es schon längst Schlafenszeit ist. Trotzdem zögere ich, nach oben ins Bett zu gehen, denn die Nacht, die vor mir liegt, wird schlaflos und schweißgebadet sein, zersiebt von Albträumen und Grübelattacken, und das Morgengrauen wird viel zu früh dämmern.

So war es jedes Jahr, denn Labor Day ist immer auch D-Day. Der Feiertag markiert den Beginn eines neuen Schuljahres, und - wieder einmal - den Wechsel an eine andere Schule. Die Apollo ist High School Nummer Drei in meinem Werdegang. Zum dritten Mal alles auf Anfang, alles neu - neue Klassenräume, neue Stundenpläne, neue Gesichter. Die Unbefangenheit des Sommers, diese zweieinhalb Monate der Sorglosigkeit - dahin. Die Sonne verdrängt von Neonlicht, das Vogelgezwitscher von gehässigem Teenagerlachen.

Aber dieses Jahr wird alles anders! Aus den Gesprächstherapien mit Dr. Loomis bin ich mental gestärkt hervorgegangen. Das behaupte nicht ich, sondern der Doc höchstselbst. Ich mache einen guten Eindruck, so seine Worte am Ende unserer letzten Sitzung. Ich denke, er hat recht. Die langen Ferien haben meine Batterien aufgeladen. Ich bin bereit, mich in den Alltag zu stürzen.

Pasteur hat sich bereits zurückgezogen. Der Anblick des leeren Sofas macht mich traurig. Ich habe das Gefühl, dass Pasteur in den letzten Wochen immer weiter auf Abstand zu mir gegangen ist. Vielleicht spürt er meine wachsende Nervosität? Er ist ja so ein Sensibelchen. Wahrscheinlich räkelt er sich gerade oben auf der Bettdecke, ohne Probleme, sich Morpheus hinzugeben. Wie ich ihn darum beneide. Was würde ich geben, um mit Pasteur zu tauschen - mit ihm, der sich keine Gedanken über das Morgen machen muss.

Stop! Schon wieder ertappe ich meine Gedanken dabei, wie sie ins Negative abdriften, in diesen Teufelskreis aus Zweifeln und Hinterfragen. Genau davor hat mich der Doc gewarnt. Mein größter Feind befindet sich in meinem Kopf, hat er gesagt, und damit jedes Mal das Bild eines breitbeinig auf meinem Hirn reitenden Teufelchens hervorgerufen.

Liebes Tagebuch, ich klammere mich an dich als meinen treuen Begleiter, und an den Gedanken, dass alles gut wird, dass sich die Dinge schon irgendwie fügen werden. Mit diesem Glauben – nein, dieser Gewissheit! –, schnippe ich das Teufelchen von meinem Hirn und gehe nach oben, gelassen und ohne Furcht.

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Das Schuljahr mit den sechs Todesfällen begann für Paul mit Verspätung. Schuld war der verdammte Bus. Offenbar hatte sich seine Fahrerin noch nicht wieder an den neuen, alten Tagesrhythmus gewöhnt. Zeitgleich mit dem Gongschlag für den Unterrichtsbeginn bog sie in die Haltebucht.

Paul hastete über den Streifen Betonplatten, der den wuchernden Rasen in zwei Hälften schnitt, auf den Haupteingang zu, das Gewicht des Skateboards schwer an seinem linken Arm pendelnd. Mit der Schulter drückte er gegen die Außentür. Kaum war er durch die schmale Öffnung geschlüpft, fiel sie schon wieder hinter ihm zu und klemmte eine der Skateboardrollen ein. Fluchend befreite Paul das Board aus dem Klammergriff der Tür, durchquerte den mit grobgeriffelten Fußmatten ausgelegten Vorraum, öffnete eine zweite Tür und stand im Gebäude.

Wie jeden Morgen in den vergangenen Jahren fuhr ihm der typische Schulgeruch in die Nase. Nach zweieinhalb Monaten Pause wirkte er intensiv und frisch, doch Paul wusste, dass es keine Stunde dauern würde, bis diese ganz spezielle Mischung aus Bohnerwachs, gebrauchten Büchern, Kreide und schwitzigen Turnschuhen sich so in seinem Geruchssinn eingenistet hatte, dass er sie nicht mehr wahrnehmen würde. Und wie jeden Morgen streifte sein Blick auch heute als Erstes den pompösen Glasschaukastens, der so installiert war, dass der Blick eines jeden eintretenden Schülers gar nicht anders konnte, als ihn zu streifen.

Automatisch registrierte Paul sein eigenes Gesicht, verzerrt zu einer flüssigen Maske aus Silber und Gold in drei Reihen blank polierter Pokale, die von den sportlichen Leistungen vergangener Jahre kündeten. Einen Großteil verdankte die Schule ihrem Footballteam, den Apollo Starfighters, doch auch die Leichtathleten und Basketballer hatten einen beträchtlichen Beitrag zu der Trophäensammlung geleistet. Plaketten mit Porträts und eingravierten Namen ehrten die erfolgreichsten Spieler. Im Hintergrund hing die Flagge mit dem Schulwappen. So unbefleckt weiß wie ihr Seidenstoff strahlte, bestand kein Zweifel, dass sie noch nie an einem Mast geweht hatte. Ein das Siegel umkreisender Text informierte über Name und Anspruch dieser Institution:

Apollo High School

Erfolg durch Bildung

Paul verschwendete keinen Gedanken an Bildung oder Erfolg. Während rechts und links die Schüler in ihren Klassenräumen verschwanden, durchschritt er das Erdgeschoss wie ein olympischer Schnellgeher, und fragte sich, welcher von den Spinden, an denen er gerade vorbei hetzte, wohl Joanne gehören mochte.

Der Anblick der Schließfächer weckte Erinnerungen an seine ersten Tage an der Apollo. Als unsicherer Freshman war er durch genau dieses System fensterloser Gänge geirrt, in der Hand den kopierten Lageplan, den man ihm am Einführungstag als Teil seines Begrüßungspakets überreicht hatte. Trotz dieser Orientierungshilfe fand er die eingezeichneten Klassenräume nie rechtzeitig. Das Innere der Schule kam ihm vor wie ein riesiges Labyrinth. Hinter jeder Ecke sah es gleich aus - nikotingelb gekachelte Wände und endlose Spindreihen, dasselbe fahle Neonlicht, dasselbe Salz-und-Pfeffer Muster auf dem Linoleumboden.

Doch schneller als erwartet verwandelte sich der Irrgarten in ein logisch konstruiertes Karree, im Aufbau geradezu lächerlich einfach. Zwei Stockwerke mit quadratischen Grundrissen, die Geradlinigkeit ihrer Seiten nur sporadisch unterbrochen von Abzweigungen zu Turnhalle und Werkstatt. Die Flure begannen sich in Details voneinander zu unterscheiden. Mit jedem Tag fand Paul sich besser zurecht, und ohne dass er es merkte mutierte die Apollo High von einem fremdartigen Planeten zu seiner zweiter Heimat und der Lageplan landete im Papierkorb.

Durch eine Doppeltür, beidseitig schwingend wie der Eingang eines Westernsaloons, zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, eine weitere Doppeltür, und Paul war im Obergeschoss.

Abgesehen von vereinzelten Zuspätkommern lag das Reich der Juniors und Seniors, der Upperclassmen, verlassen da. Aus den Klassenräumen drangen gedämpfte Stimmen, die mehr oder weniger enthusiastisch den Fahneneid runterrasselten. Wäre Paul pünktlich gewesen, würde die Luft hier oben jetzt vibrieren vom hundertfachen Scheppern zuschlagender Spindtüren und dem Stimmengewirr des morgendlichen Informationsaustausch. Die letzten Meter auf dem Weg zu seinem Spind waren für gewöhnlich ein Spießrutenlauf durch den Parcours jugendlicher Subkulturen. Denn wie an jeder High School waren auch an der Apollo die sozialen Claims streng abgesteckt.

Gleich neben der Tür zum Treppenhaus versammelten sich traditionsgemäß die Sportler, die sich aus diversen Untergruppen zusammensetzten. Strömungsgünstig kahl geschorene Schwimmer mit V-förmigen Oberkörpern. Basketballer, die auch abseits des Spielfelds ihre Nike Airs in Größe 48 und schlabbrige Nummernshirts in den Schulfarben Gold und Schwarz trugen. Ringer, deren Würfelköpfe ohne Umweg über einen Hals direkt auf den Schultern gewachsen zu sein schienen. Und natürlich die Footballer, einige von ihnen verantwortlich für die Pokale am Haupteingang. Für gewöhnlich tauschten sie sich lautstark über die Spielergebnisse des Wochenendes oder die physischen Vorzüge ihrer weiblichen Pendants aus, den Cheerleadern der Apollo Rockettes, die auf der gegenüberliegenden Gangseite so taten, als ob sie den Sitz ihrer Dauerwelle prüften, und dabei in ihren Schminkspiegeln ihrerseits beobachteten, welcher der Jungs ihnen gerade auf den Hintern glotzte.

Wenn die Footballer nicht gerade schwatzten und glotzten, standen sie mit dem Rücken an ihre Spinde gelehnt, die Arme vor den hochgezüchteten Brustkörben verschränkt, wohlwissend, dass sie die heimlichen Herrscher der High School waren. Jeder Vorbeigehende wurde taxiert und bei Bedarf (und Bedarf gab es immer - Klamotten der falschen Marke, fehlender Bizeps, die Frisur vom Vorjahr) angepöbelt. Auch wenn sie ihn meist übersahen, hatte Paul schnell gelernt, dass man als Opfer derartiger Pöbelattacken besser jeden Augenkontakt vermied und schnellen Schritts zu einer der harmloseren Gruppen weiterzog.

Wie den Metalheads. Die wachsende Popularität des kürzlich auf Sendung gegangenen Musikkanals MTV hatte ihnen reichlich Zulauf beschert. Schulfarben waren hier verpönt. Der Dresscode schrieb Lederjacken und Jeanswesten vor, letztere über und über benäht mit den Patches der Lieblingsbands. Unter dem Leder trug man ärmellose schwarze T-Shirts, bedruckt mit Bandnamen in unleserlich-aggressiver Typografie. Haare, die über den Schultern endeten, führten zum Gruppenausschluss. Sie führten ihre Gespräche ähnlich laut wie die Sportler, aber in ihnen drehte es sich nicht um Spielergebnisse oder irgend etwas, das auch nur rudimentär mit Schule zu tun hatte, sondern um wichtigere Themen wie den Tourkalender von Iron Maiden und welcher Bassist im Headbanger's Ball auf Adam Currys Sofa gekotzt hatte.

Optisch weniger interessant kamen die Nerds daher, eine Ansammlung zukünftiger Informatikstudenten, die zu oft War Games geschaut hatten und an der Apollo einen regen Schwarzmarkt für raubkopierte Computerspiele betrieben. Sie hielten den Notendurchschnitt an der Schule hoch. Jeder von ihnen hatte mindestens ein Stipendium einer angesehenen Universität in der Tasche, und im Jahrbuch fand man unter der Rubrik Höchstes Aussicht auf akademischen Erfolg stets ein Foto eines ihrer Gruppenmitglieder

Zuletzt folgte ein verstreutes Häufchen Schwarzer, das sich pausenlos mit Yo Niggah! anredete und mit Hilfe von Baggy Pants, Raiders-Kappen und Goldschmuck ihr Vorstadtgangsterimage pflegte. Da fast alle von ihnen auch Sportler waren, kam es hin und wieder zu einer Überlappung der beiden Gruppen (dagegen hörte kein Schwarzer jemals Iron Maiden oder würde sich auch nur in der Nähe der Nerds erwischen lassen). Selbst wenn man die weißen Möchtegern-Hip-Hopper mitzählte, die sich in ihrem Dunstkreis aufhielten, rechtfertigte ihre Anzahl kaum die Anerkennung als eigenständige Gruppe. Auf die Apollo High ging zu 99% der Nachwuchs der weißen Mittelklasse. Schließlich stand sie nicht im Herzen der Bronx, sondern am Rande von Plainsville, New Jersey.

