Читать книгу Tod in der Levada - Taylor George Augustine - Страница 6

Kapitel 1

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»Geld! Geld! Geld! Reich! Endlich reich! Frei! Isabella, meine Liebe! Nur noch Dich! Durchstehen, durchhalten, nicht schwach werden, nichts anmerken lassen, schauspielern, konzentrieren, durchhalten, durchhalten, durchhalten ..., Mörder, Mörder, Mörder ..., Nein, frei! Reich! Geld! Geld! Geld!«

Volker Lacom schwitzt am ganzen Körper. Seine schwarzen Haare kleben ihm auf der Stirn und der Rucksack liegt wie eine schwere Last auf seinem vom Schweiß durchtränkten Rücken. Sein Körper vibriert vor lauter Zittern - ein Schütteln, Zuckungen und völlig unkontrollierte Muskelbewegungen. Es gibt immer ein erstes Mal im Leben. Vergessen, nicht mehr daran denken. Strikt nach Plan vorgehen. Was kommt als nächstes? Was kommt als nächstes? Verdammt! Ja, schauen, schauen ob jemand kommt! Er liegt auf dem Bauch, seinen linken Arm hält er schon seit Minuten in das kalte Wasser der Levada. Der Boden auf dem er liegt, bloßer Grund, dreckig, feucht, der Schein der Stirnlampe spiegelt sich im Wasser, die letzten Luftblasen waren schon längst emporgestiegen. Sein Atem, schwer, er keucht wie ein erschöpfter Hund. Den Tunnel, einer der längsten auf Madeira, hat er bewusst ausgesucht. Er hebt seinen Kopf, sieht lediglich das schwache Licht am Ende des Tunnels. Niemand. Da kommt niemand. Niemand, Niemand. Er zieht seine Hand aus dem Wasser und dreht sich auf dem schmalen Weg zur Seite. Der Rucksack kratzt an der Wand entlang, an diesen spitzen, vorstehenden Felsen. Sein Blick, nach hinten gerichtet, dahin, wo sie herkamen. Schweiß tropft ihm in die Augen. Er reibt sich die Augen, sieht Licht, Licht, das sich bewegt. Wanderer! Wanderer kommen! Was kommt als nächstes? Schreien! Rufen! Laut rufen! Doch er bringt keinen Laut hervor. Er krächzt vor sich hin. »Beate! Meine liebe Beate!« Er keucht, ringt nach Luft, versucht sich zu beruhigen. Schreien! Er steigt in die Levada. Das Wasser kommt ihm eiskalt vor. Es reicht ihm bis zur Hüfte. Diese Levada ist tief, verdammt tief. Dann stößt er einen Schrei hervor, einen Urschrei, wie ihn die Menschheit nur in den schlimmsten Zeiten des Daseins hervorzubringen vermag.

»Beate! Beate! Hilfe! Hilfe!«

Seine Hände greifen nach einem Rucksack. Doch die Last daran ist zu schwer. Er hält die Luft an, taucht seinen Kopf in das kalte Wasser, fasst mit beiden Händen einen Körper an den Schultern - das Licht der Stirnlampe erlischt - völlige Dunkelheit - Dunkelheit um ihn und in ihm. Erwünschte Dunkelheit. Dunkelheit, die zu einem ausgeklügelten Plan gehört. Er hebt mit seinen letzten Kräften den Körper seiner Frau Beate nach oben, hält kurz inne, schnappt nach Luft, wuchtet den leblosen Körper schließlich auf den Weg neben der Levada.

»Hilfe! Hallo! Hilfe!«

Die Lichter kommen immer näher. Stimmen sind zu vernehmen. Volker steigt aus der Levada. Er fasst an den Körper seiner Frau, von dem er jede Stelle bestens kennt. Jedes Körperteil ist ihm vertraut. Er fasst sie mit seinen Händen an, wie er es seit Jahren getan hat. Er streift ihr den Rucksack vom Rücken, in völliger Dunkelheit, aber Licht ist dazu auch nicht notwendig. Die Stirnlampe erlosch durch einen Kurzschluss im Wasser. Genial! Der Plan funktioniert! Wie geht es weiter? Was steht auf dem Plan? Retten! Retten! Die Schritte der Wanderer werden immer schneller. Deutlich kann er sie hören. Er stammelt vor sich hin:

»Beate, meine Liebe. Hilfe!«

»Hallo! Was ist passiert?«

»Helfen Sie mir, bitte. Helfen Sie mir. Meine Frau ... Helfen Sie mir doch!«

Die Lichtstrahlen der Stirnlampen geben ein lebloses Gesicht preis. Der Weg ist schmal, der Tunnel niedrig. Nur leicht gebückt kann man hier gehen.