Ganz am Ende des Gangs, passend in die hinterste Ecke gedrängt, lag das Auffangbecken für den Rest. Für die, die in keine der anderen Cliquen passten, die weder Sport trieben noch Fan irgendeiner obskuren Band waren, keine Artikel für den Apollo Observer schrieben, weder am Schachklub, der Matheliga oder sonstigen "außerkurrikulären Aktivitäten" teilnahmen, und deren Schulleistungen so durchschnittlich waren wie ihr Aussehen. Die Unauffälligen und Eigenschaftslosen waren weder beliebt noch unbeliebt. Unbemerkt hatten sie sich durch die Schuljahre gemogelt, ohne bei Mitschülern oder Lehrern bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ihre Anwesenheit störte niemanden, weil keiner sie bemerkte. Sie waren ihr eigener Klub, eine Art Klub der Unsichtbaren. Und der offizielle Vorstand, dachte Paul, als er seinen Spind fast erreicht hatte, das waren er und Mark.

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Greg saß in seiner Schreib- und Leseklasse und überlegte, ob er sich mehr über den ersten Schultag oder seinen neuen Helm freuen sollte.

Mom sagte immer, er wachse schneller wie eine Bambusplantage. Greg wusste zwar nicht, was eine Bambusplantage war, aber er verstand, dass er es diesem bambusschnelle Wachstum zu verdanken hatte, sich endlich von seinem alten Helm trennen zu dürfen. Mom war mit ihm in diesen Laden in der großen Stadt gefahren, wo sie oft Sachen für ihn kauften, die man nur dort fand. Dort gab es ein Regal mit ganz vielen Helmen, und er hatte sich den aussuchen dürfen, der ihm am besten gefiel. Seine Wahl war sofort auf das rote Exemplar gefallen, nicht nur, weil rot seine Lieblingsfarbe war, sondern auch weil der Helm mit einem schnittigen gelben Blitz auf der Vorderseite dekoriert war. Er hatte ihn aufgesetzt und sich darunter sofort wohl gefühlt.

In seinem kurzem Leben hatte Greg schon viele Helme getragen, und manchmal hasste er sie – sogar die feuerroten mit Blitz. Dann engten sie seinen Kopf ein, oder der Kinnriemen schnitt in seinen Hals und hinterließ rote Striemen, und dann wollte er sie sich am liebsten runterreißen. Doch Mom hielt ihn jedes Mal zurück und erklärte ihm, dass der Helm wichtig war, denn ohne ihn würde er sich wehtun, wenn er einen seiner "Anfälle" bekam.

Weh tun wollte Greg sich nicht, weh tun war ganz schlecht, aber es gab Momente, da wurde der Zwang, seinen Kopf gegen die Spindtür oder die nächstgelegene Wand zu schlagen, so unerträglich, dass er nicht anders konnte, als ihm nachzugeben. Regelmäßig fand er sich danach auf dem Boden wieder, den Mund voll Schaum, über ihm die besorgten Mienen von Lehrern und das Grinsen der anderen Kinder. In solchen Momenten war er dankbar für seinen Helm. Und seinen neuen mochte er ganz besonders, nichts drückte oder schnitt. Seine Klassenkameraden hätten ihn ganz sicher beneidet - wenn Greg welche gehabt hätte.

Doch der Platz neben ihm war leer, und auch auf den anderen Stühlen saß niemand. Es gab nur Greg und seinen Lehrer. Mom sagte, das lag daran, dass er etwas ganz Besonderes war. So besonders, dass es einen Lehrer nur für ihn allein gab. Darauf war er stolz, aber trotzdem hätte er gerne ein paar Klassenkameraden gehabt.

"Na Greg, wie kommen wir voran?" Der Lehrer sah ihm über die Schulter. Stolz zeigte er ihm die wackeligen Buchstaben, die er zu Papier gebracht hatte.

"Ganz toll!" Greg fühlte eine tätschelnde Hand auf seiner Schulter. Bestimmt war dem Lehrer auch seine neue Kopfbedeckung aufgefallen. Greg lächelte. Ein Spucketropfen seilte sich auf das Heft ab und verwischte eines der mühsam gemalten Gs.

Schnell wischte er den Speichel mit seinem Ärmel weg. Das passierte jedes Mal, wenn er aufgeregt war – er fing dann an zu sabbern, was ihm beinahe noch unangenehmer war wie seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen und danach am Boden aufzuwachen. Sabbern war so unartig wie das Runterreißen des Helms, doch er konnte nichts dagegen tun. Und gerade jetzt war er besonders aufgeregt, denn diese große Lücke, die Mom "Sommerferien" nannte, war endlich vorbei.

Greg hatte die großen Ferien als eine nicht enden wollende Leere empfunden, unterbrochen nur von den wöchentlichen Arztbesuchen. Die meiste Zeit hatte er in seinem Zimmer verbracht und sich vorgestellt, er wäre eines der Kinder, die auf ihren bunten Fahrrädern unter seinem Fenster entlang radelten. Doch daran war nicht zu denken, denn Mom achtete peinlichst genau darauf, dass er nicht allein auf die Straße ging. So wie sie auch immer ein Auge darauf hatte, auf welchen Gegenständen er gerade herumkaute, dass er sich regelmäßig wusch und nicht in der Nase bohrte. Vor Mom blieb nichts verborgen.

Selbst der Helmkauf und die Tatsache, dass er jeden Morgen die Looney Tunes und jeden Nachmittag diese neue Serie mit dem sprechenden Auto sehen durfte, konnten Greg nur vorübergehend darüber hinweg trösten, dass er seine Freunde im Sommer nicht sah. Er vermisste sie - den schweigsamen Dünnen, und den Dicken, den er ganz besonders mochte, weil der immer so lustige Sachen machte, die Greg zum Lachen (und leider auch zum extremen Sabbern) brachten. Die beiden waren seine allerbesten Freunde. In ihrer Nähe fühlte er sich sicher, denn er wusste, dass sie nie gemein zu ihm sein würden. Nicht so wie einige der großen Schüler beim Treppenhaus, die ihm manchmal schmutzige Wörter nachriefen oder sogar so böse anrempelten, dass er hinfiel. Nein, so etwas würden seine Freunde nie mit ihm machen.

Eines Morgens, als Greg sich bereits damit abgefunden hatte, die Schule nie mehr wieder zu sehen, hatte Mom ihm den Rucksack gepackt und an der Straße mit ihm gewartet, bis der gelbe Bus um die Ecke bog und vor ihrem Haus hielt. Es war ein Spezial-Bus, der von vorne aussah, wie all die anderen Schulbusse, aber nur halb so lang war. Ein Spezial-Bus für einen speziellen Jungen, hatte Mom gesagt.

Der Gong riss Greg aus seinen Gedanken. Er klappte sein Heft zu. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er seine beiden Freunde wieder sah. Vor lauter Vorfreude machte er sich ein wenig in die Hose.

-

"Wird auch Zeit", schallte es Paul entgegen. Mark trug eines seiner geliebten NASCAR-Shirts, grellfarbig bedruckt mit dem Steilkurvenduell zweier Rennwagen. Darunter wölbte sich ein ansehnlicher Bauch, der die Autos verzerrte, als betrachte man sie durch ein Vergrößerungsglas.

Mit jedem Jahr schien dieser Bauch um einige Zentimeter im Umfang zu wachsen. Noch keine Achtzehn, und Pauls einst drahtiger Spielkamerad fing an, sich in seinen Vater zu verwandeln. Der Begriff "dickster Freund" bekam plötzlich eine völlig neue Bedeutung.

Und dickste Freunde waren sie, seit Paul denken konnte. Mehr als das, Mark war so etwas wie ein Bruderersatz. Ihr kollektives Gedächtnis reichte so weit zurück, dass Paul sich nicht erinnern konnte, ihn nicht gekannt zu haben.

Vergilbte Fotos zeigten Baby Paul und Baby Mark in derselben Krabbelgruppe. Später tauschten sie im Sandkasten Förmchen, noch etwas später lernten sie gemeinsam Alphabet und Grundrechenarten. Marks Familie wohnte direkt nebenan, was es leichter machte, sich nachts mit Taschenlampe und Dosentelefon zu illegalen Erkundungen der Nachbarschaft zu verabreden.

Mark Senior war ein begnadeter Mechaniker. Irgendwann schmiss er seinen Job hin und wagte den Sprung in die Selbständigkeit. Er eröffnete seine eigene Werkstatt, die er - etwas einfallslos - Mark's Auto Repair nannte. Der Laden lief gut. Zu gut, für Pauls Geschmack, denn das erfolgreiche Geschäft bedeutete das Ende der Nachbarschaft. Marks Familie zog in eine andere Straße, in ein komfortableres Haus. Glücklicherweise lag es nur eine viertelstündige Fahrradfahrt entfernt, so dass die Freundschaft keinen Schaden nahm.

Ein Jahr verging, dann trennten sich Marks Eltern. Für Mark begann ein tränenreicher Lebensabschnitt, an dessen Ende er bei seinem Vater und das Haus bei seiner Mutter blieb, die es kurze Zeit später verkaufte um mit ihrem neuen Partner irgendwo in Kanada zu leben. Ihre Briefe an Mark wurden kürzer und weniger, bis der Kontakt vollständig versickerte. Das letzte Lebenszeichen war eine Postkarte aus Anchorage. Mark Junior und Senior lebten fortan in den Räumen über der Werkstatt, die Senior zu zwei Wohnungen ausbaute.

Schwere Pranken fielen auf Pauls Schultern. Mark rüttelte an seinem Oberkörper, als wolle er ihn aus der Bewusstlosigkeit wecken.

"Seniors! Der Anfang vom Ende, Alter! Noch ein Jahr, und wir haben diesen ganzen Scheiß hinter uns."

Mark machte eine ausschweifende Handbewegung, die den Umfang von "diesen ganzen Scheiß" verdeutlichen sollte. Dann bemerkte er das Skateboard. Seine Unterlippe schob sich vor und verlieh ihm das Aussehen eines verdutzten Karpfens.

"Was willst du damit?" Mark nickte dem Board zu. "Du kannst doch gar nicht skaten."

"Vielleicht habe ich es ja den Sommer über gelernt."

"Sicher", lachte Mark, als gäbe es nichts Unwahrscheinlicheres als Paul auf einem Skateboard. "Demnächst kommst du dann wieder auf dem BMX-Rad zur Schule?"

Paul überhörte Marks Ironie und drehte das Zahlenschloss an seinem Spind. Ganz automatisch erinnerten sich seine Finger an die Kombination, ein über die Jahre eingeprägter Reflex.

Der Anfang vom Ende.

Mark hatte recht. In einem Jahr würde es keinen Spind mehr geben. In einem Jahr würden seine Finger anfangen, die Zahlenkombination zu verlernen, weil er sie nie wieder brauchen würde. In einem Schuljahr. Zehn Monate. Und dann? Er verstaute Rucksack und Skateboard und schlug die Spindtür zu.

"Ich muss los. Wir sehen uns." Mark schlug ihm auf den Rücken und schlurfte ohne Eile der ersten Unterrichtsstunde entgegen.

Das Chemiebuch unterm Arm lief Paul in die entgegengesetzte Richtung zum Labor. Die neue Lehrerin war gerade dabei, ihren Namen an die Tafel zu schreiben. Schalgi oder Shalge, Paul konnte die zittrige Handschrift nicht entziffern. Bevor sie sich umdrehte, rutschte er auf den einzigen freien Platz. Dabei stieß er sein Knie schmerzhaft gegen den Stuhl vor ihm. Sein Vordermann richtete sich auf, drehte sich in Zeitlupe zu Paul um und musterte ihn.

Paul erstarrte. Brian "Wolf" Wilson. Ausgerechnet.

Jeder in der Schule wusste, dass Brian Wilson (offenbar waren seine Eltern Fans der Beach Boys) von allen Schülern derjenige war, gegen dessen Stuhl man besser nicht stieß. In ihm waren Skrupellosigkeit und Kleiderschrankstatur eine instabile Verbindung eingegangen. Es gab Gerüchte, dass selbst einige Lehrer bereits unangenehme Bekanntschaft mit Brian gemacht hatten – besonders dann, wenn er nicht die Zensuren bekam, die er erwartete. In jedem Fall war es ratsam, nicht auf seiner schwarzen Liste zu landen.

Brians Augen verengten sich zu zwei bedrohlichen Schlitzen.

"Tut mir leid, Mann", krächzte Paul. Instinktiv wich er so weit zurück wie sein Sitzplatz es zuließ, darauf gefasst, jeden Moment die Ergebnisse von Brians täglichem Krafttraining am eigenen Körper zu spüren. Eine Ewigkeit geschah nichts. Dann drehte sich Brian wieder zurück.

Manchmal war es von Vorteil, unsichtbar zu sein.

-

Auch wenn der Coach eine Million Mal versucht hatte, es ihm zu erklären - was Chemie mit Football zu tun hatte, blieb Brian ein Rätsel.

"Willst du das Slayton-Stipendium?" Das Gesicht des Coachs war so nahe an Brians, dass sich ihre Nasen fast berührten.

"Logisch."

Der Coach verpasste ihm eine Ohrfeige. "Willst du es wirklich?"

Natürlich war der Coach der einzige, der sich dergleichen erlauben durfte ohne danach seine Knochen einzusammeln. Brian respektierte ihn, wie er niemanden sonst respektierte, denn der Coach verstand das Spiel.

"Ja."

"Ein Wolf bekommt immer, was er verdient. Sprich es mir nach!"

"Ein Wolf bekommt immer, was er verdient."

"Und verdienst du es?"

"Verdammte Scheiße, ja!", schrie Brian.

Der Coach trat einen Schritt zurück und senkte seine Stimme auf Zimmerlautstärke.

"Dann reiß dich zusammen. Denn ohne Chemie wird das nichts. Ein Vollstipendium fällt einem nicht in den Schoß. Schon gar nicht in Slayton. Oder willst du in irgendeinem Loserteam dein Talent vergeuden?"

Natürlich wollte Brian das nicht. Er wollte nach der High School in das beste Team von allen, und das spielte nun mal für die Slayton University.

Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Den SAT, den Standard-Aufnahmetest der Universitäten, hatte er gründlich vergeigt. Jetzt wurde die Luft dünn, denn Slayton verlangte auch von seinen zukünftigen Footballstars zumindest durchschnittliche Noten in mindestens einer Naturwissenschaft. Den Sinn dahinter verstand Brian so wenig wie Chemie selbst.

Atome, Moleküle, organische und anorganische Verbindungen – das war definitiv nicht seine Welt. Seine Welt war das Spielfeld hinter der Schule, oder jedes andere Stück Rasen, das man in 5-Yard-Abschnitte unterteilen konnte. Und nun hing sein gesamter Werdegang an diesem verfluchten Fach. Jedes Mal, wenn er über diese Ungerechtigkeit nachdachte, fing es in Brian an zu brodeln. Zur Beruhigung schob er sich einen Priem Kautabak in die Backe.

Es half auch nicht, dass er bei Rachel in letzter Zeit nur noch eine Statistenrolle spielte. Seitdem sie dieses Buschmädchen adoptiert hatte, landete er kaum noch einen Stich. Früher hatte Rachel nicht genug von ihm bekommen. Aber seit einem Monat waren sie nie mehr allein - wie ein Kleinkind musste die Dschungellady überall mit hingeschleppt werden. Jeder seiner Annäherungsversuche erstarb unter Rachels gezischten "nicht jetzt", "nicht hier". Sie blockte seine gierigen Hände ab und schob ihn von sich wie ein lästiges Insekt.

Am Tag an dem Brian von der Ankunft des Buschmädchens erfahren hatte, war die vage Hoffnung auf einen flotten Dreier aufgekeimt. Und wieder zerstoben, als Rachel ihm den Neuankömmling präsentierte. Was als exotische, vollbusige Schönheit durch seine nächtlichen Fantasien gespukt war, entpuppte sich als bleiches Bügelbrett in Pennerklamotten, so prickelnd wie ein Schluck Lebertran.

Brian hatte die Schnauze gestrichen voll. Das war doch alles Bullshit. Er, ein Mann der Tat, fühlte sich nur noch als Spielball von Kräften, die außerhalb seiner Kontrolle lagen.

Die Lehrerin betrat das Labor. Eine neue. Auf einmal schöpfte Brian neuen Mut. Wie sie mit zittrigen Fingern ihren Namen auf die Tafel kritzelte, ihre geduckte Statur, das alberne blümchenverzierte Notizbuch auf dem Pult - mit ihr würde er leichtes Spiel haben.

Um seine Theorie zu testen, spuckte er einen Strahl Kautabak auf den Boden. Die Lehrerin drehte sich nach dem schmatzenden Geräusch um. Ihr Blick fiel erst auf den braunen Fleck am Boden, dann auf Brian. Er sah ihr fest in die Augen. Schon machte sie den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich wieder der Tafel zu.

Also hatte Brian Recht gehabt. Schwäche spürte er instinktiv, und er wusste sie zu nutzen. Ja, man konnte sagen, dass er eine Schwäche für Schwäche hatte. Er musste über sein eigenes Wortspiel lächeln.

Das Lächeln erstarb, als der Typ hinter ihm gegen seinen Stuhl trat. Brian drehte sich um und sah sich zum zweiten Mal innerhalb einer Minute mit Schwäche konfrontiert. Hinter ihm saß ein hagerer Typ, mit Armen wie ein zwölfjähriges Mädchen. Es war offensichtlich, dass er noch nie das Innere eines Fitness-Studios gesehen hatte.

Der Schlaks nuschelte eine halbherzige Entschuldigung. Brian wägte kurz ab, ob er ihm eine Lektion in Respekt erteilen sollte, wie er es in solchen Situationen grundsätzlich zu tun pflegte. Seine Faust kribbelte bereits in freudiger Antizipation, aber er entschied sich dagegen. Der Typ schien die Mühe nicht wert. Außerdem hatte Brian Wichtigeres zu tun. Er musste einen Schlachtplan entwerfen, um diesen Kurs zu überstehen. Denn wenn er es diesmal nicht schaffte, konnte er sich das Stipendium mitsamt seiner Zukunft in den durchtrainierten Hintern schieben.

-

Im Grunde war es der Wunsch ihrer Eltern gewesen, Ale für ein Schuljahr in die USA zu verfrachten. Es wird gut für deine Englischkenntnisse sein, so ihre Worte, gut für deine Karriere. Der amerikanische High School Abschluss wird dir jede Menge zusätzliche Türen öffnen.

Ale hatte zustimmend genickt, dabei hatte sie nicht einmal den Ansatz einer Ahnung, was sie nach der Schulzeit mit ihrem Leben anstellen wollte. Aber die Aussicht auf die Freiheit, die ein langer Auslandsaufenthalt versprach, weckte ihre Abenteuerlust, und die Hochglanzfotos in den Broschüren der Vermittlungsagentur taten ihr Übriges und lockten mit dramatischen Weitwinkelaufnahmen von Wolkenkratzern und perlweißen kalifornischen Stränden.

Schon sah sich Ale in den nie schlafenden Straßenschluchten des Big Apple, und gleich darauf Hand in Hand mit einem wasserstoffblonden Beach Boy Spuren im Sand von Malibu hinterlassen. Ein Beach Boy wie aus Rachels Lieblingsserie entsprungen, in der die Rettungsschwimmer aussahen wie die Chippendales auf Strandurlaub, und alle Frauen Brüste groß wie Volleyballhälften vor sich hertrugen.

Statt unter der Sonne Malibus landete sie in einem nüchternen Städtchen namens Plainsville, irgendwo im Nirgendwo. Ihre neuen Eltern auf Zeit nahmen sie warmherzig in ihrem Zuhause auf und waren sichtlich bemüht, Interesse an Ales Heimat zu zeigen. Doch mit der Einkehr des Alltags verebbte ihre Neugier auf ferne Kulturen und die Gespräche wurden kürzer. Ihre gleichaltrige Gastschwester Rachel, in der Ale gehofft hatte, eine beste Freundin zu finden, entpuppte sich als oberflächliche Quasselstrippe, die die meiste Zeit mit ihrem klotzigen Boyfriend abhing. Der Kerl folgte Rachel wie ein Schatten und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu begrapschen, ohne Rücksicht auf Ales Anwesenheit. Mit stolzer Stimme hatte Rachel ihr erklärt, dass er an der Schule so etwas wie eine sportliche Berühmtheit war, ein begnadeter Footballspieler und Kapitän der Apollo Starfighters. Ihm war es zu verdanken, dass seine Mannschaft im vorigen Jahr irgendein blödes Tournier gewonnen hatte.

Football. Darum drehte sich hier alles. Ein stumpfsinniges und grobschlächtiges Spiel, in dem es vorwiegend darum zu gehen schien, den Gegner anzurempeln. Ein Spiel wie das Land. Trotz der Namensähnlichkeit hatte es rein gar nichts mit dem ungleich eleganteren Fußball gemeinsam. Rachels Versuche, ihr die komplizierten Spielregeln zu erklären, hatten nicht gefruchtet. Das Einzige, was Ale behalten hatte, war, dass der Stürmer Quarterback genannt wurde. Dies war die Position, auf der Rachels Freund spielte, was sie so oft betont hatte, bis Ale von dem Wort träumte. Die Cheerleaderin und der Quarterback - gab es ein größeres Klischee? Es klang wie von einem schlechten Autoren erdacht.

Ales neues Zuhause bot sämtliche Annehmlichkeiten, die sich ein Teenager wünschen konnte, inklusive einem beheizbaren Swimming Pool im Garten. Ihr Zimmer besaß ein King-Size Wasserbett und einen begehbaren Kleiderschrank. Purer Luxus im Vergleich zu den fünfzig Quadratmetern, die sie sich daheim mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern teilen musste. Aber auch nach einem Monat war Ale die neue Umgebung fremd wie am ersten Tag. Sie vermisste die Wärme, in der Luft wie in den Menschen. Jedes Mal, wenn sie das Haus verlies, hatte sie das Gefühl, ein Vakuum zu betreten. Die Bürgersteige vor den gepflegten Rasenflächen schienen nur zu Dekorationszwecken gebaut. Fußgänger hatte Ale seit ihrer Ankunft keine gesehen. Nur selten fuhr ein Auto vorbei, und wenn, dann war es der Briefträger, der jeden Tag ein Kilo Werbung hinterließ.