»Thomas, Karin, kennt ihr euch mit Erster Hilfe aus?«

»Nein. Was ist denn? Ist sie gestürzt? Was ist los?«

Volker kniet am Boden und legt den Kopf von Beate auf seine Schenkel.

»Beate, sag doch was. Beate! Helft mir doch! Bitte, helft mir doch!«

»Wir müssen sie raus tragen.«

»Die ist klatschnass. Ist sie in die Levada gestürzt? Vielleicht hat sie Wasser geschluckt. Du musst ihr das Wasser aus der Lunge pressen.«

»Wie denn? Es ist hier verdammt schmal.«

Martin legt seinen Rucksack ab und versucht, sich mit einem Fuß auf der anderen Seite der Levada abzustützen, um neben den leblosen Frauenkörper zu gelangen. Er lässt ein Bein von Beate in die Levada hängen und verschaffte sich so Platz, um Hilfe leisten zu können. Mit beiden Händen presst er auf ihren Körper. Wasser dringt aus dem leicht geöffneten Mund. Er hält inne und fühlt ihren Puls.

»Nichts.«

Wieder presst er mehrmals seine Hände auf den Frauenkörper. Mit einem Fuß stützt er sich an der Mauer der anderen Levadaseite ab, fühlt wieder ihren Puls.

»Nichts.«

Volker Lacom betrachtet die Hilfeleistungen mit einem Groll in seinem Innern, wie sie nur eine mit Pest und Cholera durchtränkte Seele erleben kann. Es darf kein zurück geben, niemals. Unmöglich. Minutenlang hat er durchgehalten. Dem heftigen Widerstand von Beate mit aller Macht getrotzt. Seine Sinne lösen sich von seinem Innern. Seine Wahrnehmungen und Gedanken sind pechschwarz, durchtränkt von Angst, welche das kurze Glücksgefühl verdrängen will.

»Wie lange lag sie im Wasser?«

»Was? Wie?«

»Mann, eine Minute, zehn Minuten, wie lange, Mann?«

»Ich weiß nicht.« Volkers Stimme klingt schwach und verstört.

»Vergiss es. Der hat einen Schock. Mach weiter!«

Martin gereicht an die Grenzen seiner Kräfte. Er stößt ein paar Flüche aus, während es im Herzen von Volker Lacom immer heller wird. Seine Schauspielkunst ist beeindruckend. Macht, über Allem erhaben, Gott gleich, sein Wesen verändert sich in diesen Minuten in einer bisher unbekannten Weise. Seinen Körper fühlt er nicht mehr, die nassen Kleider, der Schmutz, seine Gedanken, alles ist ihm fremd. Jetzt sind Helfer da, er braucht nicht mehr nach Plan vorzugehen. Sein Plan ist jetzt passiv zu bleiben. Nichts Verdächtiges tun, nichts anmerken lassen. So wenig wie möglich machen, bedeutet: Fehler vermeiden. Die Helfer schleppen Beate und ihren Rucksack ins Freie. Jedem kommt es wie eine Ewigkeit vor. Wiederbelebungsversuche. Vergeblich. Ein Notruf wird abgesetzt und die Bergung aus dieser unzugänglichen Gegend mit hohen Bäumen und überstehenden, abschüssigen Felsen stellt selbst das Fachpersonal der Insel vor eine große Herausforderung. Volker kennt die Insel, diesen Tunnel, die Wanderrouten - und vor allem diese Gegend, aus der eine Bergung Stunden dauern wird. Der Weg in ein Krankenhaus - viel zu lange, um noch helfen zu können. Der Einsatz eines Hubschraubers - unmöglich.