Bei Ale zu Hause wuselten Menschenmassen zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Straßen. Sie war aufgewachsen mit einem Soundtrack aus Hupen und Motorenlärm. Hier dagegen herrschte meist eine derart beklemmende Stille, dass man glaubte, taub geworden zu sein.

Deshalb hatte Ale das Ende der Sommerferien herbeigesehnt. Der Schulanfang würde alles ändern – sie würde neue Freunde finden, aufregende Dinge erleben, auf Parties gehen, Spaß haben. Am letzten Ferientag konnte sie vor Aufregung kaum einschlafen.

Natürlich hatte Rachel vergessen, den Wecker zu stellen. Fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn bogen sie in ihrem Cabrio auf den Schülerparkplatz der Apollo High School, ein schmuckloser Klotz aus drei Schichten Ziegel und Beton.

Zeit, ihre Bücher in den Spind einzuräumen, blieb Ale keine. Im Laufschritt näherte sie sich ihrer allerersten Schulstunde an der Apollo. Obwohl sie genau wusste, was auf dem Programm stand, warf sie einen erneuten Blick auf ihren Stundenplan und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel, irgendeine göttliche Fügung möge diesen kurzfristig ändern. Ihr Gebet blieb ungehört. Im ersten Fach der Dienstagsspalte stand unverrückbar: Grundkurs Sport. Ausgerechnet. Nicht amerikanische Geschichte. Nicht englische Literatur. Selbst Mathe wäre okay gewesen, aber Sport? Ale konnte keine hundert Meter laufen, ohne Seitenstiche zu bekommen. Bälle fing sie so schlecht wie sie sie warf, Schwimmen hatte sie nie gelernt, und beim Turnen gelang ihr nicht einmal eine gerade Rolle vorwärts. Sie hatte sich mit ihrem fehlenden Bewegungstalent abgefunden und in ihrer Heimatschule Sport nach der fünften Klasse abgewählt. Nun begegnete sie ihrem Hassfach erneut, denn in diesem Land besaß Sport einen anderen Stellenwert und war Pflichtfach.

Ale drehte den Stundenplan um und studierte die Karte, die Rachel ihr aufgemalt hatte. Wo verdammt war die Turnhalle?

Verloren geisterte Ale durch die Flure. Egal, um welche Ecke sie bog, überall sah es gleich aus. Fenster gab es keine, dafür uringelbe Kacheln und dieses grässliche Neonlicht, das die Gesichter auf den Gängen noch fremder aussehen ließ. Als sie zum dritten Mal an derselben Spindreihe vorbeikam, gab Ale auf, schnappte sich eines der Neongesichter und fragte nach dem Weg.

Kurze Zeit später jagte eine übergewichtige Lehrerin sie mit Kasernentonkommandos durch ein Zirkeltraining das für irgendeine besonders schlagkräftige Spezialeinheit der amerikanischen Streitkräfte entwickelt worden sein musste. Jeder Gesprächsversuch mit Leidensgenossen erstickte im Kreischen der Trillerpfeife. Am Ende der Sportstunde konnte man mit Ale den Hallenboden aufwischen.

Obwohl sie bereits am Boden lag, trat das Schicksal noch einmal nach. Irgendwo auf dem Weg zurück von der Umkleidekabine musste sie ihr Medaillon mit dem heiligen Christophorus verloren haben. Ales Mutter hatte es ihr zum Abschied auf dem Flugplatz umgehängt, mit dem Versprechen, dass es sie auf ihrer langen Reise beschützen würde.

Ale hielt sich nicht für besonders abergläubisch, aber der frühe Verlust ihres Schutzpatrons konnte nur ein böses Omen sein. Sie spürte einen schmerzhaften Stich von saudades, eine quälende Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Das Medaillon bedeutete ihr eine Menge. Es war ein kleines Stück Heimat fern der Heimat gewesen. Die Vorstellung, dass es nun unter irgendeinem amerikanischen Turnschuh klebte, machte sie wütend und traurig.

Ale seufzte. Vielleicht urteilte sie vorschnell über das fremde Land und durchlebte gerade den Kulturschock, vor dem sie die Vermittlungsagentur gewarnt hatte. Sie blieb stehen und starrte auf Rachels Lageplan wie eine ratlose Schatzsucherin, während um sie herum alle Schüler zielstrebig ihres Weges gingen. Ein dickes Kreuz markierte die Position des ihr zugeteilten Schließfachs. Wenn sie die Kritzeleien ihrer Gastschwester korrekt interpretierte, befand es sich am Ende des Gangs.

Außer Atem erreichte Ale ihren Spind und ließ schweißnasses Turnzeug und Bücher zu Boden fallen. Gerade frisch geduscht, war sie bereits wieder völlig durchgeschwitzt. Mit feuchten Fingern fischte sie aus ihrer Jeans den kleinen Zettel mit der Zahlenkombination, die den Spind öffnen sollte. Wie man es ihr am Orientierungstag vorgeführt hatte, drehte sie das Rädchen erst nach rechts bis zur Dreizehn, dann zurück auf die Neun und wieder im Uhrzeigersinn zur Sechzehn. Sie zog an der Verriegelung - nichts. Sie prüfte die Kombination und wiederholte die Prozedur, ohne Erfolg. So sehr sie auch zog und ruckelte, die Tür weigerte sich beharrlich, aufzugehen.

Ale sah sich um. Schräg gegenüber kaute ein feister Typ kuhgleich auf seinem Kaugummi und redete gleichzeitig auf eine abgemagerte Gestalt ein, die aus unerfindlichen Gründen einen knallroten Helm trug. Von den beiden Clowns war sicher keine Hilfe zu erwarten. Alle anderen Schüler eilten mit Scheuklappen an ihr vorbei.

Ale seufzte ein zweites Mal, ließ sich gegen die widerborstige Spindtür fallen und verfluchte sämtliche Länder nördlich des Äquators. Schweißtropfen rannen ihr über die Stirn und ihre Kehle brannte vor Trockenheit. Zum Glück war nur wenige Schritte neben ihrem Spind ein Trinkbrunnen an der Wand angebracht. Vielleicht hatte Fortuna endlich ein Einsehen mit ihr.

-

"Was gab's zum Auftakt?", fragte Mark, während er das Innere seines neuen Senior-Spinds mit Fotos dekorierte, die wahlweise kurvige Frauen, Sportwagen, oder kurvige Frauen auf Sportwagen zeigten.

"Chemie", sagte Paul.

"Und, wie war's?"

"Derselbe Scheiß, anderes Jahr."

"Du sagst es, Mann!", lachte Mark und füllte die letzte Lücke mit einer Autogrammkarte von Pamela Anderson. Stolz trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk.

"Was meinst du? Komme ich damit durch das Jahr?"

Paul verdrehte die Augen, öffnete seinen Spind und warf das Chemiebuch auf das oberste Regal. Die Innenseite seiner Tür präsentierte sich im unbeklebten Beige. Vielleicht sollte er das mit ein paar Skateboardstickern ändern?

Beim Anblick des jungfräulichen Blechs warf Mark ihm einen mitleidigen Blick zu und ließ eine Kaugummiblase platzen.

"Dein Spind ist nackter als ein Pavianarsch. Hier, nimm eine von meinen." Er reichte Paul das zerfranste Foto eines nicht mehr ganz frischen Bikinimodells.

"Ich bekomme die Ausschussware? Vielen Dank."

"In der Not muss der Teufel Fliegen fressen."

"Wenn man vom Teufel spricht…"

Paul nickte den Gang hinab. In der Ferne waberte ein leuchtend roter Fleck inmitten der Schülerköpfe.

Special Ed galt an der Apollo als feste Institution. Als hätte sich ein sadistischer Schöpfer an ihm ausgetobt, vereinte er sämtliche Eigenschaften, die man niemandem wünschte. Er war zu klein und zu dünn geraten, seine Haut bis auf ein Minenfeld aus Muttermalen weiß wie Holzleim, die Zähne lückenhaft und schief, eulenhaft vergrößerte Augen hinter Flaschenbodengläsern, das Kinn auf der Flucht. Ed bewegte sich nie geradlinig, sondern mal schlüpfrig wie ein Aal, mal wie ein Spielzeugroboter mit schwächelnden Batterien. Auf dem Rücken trug er stets den gelben Rucksack mit den zwei reflektierenden Silberstreifen, zum Bersten gefüllt wie man es sonst nur bei den Obdachlosen auf der Main Street sah.

Und als Krönung dieser entwürdigende Kopfschutz, der ihm das Aussehen eines Anti-Superhelden verlieh. Nur ein einziges Mal hatte Paul Special Ed den Helm abnehmen sehen. Eds Ohren waren dabei in einem 90 Grad Winkel hervorgefloppt, was ihm eine frappierende Ähnlichkeit mit Alfred E. Neuman vom Mad Magazine verlieh.

Niemand kannte Special Eds richtigen Namen. Paul erinnerte sich noch gut an den Tag ihrer ersten Begegnung. Es war der Beginn ihres Sophomore-Jahres. Urplötzlich war Ed neben Mark aufgetaucht, wie von einem anderen Planeten herab gebeamt. Er stand nur da und grinste sein breites Ed-Grinsen.

Mark schob seine Unterlippe vor und musterte ihn von oben bis unten.

"Wer sind sie, und was wollen sie?", fragte er mit gespielter Autorität, nachdem er Eds Anblick verdaut hatte. Als Antwort hielt Ed ihm seinen Stundenplan vor die Nase. Unter jedem Wochentag war Special Ed eingetragen, die Bezeichnung für den Sonderunterricht an der Apollo. Mark nahm die Steilvorlage dankbar an und nannte Ed ab diesem Tag nie wieder anders . Paul ahnte, dass Ed damit noch ganz gut weggekommen war. Andere hätten ihn vermutlich Krüppel-Keith oder Spasti-Steve getauft.

Sein neuer Name hinderte Ed nicht daran, sie weiter regelmäßig zu besuchen. Warum sich Ed gerade Paul und Mark auserkoren hatte, wusste nur er selbst. Hätten sie in der Flurecke eine Bar betrieben – Ed wäre ihr treuester Stammgast.

Mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn, so wie man sich an eine quietschende Tür gewöhnt. Ed wurde zur Konstante. Er gehörte irgendwie dazu, auch wenn er meist nur da stand, sie beobachtete und grinste. An guten Tagen stieß er undefinierbare Geräusche aus, an schlechten verströmte er den Geruch von Urin. Nie sah man ihn in der Nähe anderer Schüler.

Wenn Ed sich durch die Gänge schlängelte, teilte sich die Menge vor ihm wie das rote Meer unter Moses Händen. Wer ihn kannte, sah angestrengt durch ihn hindurch. Wer ihn nicht kannte, glotzte ihn erst ungläubig an und sah dann angestrengt durch ihn hindurch. Außer für ein paar Footballspieler, die sich einen Spaß daraus machten, ihm einen Bodycheck zu verpassen, war Ed so unsichtbar wie lauwarme Luft. Paul und Mark gaben sich als Einzige mit ihm ab, auch wenn Eds Anwesenheit primär Marks Unterhaltung diente. Wer, wenn nicht Special Ed qualifizierte sich so perfekt als vollwertiges Mitglied im Klub der Unsichtbaren?

Ed glitt zwischen Paul und Mark und grinste.

"Neuer Helm, Meister?", fragte Mark und klopfte mit dem Fingernagel auf den Blitzaufkleber. "Schnittig."

Ed nickte begeistert.

Mark nahm das Hubba Bubba aus dem Mund und hielt es demonstrativ in die Höhe. Es sah aus wie ein pinkfarbenes Miniaturgehirn.

"Jetzt pass mal gut auf, mein Freund."

Er wartete einen Moment, bis keine Schüler seinen Weg kreuzten, ging zum Trinkbrunnen auf der gegenüberliegenden Seite und drückte die rosa Masse halb über die Öffnung des Wasseraustritts. Ed begleitete den Vorgang mit breitem Grinsen.

Es dauerte nicht lange, bis Marks infantiler Scherz sein erstes Opfer fand. Ein durchgeschwitztes Mädchen näherte sich dem Trinkbrunnen mit der Gier einer Verdurstenden. Paul konnte sich nicht erinnern, sie jemals an der Schule gesehen zu haben. Das Mädchen beugte sich hinab und drückte auf den Edelstahlknopf. Der Wasserstrahl, durch das Hubba Bubba in einen für die Durstige unerwarteten Winkel gelenkt, traf sie genau zwischen den Augen.

Mark prustete in seine Armbeuge. Sein ganzer Körper bebte vor Gelächter. Ed machte ein gurgelndes Geräusch und verlor eine beträchtliche Menge Speichel. Paul seufzte. Mark schien auf Ewig dazu verdammt, ein Kind zu bleiben.

"Hey du."

Hinter Mark stand das Mädchen und tippte ihm auf die Schulter. Über ihre Stirn rannen Tropfen, die Schweiß oder Trinkwasser sein konnten. Mark unterbrach seinen Lachkrampf und drehte sich um. Noch bevor er seine Gegnerin einschätzen konnte, verpasste ihm das Mädchen einen Schwinger direkt auf die Nase. Mehr aus Überraschung als von der Wucht des Boxhiebs taumelte Mark rückwärts in seinen Spind und blieb in einer Haltung irgendwo zwischen Sitzen und Stehen in der Türöffnung stecken. Mit beiden Händen hielt er sich die Nase und stieß einen Zischlaut aus. Paul beobachtete fasziniert, wie sich ein scharlachrotes Rinnsal den Weg über Marks Kinn suchte. Ed verdrückte sich in die Ecke und sah noch dünner und bleicher aus als sonst.

Als Mark sich vom ersten Schock erholt hatte, funkelte er das Mädchen an.

"Fuck, was hast du für ein Problem?"

"Was hast DU für ein Problem? Denkst du das ist lustig?" Sie sprach mit einem kantigen Akzent.

Mark wusste nicht, was er sagen sollte und wischte mit dem Handrücken über seine Nasenlöcher. Plötzlich hellte sich seine Miene auf.

"Lehrkörper", raunte er Paul zu und nickte Richtung Brunnen. Paul erkannte seine neue Chemielehrerin. Acht Augenpaare verfolgten, wie Mrs. Schalge (oder Schalgi?) sich hinab beugte und den Knopf drückte. Das Wasser trat in einem kräftigen Strahl aus, traf zielsicher ihr Brillenglas und zerstob in unzählige Spritzer, die auf ihrer rüschenbesetzten Bluse ein feines Rorschachmuster hinterließen. Die Lehrerin sah sich um, ängstlich, als hätte sie einen Fehler begangen. Diesmal gelang es Mark, sein Lachen unter Kontrolle zu halten. Er setzte sein bestes Pokerface auf. Inzwischen war sein Nasenblut quer über den Mund verschmiert, so dass er mehr aussah wie Batmans Joker als ein Unschuldsengel. Doch selbst wenn sie in Mark den Täter vermutet hätte – die arme Frau wirkte so verschüchtert, dass sie wohl nie gewagt hätte, ihn – oder irgend jemanden – zu beschuldigen. Die Brille mit dem Zipfel ihrer Strickjacke trocknend ging sie davon, als wäre nichts passiert.

"Mein Gott, seid ihr Amerikaner alle so kindisch?", fragte das fremde Mädchen.

"Hauptsächlich Mark", sagte Paul.

"Was soll das heißen, ihr Amerikaner? Wo kommst du denn her?"

"Aus São Paulo."

Mark zögerte. "In Texas?"

Ale verdrehte die Augen.

"São Paulo ist die größte Stadt in Brasilien. Das ist in Südamerika", fügte sie hinzu, als sie Marks leeren Blick bemerkte.

"Du bist aus Brasilien?"

"Sou, o senhor."

"Siehst aber nicht so aus."

"Ach ja? Wie sehen wir denn deiner Meinung nach aus?"

"Naja, irgendwie… kurviger."

"Also eher wie du?"

"Eher wie die da." Mark zeigte auf das Foto einer Brünetten, die sich in einem Stofffetzen, der gerade noch als Bikini durchgehen konnte, auf der Motorhaube eines Ferrari räkelte.

"Dann bin ich wohl die goldene Ausnahme."

Brasilien. Paul überlegte, was ihm dazu einfiel. Samba, Karneval, Copacabana kamen ihm in den Sinn, und ja, er musste zugeben, auch das Bild exotischer Strandschönheiten in mikroskopischen Stringtangas. Das Mädchen vor ihm verkörperte eher das Gegenteil. Abgesehen von den schwarzen Haaren sah sie gänzlich unbrasilianisch aus – flachbrüstig, hellhäutig (wenn auch nicht Special-Ed-hellhäutig) mit Sommersprossen, in gedeckten Farben gekleidet. Keine Spur von Karneval an ihr.

"Und wie gefällt's dir so in Amerika?", fragte Mark.

"Ich BIN aus Amerika." Sie funkelte ihn an.

"Schon gut." Mark hob abwehrend die Hände, als ob sich für den nächsten Schlag wappnete. "Dann eben in Plainsville."

"Ist ganz okay."

"Ich bin übrigens Mark."

"Ale", sagte das Mädchen.

"Alley?" Marks Lachen kehrte zurück. "Wie der Hinterhof?"

"Wie A-L-E. Kurzform von Alessandra."

"A-L-E? Das spricht man aber Ehl aus."

"Ich glaube, ich weiß wie man meinen Namen ausspricht."

Ed war schon vor einer Weile sein Grinsen vergangen. Mit unsicherer Miene verfolgte er das Geschehen. Die Anwesenheit der schlagfertigen Fremden schien ihn zu verwirren. Er machte ein glucksendes Geräusch.

"Was ist mit ihm?", fragte Ale.

"Das ist Special Ed. Ist 'ne lange Geschichte. Aber er gehört zu uns". Mark klopfte Ed gönnerhaft auf die Schulter. Eds Miene entspannte sich.

"Ich muss los, das Foto fürs Jahrbuch machen lassen. Ausgerechnet jetzt." Mark hantierte an seiner Nasenspitze, als hätte er Angst, sie könne jeden Moment abfallen. Ale reichte ihm ein Kleenex.

"Tut mir leid wegen deiner Nase. Frieden?"

"Meinetwegen." Sie reichten sich die Hände. "Sorry wegen dem Wasser."

Schon halb auf dem Weg zum Fotografen, drehte Mark sich noch einmal um.

"Hey, ALE, sag mal was auf Spanisch."

"In Brasilien sprechen wir Portugiesisch, du Ignorant"

Mark zuckte mit den Schultern. "Was auch immer."

"Foda se", rief Ale ihm zum Abschied hinterher.

"Klingt cool", befand Mark und war verschwunden. Auch Ed humpelte wer weiß wohin. Für einen stummen Moment standen Paul und Ale sich gegenüber. Sie sah ihn an, als würde sie ihn erst jetzt richtig wahrzunehmen.

"Ich bin Paul", sagte Paul.

"Freut mich. Kannst du mir zeigen, wie man das blöde Zahlenschloss aufbekommt?" Ale gab ihm den Zettel mit der Kombination.

"Klar." Sie gingen zu ihrem Spind, und Paul führte ihr vor, wie man das Rädchen einmal über die Null zurückzudrehen musste, bevor man die zweite Ziffer einstellte. Der Spind ging auf.

"Obrigada. Danke."

"Kein Problem. Man sieht sich." Paul fiel ein, dass auch er noch ein Date mit dem Jahrbuchfotografen hatte.

-

Auf seinem grüngelben Aufsitzmäher zog Darren kleiner werdende Kreise und betrachtete sein Werk. Allmählich verwandelte sich der Schulrasen von einer Wildblumenwiese zurück in die akkurat gestutzte Grünfläche, die er sein sollte.

In den Tagen vor und nach Schulanfang gab es für Darren immer das Meiste zu tun. Klemmende Tafeln, die er mit ein paar Tropfen seines Spezialöls wieder gangbar machte. Spinde, die nach Zwangsöffnung verlangten, weil ein Schüler seine Zahlenkombination vergessen hatte. Neonröhren, die das Ende ihrer Lebenszeit erreicht hatten. Darren kümmerte sich um alles, bohnerte die Böden und ersetzte Projektorbirnen genau so wie Tische oder Stühle, die das Opfer von Vandalen geworden waren. Und an Vandalen herrschte an der Schule kein Mangel. Toilettenwände wurden beschmiert und Böden bespuckt. Ein paar ganz Schlaue machten sich einen Sport daraus, regelmäßig die Trinkbrunnen mit Kaugummi zu verstopfen, so dass Darren die ekelhafte Ehre hatte, diese mit seinem altbewährten Leatherman aus der Öffnung zu pulen.

Das ganze Wochenende schon war er von einer Baustelle zur nächsten gehetzt. Heute stand der Außenbereich auf der Agenda, und langsam sah er Licht am Ende des Arbeitstunnels.

Aus dem Augenwinkel nahm Darren eine Bewegung wahr. Zwei Schüler kamen aus dem Haupteingang geschlurft, mit einer Lethargie, wie sie nur High School Seniors in derartiger Perfektion beherrschten. Einer von ihnen, ein feister Typ mit roter Säufernase, rief irgendwas und winkte ihm zu.

Darren hatte keine Ahnung, wer die beiden waren oder was sie wollten. Wahrscheinlich irgendwelche Idioten, die sich mehr oder weniger heimlich über ihn lustig machten.

"Na, ihr Arschlöcher", rief Darren und winkte zurück, wohlwissend, dass das Dröhnen des Rasenmähers jedes seiner Worte verschluckte.

Natürlich war er sich seines Status als Witzfigur wohl bewusst. Ein alter Mann mit den roten Micky-Maus-Ohren des Gehörschutzes, auf einem John Deere Mäher, der aussah wie die Mini-Trecker, die man zwischen ähnlich geschrumpften Jeeps und Feuerwehrautos auf Kinderkarussells fand. Aber das Gespött der Schüler konnte ihm schon lange nichts mehr anhaben. Knapp dreißig Jahre Hausmeisteralltag hatten ihm ein dickes Fell wachsen lassen. Und nachmittags, wenn die Schüler zu Hause über ihren Hausaufgaben brüteten, verschoben sich die Machtverhältnisse. Dann war er es, der an der Apollo das Kommando hatte.

Darren drehte eine letzte Runde und fuhr am Gehweg vorbei. Löwenzahn spross aus jeder Ritze zwischen den Betonplatten. Ein klarer Fall für den Kantenschneider. Er wendete den Mäher und steuerte auf seinen Geräteschuppen zu. Sobald er den Wildwuchs beseitigt hatte, würde er sich eine wohlverdiente Zigarette gönnen. Danach stand seine Lieblingsaufgabe an – der Kontrollgang durch das Schulgebäude.

Darren grinste, denn er wusste, dass es einiges zu kontrollieren gab.