Ein Notarzt bestätigt noch vor Ort den Tod von Beate Lacom. Ein Glücksgefühl durchströmt Volker Lacom - er hält sich die Hände wie ein Verzweifelter vors Gesicht. Eine Trost spendende Hand legt sich auf seine Schulter. Am liebsten hätte Volker ihm den Ellbogen in die Seite gerammt. Passiv bleiben! Nichts anmerken lassen. Nicht reden, nichts machen, Objekt bleiben, solange jemand bei ihm ist. Über eine Stunde Fußmarsch über Felsen, Geröll und schmale Pfade. Beate Lacom wird mit einem Leichenwagen abtransportiert. Ein Krankenwagen steht bereit und bringt Volker Lacom mit seiner schwarzen Seele in ein Krankenhaus nach Funchal. Fragen, Untersuchungen, wieder Fragen, Erklärungen abgeben. Wie konnte das passieren? Volker Lacom wird medizinisch untersucht. Ein Schock wird diagnostiziert. Die Schauspielerei funktioniert. Nicht sprechen. Keine Reaktion auf konkrete Fragen zeigen. Verwirrt sein um jeden Preis. Volker Lacom wirkt total erschöpft. Er hält schon die ganze Zeit seine Augen geschlossen. Denkt an Isabella da Subdoli, seine Geliebte. Gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt - achtzehn Jahre jünger als Beate. Diese zarte Haut, Lippen, die ihm das Leben jetzt noch süßer machen werden. Diese heißblütige Italienerin, voller Temperament, eine Trophäe für jeden Mann, besonders für Volker. Er denkt an die heißen Nächte mit Isabella, während seine Frau auf Geschäftsreise war. Stundenlanges Glücksgefühl. Unersättlich, unermüdlich, ein Schlund, so gierig wie ein Fass ohne Boden. Ekstase - bis zur Bewusstlosigkeit. Die langen, schwarzen Haare liegen wie feinste Wolle um ihre Schultern, die smaragdgrünen Augen funkeln in der finstersten Nacht wie die Venus am Nachthimmel bei Neumond. Isabella, immer und jederzeit zu Allem bereit. Für einen Mann wie Volker Lacom - unwiderstehlich. Beate konnte mit seinen Wünschen einfach nicht mehr mithalten. Zu alt, verbraucht, nicht experimentierfreudig, spießig ohne Ende. Und geizig in seinen Augen. Es gab keine Alternative. Das Leben ist zu kurz, um es tatenlos vorbeigehen zu lassen. Jede Gelegenheit nutzen, das Maximale herausholen was herauszuholen ist. Geld, Anerkennung, Parties, Vergnügen - das Leben will gelebt sein, sonst stirbt man ohne gelebt zu haben - das Motto von Volker Lacom, sein ganzes Leben hindurch.

Zwei Polizisten kommen ins Krankenzimmer, wollen ihn befragen. »Nicht vernehmungsfähig, morgen«, sagt der Arzt zu ihnen. Es war ein Unfall. Die Erklärung schon vor Reiseantritt bis ins letzte Detail durchdacht: Er ging voraus, sie hinterher. Plötzlich, als er das Ende des Tunnels erreicht hatte, war sie nicht mehr da. Umkehren, rufen, suchen, dann die Entdeckung ihres Körpers in der Levada. Beate aus dem Wasser herausgezogen, die Wanderer bemerkt und um Hilfe gerufen. Ja, so wird es glaubhaft sein. Perfekt. Nichts anderes wird beweisbar sein, nichts! Mörder, Mörder, Mörder geistert es durch seinen Kopf. Nicht die Nerven verlieren. Einen klaren Kopf bewahren. Immer an den Plan denken. Nicht viel reden. Nicht verheddern, nicht verhaspeln. Innerlich cool bleiben, nach Außen hin aufgewühlt wirken. Schauspielern bis zum Schluss. Isabella, dieser Körper, diese zarte Haut, diese Lippen, diese Liebkosungen, unwiderstehlich, alles was ein Mann sich nur wünschen kann.