-

Nach Unterrichtsschluss trafen sich Paul und Mark am Trophäenkasten. Seit Mark ein Auto besaß, chauffierte er Paul damit nach Hause, wann immer es sein Zeitplan erlaubte. Im Gleichschritt trotteten sie Richtung Parkplatz.

"Ich hasse es, fotografiert zu werden", sagte Paul

"Besser als Unterricht."

"Wozu soll der Blödsinn mit dem Jahrbuch überhaupt gut sein?"

"Damit deine Freunde sich in zehn Jahren darüber lustig machen können, wie du heute aussiehst."

"Als ob sich in zehn Jahren noch irgend jemand an uns erinnern wird."

"Klar werden sie das, Alter. Wir sind doch die wahren Rockstars hier."

"Nur ohne Band und Groupies."

Mark nickte in Richtung Hausmeister, der auf seinem lächerlichen Aufsitzmäher über den Grünflecken vor der Schule ratterte und eine gestutzte Rasenbahn hinterließ.

"Da ist einer, an den sich jeder erinnern wird."

Dirty Darren war an der Schule eine lebende Legende. Immer, wenn es irgendwo etwas zu reparieren gab, war er zur Stelle. Jeder Schüler kannte ihn, trotzdem schien niemand Näheres über ihn zu wissen, weder seinen Nachnamen noch sein genaues Alter. Seinen Spitznamen hatte er erhalten, weil man ihn nur in dem blauen Overall kannte, der für gewöhnlich übersät war mit Grasflecken und anderen schmierigen Hinterlassenschaften seines Tagwerks. Unter den Schülern kursierten Gerüchte, dass Dirty Darren außerhalb der Apollo nicht existierte. Abhängig vom Erzähler schlief er mal zwischen den Heizkesseln im Schulkeller, mal in seinem Geräteschuppen. Manche behaupteten, er benötige überhaupt keinen Schlaf und wandere nachts ruhelos durch die Schulflure. Mit dem silbernen Vollbart erinnerte er Paul immer an das Schwarz-Weiß-Porträt von Ernest Hemingway auf dem Buchumschlag von "Der alte Mann und das Meer".

Mark winkte Darren zu.

"Fuck you, du alter Sack!", rief er, als Darren aufsah.

"Hey, was machst du denn?", fragte Paul.

"Der hört nichts unter seinen Micky-Maus Ohren."

"Trotzdem. Dirty Darren ist doch in Ordnung." Paul erinnerte sich an eine Episode aus seiner Freshmanzeit, an dem er seine Kombination vergessen und der Hausmeister ohne großes Aufheben den Spind für ihn geknackt und ihm einen neuen Zahlencode eingestellt hatte.

"Deshalb sag ich es ihm ja auch nicht ins Gesicht."

Darren winkte zurück und rief etwas, das im Knattern des Mähers unterging. Dann wendete er und verschwand hinter dem kleinen Holzverschlag, der sämtliche Werkzeuge beinhaltete, die zur Instandhaltung einer High School nötig waren.

Der Gedanke an Dirty Darrens Geräteschuppen weckte in Paul nostalgische Gefühle, an eine Zeit, in der die 80er Jahre frisch und unschuldig waren und der Alltag voller Geheimnisse steckte.

An jenem Sommertag, an dem Paul und Mark bechlossen, ihrer zukünftigen High School einen Antrittsbesuch abzustatten, brannte die Sonne unbarmherzig von einem wolkenlosen Himmel. Sie sattelten ihre BMX-Räder und strampelten fünf endlose Meilen durch die klebrige Hitze. Dehydriert und mit verbrannten Nacken bremsten sie am Haupteingang und starrten ehrfurchtsvolle auf den Schichtkuchen aus rotem Backstein und Zement, der ihre neue akademische Heimat werden sollte. Dies also war die Apollo – der magische Ort, an dem die Großen zur Schule gingen. In wenigen Wochen, wenn die Ferien vorbei waren, würden auch Paul und Mark Mitglieder dieser privilegierten Vereinigung sein. Goodbye Grundschule, für immer.

Sie fuhren um das Gebäude herum über den Rasen, um sich die Sportanlagen auf der anderen Seite anzusehen. Auf halbem Weg stießen sie auf Darrens Schuppen.

"Was da wohl drin ist?", fragte Paul.

"Wir werden es nie erfahren, wenn wir nicht nachschauen." Mark ließ sein Rad ins Gras fallen und spähte durch eines der Quadrate in dem winzigen Sprossenfenster.

"Kannst du was sehen?"

"Ist zu dunkel." Er kniete sich hin und zerrte an der Unterkante eines der Holzbretter.

"Was machst du da?", fragte Paul.

"Siehst du doch. Los, hilf mit."

Gemeinsam rüttelten sie der Reihe nach an diversen Brettern, bis sie eines fanden, das locker genug saß. Der rostige Nagel löste sich quietschend aus dem Querbalken, und Mark bog das Brett zur Seite wie den Zeiger einer Turmuhr.

"Gehen wir mal rein."

"Und wenn der Hausmeister uns erwischt?"

"Wenn schon. Was soll er machen? Uns den Kopf abschneiden?"

Zehn Jahre waren ein Alter, in dem es gerade noch als cool durchging, in einen fremden Schuppen einzudringen. Nacheinander zwängten sie sich durch die schmale Lücke ins Innere.

"Wow", sagten sie gleichzeitig.

Sie wagten kaum zu atmen. An einer Wand hingen Gartengeräte. Scheren, Harken, Schaufeln – allesamt neu und unbenutzt aussehend. Die staubigen Lichtstrahlen, die durch die Ritzen ins Innere drangen, verwandelten sie in mysteriöse Skulpturen. Auf der Werkbank lagen nach Größe sortierte Maulschlüssel, pedantisch aufgereihte Schraubenzieher, Imbusschlüssel und Zangen. Darunter standen Elektrogeräte, deren Funktion sich Paul nicht erschloss. Mittendrin parkte der Aufsitzmäher, damals noch ein älteres Baujahr, angestrahlt von der Sonne, die durchs Fenster fiel, wie ein Star im Spotlight.

Es waren nur Werkzeuge, doch sie erschienen wie seltsame Gegenstände aus einer fremden Welt – der unbekannten Hausmeister- und Gärtnerwelt, die sich in diesem Augenblick mit der naiven Welt der Zehnjährigen kreuzte.

"Wir sollten besser gehen", flüsterte Paul.

"Gleich." Mark inspizierte einen weißen Schrank in der Ecke. Er zog an der Tür, die sich mit einem schmatzenden Geräusch öffnete. Im Schrank wurde es hell.

"Ein Kühlschrank." Marks Kopf verschwand in dem Licht. "Yeah, Cola!"

Mark nahm sich eine Dose und warf Paul eine andere zu.

"Mark, lass uns abhauen."

"Sofort. Nur noch austrinken."

Er setzte sich auf den Mäher, öffnete die Dose und spielte an den Hebeln und Knöpfen des Minitraktors.

Paul rechnete damit, dass der Hausmeister jeden Moment hineinstürmen und die Heckenschere von der Wand reißen würde. Riesig wie sie war, hätte er mit einem einzigen Schnitt sowohl seinen als auch Marks Kopf abtrennen können. Doch alles blieb still.

Schließlich wurde Mark langweilig. Sie krochen zurück ins Freie und schoben das Brett an seine ursprüngliche Position. Nichts wies darauf hin, dass der Schuppen unberechtigt betreten worden war.

"Bereit für den Pussy Magnet?"

Marks Stimme riss Paul der Vergangenheit. Sie waren auf dem Schülerparkplatz angekommen. Was Mark als Pussy Magnet bezeichnete, war ein schwarz lackierter 82er Pontiac Firebird Trans Am. Der Wagen war ein eineiiger Zwilling von KITT, dem Auto, das David Hasselhoff in der TV-Serie Knight Rider fuhr – minus den roten Lauflichtern unter der Motorhutze und der Fähigkeit zu sprechen (auch wenn Paul den Verdacht hatte, das Mark durchaus das eine oder andere Wort mit seinem Wagen wechselte).

Der Pussy Magnet war Marks ganzer Stolz. Er hatte ihn von seinem Vaters zum 16. Geburtstag bekommen, vielleicht als Entschädigung dafür, dass Mark seine Teenagerjahre mit ihm als alleinigen Erziehungsberechtigten verbringen musste. Der Pontiac war wenig mehr als ein Wrack gewesen, doch gemeinsam hatten sie ihn nach und nach in einen straßentauglichen Zustand versetzt und vor dem drohenden Rendezvous mit der Schrottpresse bewahrt. Auch wenn der namensgebende Stoßstangenaufkleber das Gegenteil behauptete, blieb das Auto eine Dauerbaustelle, die weit davon entfernt war, als Pussy Magnet durchzugehen. Mit diesem Wagen würde Mark bestenfalls die Nachbarskatze anlocken.

Wenn Mark die V8-Maschine überhaupt zum Laufen bekam, gurgelte sie in aufdringlicher Lautstärke so unrund, dass er sie vor jeder Ampel durch geschicktes taktieren mit dem Gaspedal am Absterben hindern musste. In voller Fahrt dagegen übertrug sie ihre Vibrationen auf die Karosserie und brachte nicht nur die Motorhaube, sondern auch die Unterkiefer der Mitfahrer zum Klappern.

Paul schlängelte sich in den tiefen Sitz neben Mark und sie verließen den Parkplatz. Eine Weile fuhren sie schweigend.

"Jetzt mal raus mit der Sprache", sagte Mark an einer roten Ampel und zeigte auf das Skateboard, dessen Spitze aus Pauls Rucksack lugte. "Was soll der Scheiß mit dem Board?"

Paul rutschte ein wenig tiefer in den Sitz.

"Also," sagte er zur Windschutzscheibe. " Ich hab da dieses Mädchen gesehen...",

"Aha!", rief Mark, als sei er auf Gold gestoßen. "Weiter!"

"Vor zwei Monaten ist sie mit ihrer Familie in unsere Straße gezogen. Und sie geht auf die Apollo."

Die Ampel sprang auf grün. Mark beschleunigte.

"Und der Name der Auserwählten ist?"

"Joanne. Stand jedenfalls auf dem Klingelschild."

"Du hast bei denen geklingelt?"

"Nein, nur das Schild gesehen."

"Und Joanne skatet?"

"Ich sehe sie hin und wieder mit ein paar anderen auf dem Kirchenparkplatz gesehen".

"Weshalb du natürlich auch skaten musst." Mark lachte.

"Ich dachte, das Board wäre ein guter Eisbrecher."

"War es das?"

Paul zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Es gab noch keine Gelegenheit, es einzusetzen."

Mark setzte den Blinker und bog in Pauls Straße ein.

"Wo wohnt sie denn?"

"Gleich da vorn." Paul zeigte auf ein Haus, das wie alle anderen in der Straße aussah. Mark bremste den Pontiac auf Schrittgeschwindigkeit.

"Was machst du denn? Fahr weiter."

"Ich will nur mal sehen, wer dir so den Kopf verdreht."

Gemeinsam starrten sie eine Minute auf das Haus. Der Motor brabbelte vor sich hin. Mark drückte auf die Hupe und der Pussy Magnet blökte auf.

Paul riss an Marks Handgelenk. "Hey! Hör auf."

"Ich dachte, du willst sie kennen lernen."

"Aber nicht auf diese Art. Nicht wenn du -"

"Nicht wenn ich dabei bin? Verstehe."

"Du weiß schon, was ich meine."

Mark legte den Gang ein. Zehn Sekunden später kam der Pontiac vor Pauls Garagentor zum Stehen. Die Bremsen fiepten wie ein sterbender Hund.

"Ein Tinnitus klingt angenehmer als dein Auto", sagte Paul.

"Sind frische Beläge drauf, aber ich muss da noch mal bei. Jetzt lenk' nicht ab. Hast du wenigstens schon mal mit dieser Joanne geredet?"

"Noch nicht so viel. Eher gar nicht."

Mark verdrehte die Augen. "Ich fasse zusammen: du hast dich in deine neue Nachbarin verguckt, weißt aber nichts über sie und hast sie noch nicht einmal angesprochen. Umgekehrt ist ihr nicht einmal bewusst, dass du existierst." Mark bohrte seinen Zeigefinger gegen Pauls Stirn. "Trotzdem ist dein kleines Hirn voller Hoffnung."

"Mag sein."

"Das mag nicht nur sein, das ist so."

"Was macht ausgerechnet dich zu einem Beziehungsexperten?"

"Du hast keine Beziehung", sagte Mark.

"Du erst recht nicht."

"Ich nehm' ja auch nicht die Erstbeste."

Paul lachte.

"Lach du nur. Ab heute sind wir Seniors. Da wird sich alles ändern."

"Was soll das ändern?"

"Denk nach! Was findet am Ende des Schuljahres statt?"

"Der Abschlussball?"

"Eben."

"Und?"

Mark sah Paul ungläubig an. "Alter, der Senior Prom ist nur an der Oberfläche eine Tanzveranstaltung. In Wirklichkeit geht es da um den After-Show-Sex."

"Und wer ist dein Prom-Date? Eine der Ladies, die du aus dem Hot Rod Magazine schneidest?"

"Der Prom ist in zehn Monaten. Meinst du, bis dahin treibe ich kein Mädchen auf?"

"Du hast in siebzehn Jahren keines aufgetrieben. Da stehen die Chancen besser, dass ich mit Joanne auf den Ball gehe."

"Ha! Das wird sich zeigen." Mark sah auf die Uhr. "Alter, ich muss los, den Laden schmeißen. Wir sehen uns." Sie klatschten sich ab. Mit durchdrehenden Reifen fuhr Mark davon.

-

Kurz vor Schulschluss öffnete Ale die Tür zu einem mit blauem Samt ausgekleideten Raum und linste um die Ecke. In der Mitte des Raumes war eine Art Podest mit einer breiten Holztreppe aufgebaut. Der Fotograf war nur abwärts der Hüfte sichtbar. der Rest verbarg sich unter einem Tuch. Er hantierte blind mit einer altmodischen Balgenkamera, die auf einem Holzstativ stand und auf das Podest gerichtet war. Als der Fotograf das Türgeräusch hörte, kroch er unter seinem Tuch hervor.

"Bist du die Nummer vier? Wird auch Zeit. Die Anderen sind schon seit zehn Minuten hier."

Die Anderen waren die drei Austauschschüler, die Ale bereits aus dem Vorbereitungsseminar kannte. Ein flachsblonder Schwede mit Augen von skandinavischem Blau und zwei Mädchen aus Deutschland respektive Frankreich. Sie standen vor der Kamera wie Wartende an einer Bushaltestelle und hatten für Ale, die Zuspätkommerin, nur ungeduldige Blicke übrig.

"Jetzt mach schon." Mit einer ungeduldigen Geste scheuchte der Fotograf Ale den anderen.

"Ich dachte, wir werden einzeln fotografiert?"

"Falsch gedacht, Fräulein. Die Austauschschüler kommen auf ein Gruppenfoto. Für euch ist im Jahrbuch eine eigene Seite reserviert." Seinem Tonfall nach war es ein großes Privileg, eine eigene Jahrbuchseite zu bekommen.

Zähneknirschend klettere Ale auf das Podest und reihte sich zwischen Deutschland und Schweden ein. Statt als briefmarkengroßes Porträt würde sie nun in Ganzkörperaufnahme auf einer Seite mit der fett gedruckten Überschrift Austauschschüler im Jahrbuch erscheinen. Alessandra Cecatto, Brasilien – zur Schau gestellt und beschriftet wie ein Zootier. Eine von vier Ausländern. Jeder würde wissen, dass sie nicht wirklich dazu gehörte. Dabei wäre sie viel lieber ein Partikel der anonymen Schülermenge gewesen, unsichtbar in der Masse Englisch sprechender Durchschnittsamerikaner. Durchschnittsamerikaner wie Mark und Paul, dachte sie, und musste genau in dem Moment auflachen, als der Blitz auslöste.

-

Aus dem Briefkasten quoll Paul die tägliche Werbeflut entgegen. Zwischen Supermarkt-Coupons und Möbelprospekten fand er einen an ihn adressierten College-Katalog - den dritten in einer Woche, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn angefordert zu haben. Es musste das Werk seiner Eltern sein, als Erinnerung, sich um das zu kümmern, was sie seine Zukunft nannten. Mit dem Papierstapel unterm Arm schloss er die Haustür auf und wurde leidenschaftlich von Labrador Terra begrüßt. Er entließ sie in den hinteren Garten, füllte ihr eine Handvoll Trockenfutter in den Napf und schob für sich selbst zwei Minipizzen in die Mikrowelle. Während das Essen rotierte, nahm er einen der Kataloge. Das College lag in irgendeinem Kaff in New Hampshire, von dem er noch nie gehört hatte. Der Himmel wusste, was seine Eltern sich dabei dachten. Er blätterte durch die Seitenverzeichnis. Psychologie, Kriminaltechnologie, Biologie, Maschinenbau und Fächer, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass man sie studieren konnte. Das Angebot war so breit gefächert wie klein gedruckt. Schon das Lesen des Kursverzeichnisses strengte an.

Nie zuvor hatte Paul Mark um sein Leben beneidet, aber in diesem Moment hätte er bereitwillig mit seinem besten Freund getauscht. Mark musste keine Entscheidungen treffen. Seine Zukunft stand bereits in Stein gemeißelt. Seit er auf die Apollo ging, war es eine unausgesprochene Tatsache, dass er nach seinem Schulabschluss in der Autowerkstatt seines Vaters anfangen, einige Jahre vor sich hin schrauben und irgendwann, wenn der alte Herr nicht mehr wollte oder konnte, den Laden übernehmen würde. Autos waren eben Marks Ding. Paul dagegen hatte nicht die geringste Ahnung, was er in einem Jahr machen würde. Was war Pauls Ding? Ihm fiel nichts ein.

Angewidert schob er die Collegekataloge von sich, aß die Pizzen auf und holte das Skateboarding für Dummies Buch aus seinem Zimmer. Wenn er Joannes Interesse auf sich lenken wollte, musste er ein wenig mehr beherrschen, als das Brett mit sich rumzutragen.

Mit Skateboard und Buch ging er in den Garten, wo eine schwanzwedelnde Terra sich in der Hoffnung auf einen Spaziergang an seine Fersen heftete. Enttäuscht musste sie beobachten, wie Paul über den Maschendrahtzaun kletterte und hinter den hohen Brettern verschwand, die ihr Grundstück vom Parkplatz der Baptistenkirche trennte.

Der Parkplatz war ideales Übungsgebiet, nicht nur weil er direkt hinter Pauls Haus lag. Von der Hauptstraße nicht einsehbar, war man hier außer an Sonn- und gelegentlichen religiösen Feiertagen, an denen betfreudige Christen mit ihren kinderreichen Familien einfielen, völlig ungestört.

Paul schlug das Kapitel Ollie im Stand auf und legte das Buch auf den Boden.

In einer fünfteiligen Fotosequenz demonstrierte ein Teenager (mindestens vier Jahre jünger und vier Mal so cool gekleidet wie Paul), alle notwendigen Schritte, diese Basis aller Skateboardtricks erfolgreich durchzuführen. Paul bemühte sich, es ihm gleich zu tun. Er stellte den linken Fuß über die vorderste Rolle, den anderen auf das hintere Ende des Bretts. Ziel war es, beim Absprung den Vorderfuß nach oben zu ziehen, während der Rechte das andere Ende des Skateboards auf den Boden trat. Laut Buch würde das komplette Board auf diese Weise vom Boden abheben. Statt dessen schlug es mit der Kante gegen Pauls Schienbein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht landete er auf dem asphaltierten Boden der Tatsachen. Er hätte Skateboarding für Superdummies kaufen sollen.

Plötzlich schob sich ein Schatten vor die Sonne.

"Hi, Paul!!" Ein dissonanter Dreiklang aus Mädchenkehlen.

Paul sah auf und kniff die Augen zusammen. Das grelle Gegenlicht reduzierte die Besitzerinnen der Stimmen zu unscharfen Silhouetten, aber er wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte.

Die Croston-Schwestern. Holly. Amy. Leah. Eine dreiköpfige Hydra, ein Triplet albinoartiger Wesen aus der Nachbarschaft, die alle in den selben Genpool gefallen waren. Im Abstand von jeweils einem Jahr auf die Welt gekommen, glich eine der anderen – feingliedrig an der Schwelle zur Magersucht, weißblond, und trotz Sommer stets von vornehmer Blässe (wenn auch nicht Special-Ed-Blässe). Niemand konnte sie auseinanderhalten. Das größte Talent dieser elfenhaften Charaktere mit dem Wesen einer bösen Stiefmutter bestand daran, wie ein Pickel vorm Date in den ungelegensten Momenten aufzutauchen. Nur wenige Tage nach Joannes Einzug hatten sie sich ihrer angenommen und fest in ihren Zirkel skatender Amazonen integriert. Glücklicherweise waren sie heute allein unterwegs. Paul schob das Dummies-Buch unters Skateboard.

"Naaaa, am Skaten lernen?" Die mittlere, Holly (oder war es Amy?) umkreiste ihn wie eine Hyäne das Aas.

"Wonach sieht's denn aus?"

"Nach rumsitzen und Nichtstun", sagte Leah (oder Holly?), die in Pauls Jahrgang ging, als einzige den Führerschein besaß und daran Schuld war, das Joanne nur selten morgens den Bus benutzte. Sie trat mit ihrem Converse gegen Pauls Skateboard. "Das sieht aber verdächtig unbenutzt aus. Zeig doch mal, was du drauf hast."

Als ob er sich freiwillig vor den Crostons blamieren würde.

"Zeigt ihr doch erst mal, was ihr drauf habt."

HollyAmyLeah verlor keine Zeit, einen mindestens 30 cm hohen Sprung zu vollführen. Verdammte Crostons – bei ihnen sah es so einfach aus.

Paul applaudierte mit einer extragroßen Portion Sarkasmus und nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Wie ein Zauberkünstler versuchte er beim Aufstehen, das Skateboard zu greifen und gleichzeitig das Buch hinter seinem Rücken zu verbergen.

"Tut mir leid, Mädels, ich würde ja liebend gerne noch eine Weile eure charmante Gesellschaft genießen – aber eigentlich auch nicht."

"Schade, Paul. Bye Paul!!"

Zurück in seinem Zimmer teilte Paul die Jalousie mit zwei Fingern und linste durch den Spalt. Es war der perfekte Beobachtungsposten. Von hier oben hatte man freien Blick auf den Parkplatz, ohne selbst gesehen zu werden. Und freies Gehör auf das nervtötende Gelächter der Crostons. Scheinbar schwerelos zogen sie ihre Kurven, grazil wie olympische Eisläufer, vollführten Sprünge, als sei das Board mit ihren Füßen verwachsen. Keine Spur von Joanne. Paul ließ die Lamellen zurückschnappen, fiel rückwärts auf sein Bett und versuchte, an Nichts zu denken.

-

Darren genoss das Echo, das seine stahlkappenbesetzten Arbeitsschuhe in den leeren Korridoren hinterließen. Jedes Mal, wenn er es hörte, fühlte er sich wie ein Großgrundbesitzer, der seine Ländereien abschritt. Sollten die Schüler sich nur über ihn lustig machen und ihm Spitznamen verpassen – nach Schulschluss war Dirty Darren keine Witzfigur mehr, dann besaß er die Gebietshoheit.

Von oben nach unten arbeitete sich Darren auf seiner nachmittägliche Inspektionsrunde durch das Gebäude, prüfte Türklinken, rückte Tische gerade, stellte die Ordnung wieder her. Der Universalschlüssel war sein Zauberstab, der dafür sorgte, dass ihm nichts verborgen blieb.

Er betrat er die Umkleidekabine der Mädchen - jedes Mal eine prickelnde Wundertüte, deren Kontrolle er sich für ganz zuletzt aufsparte, quasi als Belohnung für einen harten Arbeitstag.

Nachdem er einen Blick in die Duschen geworfen hatte, ging Darren die Reihen der Schließfächer ab. Wie oft hatte er sich vorgestellt, an diesem Ort ein unsichtbarer Beobachter zu sein. Einmal den Spieß umdrehen, süße Rache nehmen an den Mädchen, für die Art, wie sie ihn nicht ansahen, eine permanente Provokation mit ihren rücksichtslos kurzen Röcken und vorwitzigen Brüsten unter bauchfreien T-Shirts.

Statt dessen musste er sich mit ihren Hinterlassenschaften begnügen. Es kam regelmäßig vor, dass eines der Schließfächer offen stand, weil seine Besitzerin in Eile gewesen war. Wenn Darren Glück hatte, lag darin eine Halskette oder eine Uhr. Im Idealfall auch mal Leggings oder gar ein Slip - Fundstücke, die er, nachdem er ihren Teeniegeruch ausgiebig inhaliert hatte, seinem ganz privaten Museum zukommen ließ.

Heute ging er leer aus. Alle Fächer waren vorschriftsmäßig verschlossen. Während Darren noch überlegte, ob es die Mühe wert war, eines der Zahlenschlösser zu knacken, erhaschte er aus dem Augenwinkel eine glänzende Unregelmäßigkeit. Neben einem Bein der Umkleidebank lag eine Münze. Keine Seltenheit – was die Schüler an Taschengeld verloren, summierte sich in manchen Wochen zu einem willkommenen Nebenverdienst, den Darren nur allzu bereitwillig in Mahady's Pub auf der Dewey Avenue gegen ein gepflegtes Guinness tauschte.

Er bückte sich und stellte enttäuscht fest, dass es keine Münze, sondern eine Art vergoldetes Medaillon war. Auf beiden Seiten war die Abbildung eines bärtigen Mannes geprägt, der sich auf einen Wanderstab stützte.

Verblüfft registrierte Darren eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich und der Person auf dem Medaillon. Und der Stab sah ein wenig aus wie jener, den er benutzte, um die weggeworfenen Trinkkartons aus den Anpflanzungen zu piken. Ein Hausmeistermedaillon, gleich am ersten Schultag – konnte es ein besseres Omen geben?

Er ließ den neuen Glücksbringer in die Brusttasche seines Blaumannes gleiten und machte sich auf den Weg zu seiner letzten Station, dem Mehrzweckraum im Erdgeschoss. Es war ein außerplanmäßiger Abstecher, denn der Schulfotograf hatte den normalerweise unbenutzten Raum für ein paar Tage zu seinem Studio umfunktioniert und Darren gegen eine Spende von fünf Dollar (zwei Guinness) gebeten, ein besonderes Auge auf die wertvolle Fotoausrüstung zu haben.

Darren sah in den Raum. In der Mitte stand eine mit Samt überzogene Treppenkulisse, an der Wand einige Scheinwerfer und die Kamera auf ihrem Stativ. Alles war an seinem Platz. Darrens Blick blieb am Fotoapparat kleben.

Eine Kamera. In ihm reifte eine Idee. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen.

Ein irisches Volkslied pfeifend, schloss Darren die Tür wieder ab und ging dem verdienten Feierabend entgegen. Manchmal liebte er seinen Job.

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Es sah nicht gut aus für den Night Rider. Mit den Händen an einen Heizkörper gefesselt, saß er auf dem Boden einer Fabrikhalle, neben ihm ein Berg aus alten Kanistern, Farbeimern und Spraydosen. Drei grimmig dreinblickende Schlägertypen umkreisten und verhöhnten ihr hilfloses Opfer. Zwei von ihnen schulterten Baseballschläger, der Dritte wickelte sich gerade eine Fahrradkette um die Faust. Nein, es sah ganz und gar nicht gut aus. Greg biss sich auf die Nägel. Wo blieb nur das sprechende Auto, das der Night Rider Kid nannte (vermutlich, weil ihre Partnerschaft einer innigen Vater-Sohn Beziehung glich)? Bisher war es ihm in brenzligen Situationen wie dieser immer zu Hilfe geeilt. Aber diesmal?

Die Perspektive wechselte auf eine Naheinstellung. Während der Night Rider seine Widersacher in eine Diskussion verwickelte, entknotete er mit geschickten Fingern das Seil hinter seinem Rücken. Die Kamera zog auf, und dort kam auch schon der schwarze Retter. Endlich! Aus dem Hintergrund rollte das Auto lautlos heran und positionierte sich hinter den Gangstern. Dann geschah alles blitzschnell.

Kid hupte einmal kurz. Die Männer fuhren herum. Inzwischen war es dem Night Rider gelungen, seine Hände zu befreien. Er nutzte den Moment der Verwirrung, um aus seiner Hosentasche ein kleines Silberkästchen zu ziehen. Mit dem Daumen ließ er den Deckel aufschnappen. Eine Flamme tanzte an der Oberfläche, nicht größer als die einer Kerze. Der Night Rider griff neben sich in den Müll, nahm eine der Spraydosen und zielte damit auf die Flamme. Als die bösen Männer sich wieder zu ihm umdrehten und sich auf ihn stürzen wollten, drückte er den Sprühknopf. Die Spraydose wurde zum Flammenwerfer. Greg juchzte vor Freude. Zwei der Männer fingen sofort Feuer. Sie tanzten auf der Stelle und klopften panisch auf ihre brennenden Hosenbeine. Anstatt seinen Kumpanen zu helfen, machte sich Gangster Nummer Drei aus dem Staub. Kid stellte den Flüchtling nach kurzer Verfolgungsjagd.

Dafür liebte Greg diese Show - am Ende siegte immer das Gute, verkörpert vom Night Rider und seinem Kid. Für jedes Problem wussten sie eine Lösung. Und wenn der Night Rider nicht in seinem Wunderauto unterwegs war, rannte er auf einem anderen Sender mit freiem Oberkörper über einen Strand und rettete Ertrinkende. Dieser Mann konnte einfach alles.

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"Jemand zu Hause?"

Das schrille Organ von Pauls Mutter, die nach acht Stunden Büroarbeit für irgendeinen Versicherungskonzern nach Hause kam, fraß sich zielsicher in Pauls Trommelfell und riss ihn aus dem Halbschlaf.

"Paaauuul? Bist du da??"

"Was ist??"

"Hast du die Kataloge gesehen, die in der Post waren?"

"Waren ja nicht zu übersehen."

"Und?"

"Was und?"

"Hast du da mal reingeschaut?"

"Mach ich später."

"Allmählich solltest du dich für etwas entscheiden."

"Mom, das Schuljahr hat gerade erst angefangen."

"Und es wird schneller vorbei sein, als du glaubst."

"Irgend etwas wird sich schon ergeben."

"Bestimmt nicht von selbst."

Paul erschien im Wohnzimmer. Seine Mom rauschte vorbei und drückte ihm einen beiläufigen Kuss ins Gesicht.

"Bist du so lieb und gehst vor dem Essen noch mit dem Hund spazieren?"

Bei dem Wort spazieren kam Terra vom Sofa geschossen und baute sich erwartungsvoll vor Paul auf. Ihr Schwanz peitschte mit der Frequenz eines Daumenkinos gegen die Schublade, in der sie ihre Leine wusste. Eine Ausrede schon auf der Zunge, überlegte Paul es sich anders. Er würde das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.

Paul ließ sich die ersten Meter von Terra mitreißen, bis sie unvermittelt stoppte, um die Exkremente eines Nachbarhundes zu begutachten. Er wagte einen Blick Richtung Kirchenparkplatz. Von den Croston-Schwestern war nichts mehr zu sehen oder hören. Abgesehen von ein paar Heimkehrern, deren Minivans gerade in den Doppelgaragen verschwanden, breitete sich die Straße in spätsommerlicher Abendruhe vor ihm aus.

Paul schnalzte, als Signal für den Hund, sich von der Faszination des Kots zu trennen. Abwechselnd zogen er und Terra sich den menschenleeren Bürgersteig entlang, bis zum Haus mit der Nummer 38.

Joannes Haus.

Es sah aus wie alle anderen in der Straße – drei bis vier Schlafzimmer groß, die Wände mit rustikalem Naturstein verklinkert, vor der Eingangstür ein gewissenhaft gemähter Rasen, die Auffahrt gesäumt von Blumenrabatten, drei Gartenstühle auf der Veranda.

Was es besonders machte, war die Vorstellung, dass sie sich hinter diesen Wänden aufhielt, nur wenige Meter von Paul entfernt. Obwohl ihn nichts von Joanne trennte, außer ein paar Zentimeter Ziegelwand, schien sie unerreichbar. Ebenso gut hätte er auf dem Mars sein können. Der Gedanke erzeugte ein intensives Kribbeln. Was trieb sie wohl in diesem Moment? Saß sie mit ihren Eltern beim Dinner? Vor dem Fernseher? Telefonierte sie mit ihren Freundinnen?

Paul platzierte sich in einer beobachtungstechnisch günstigen Lücke zwischen Baum und Laternenmast. Wie um sein Warten zu rechtfertigen, ging Terra in die Hocke und pinkelte neben den Mast.

"Gutes Mädchen." Er tätschelte ihr den Kopf und erntete ein Schwanzwedeln. Minuten vergingen. Braune Hundeaugen stellten die Frage, warum sie ihren Spaziergang nicht fortsetzten. Paul hätte ihr nicht erklären können, worauf er wartete, denn er wusste es selbst nicht. Auf eine Art Zeichen vielleicht, eine Bewegung hinter der Gardine, eine Stimme aus dem Garten, irgend etwas, dass er mit nach Hause nehmen, woran er weitere Hoffnungen knüpfen konnte.

Er stierte auf das Haus wie hypnotisiert. In der Luft hing der Geruch von gemähtem Gras. Ein Ahornblatt segelte auf einer kaum wahrnehmbaren Brise herab. Terra schnappte danach und verfehlte es. Das Blatt legte sich auf den Gehweg, sanft, wie eine fürsorgliche Mutter ihr Kind zudeckt. Irgendwo bellte ein Hund. Terra legte ihren Kopf schief, und ihre Steuermarke klang wie ein fernes Glöckchen. Als die Straßenbeleuchtung anflackerte, lag Joannes Haus unverändert vor ihnen.

"Gehen wir", sagte Paul. Dankbar setze sich Terra in Bewegung. Irgend etwas würde sich ergeben.

Marsjahr

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