Er schläft ein. »Endlich.« Das Klinikpersonal ist erleichtert. Zwei Tage Krankenhausaufenthalt und Volker Lacom kann die Klinik wieder verlassen. Die Befragung der Polizei ist ein Erfolg. Ein Unfall wird protokolliert. Seine Geschichte wirkt glaubhaft. Die Polizisten schöpften keinen Verdacht. Volker Lacom fährt mit einem Taxi zu seinem Hotel. Er führt unzählige Telefonate mit dem Reiseveranstalter und seinem Reisebüro in Deutschland. Er benachrichtigt Sarah Dobry, die Schwester seiner Frau - seiner verstorbenen Frau. Die Obduktion muss noch abgeschlossen werden, reine Routinesache. Für Volker Lacom bedeutet das: Warten. Aber diesmal lohnt sich das Warten. Dem Tüchtigen winkt reicher Lohn. Die restlichen Urlaubstage spielt er den trauernden Ehemann. Volker hat sich voll im Griff. Es stellt keine Schwierigkeit für ihn dar, auch diese Rolle zu meistern. Manche Hotelgäste sprechen ihm das Beileid aus. »Danke«, kommt mit Tränen in den Augen hervor. Er verlässt kaum noch das Hotelzimmer. Ein Urlaub wie bisher wäre zu auffällig. Nur noch zum Essen geht er ins Hotelrestaurant. Er sitzt auf dem Balkon und schaut in die Ferne, denkt an Isabella. Mit einem Blick ins Leere grübelt er über das Geschehene nach. Die Erinnerung an Beate ist bereits verblasst, alles längst vergangen. Seine Frau war ihm wie eine Fremde gewesen. Er empfand noch nie etwas für sie. Ihr Geld hatte ihn dazu bewegt, sie zu heiraten. Seine Schauspielkunst hatte sie nie durchschaut. »Ich kann jede Frau bekommen. Vor allem die Dummen.« Er lacht vor sich hin. Gegenüber Beate verspürte er nur noch Verachtung. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Rationales Denken ist der Gefühlsduselei überlegen. Die Welt gehört Volker Lacom und seinesgleichen. Idealisten und Gutmenschen sind verpönt, alles Schwachköpfe. Fressen oder gefressen werden, die Natur lebt das wahre Leben vor. Sarah wird Fragen stellen, die konnte ihn noch nie leiden. Das weiß er von Beate. Aber er wird standhalten. Sarah wird ihm nichts anhaben können. Ein genialer Plan. Ein Unfall, von den Behörden bestätigt. Der Plan ist zu genial. Volker Lacom trinkt ein Glas Rotwein. Nur ein Glas, weil betrunken redet er viel dummes Zeugs. Das weiß er, aber er hat sich fest im Griff. Seine Gedanken schweifen ab nach Rom. Letztes Jahr war er mit Isabella für eine Woche in Rom gewesen. Die heißen Liebesnächte, unvergesslich. »Eine Geschäftsreise.« Beate glaubte ihm alles. Eine Nacht am Strand von Lido di Óstia, nur wenige Meter von der Promenade entfernt. Isabella liebt das Abenteuer, den Reiz des Verbotenen, die Blicke der Menschen, die sie im Mondschein sahen und dann schnell auf die andere Seite blickten. Der Strand war den Liebenden vorbehalten. Hinter jeder Hecke ein Pärchen. Liebkosungen, Stöhnen, sich umschlingende Körper. Die Promenade entlang wutentbrannte gehörnte, vor Eifersucht zu allem fähige Ehemänner und Ehefrauen auf der Jagd nach ihrem längst vergangenem Glück. Den Augenblick genießen ist das wahre Glück. Nicht lange zaudern und zögern, sondern handeln und das Glück am Schopf packen. Volker Lacom hat an alles gedacht. Er besitzt mehrere Mobiltelefone, für jeden Zweck ein eigenes Telefon. Isabella kann ihn unmöglich anrufen und auch er wird sie nicht anrufen. Das wäre zu verdächtig. Er hat an alles gedacht. Der Plan ist genial. Volker Lacom grinst vor sich hin und geniest das schöne Wetter. »Geld! Geld! Geld!«, strömt es ihm durch den Kopf.

* * *

Sarah Dobry sitzt in der Redaktion und bespricht mit ihrem Kollegen die bevorstehende Recherche über eine Korruptionsaffäre im Innenministerium.

»Diesen Schweinehund bringen wir zur Strecke, koste es was es wolle. Die Hinweise sind eindeutig. Seine Frau kauft Grundstücke, wertloses Ackerland, Wiesen und Wälder, die später für die Erschließung eines Baugebietes vorgesehen sind und verkauft dann das ganze Jahre später zum fast hundertfachen Preis. Mein Gott Daniel, das stinkt doch zum Himmel. So dämlich kann ein Minister doch gar nicht sein.«

»Du hast ein goldenes Näschen für faule Sachen, das muss ich schon sagen. Aber es gibt kein Gesetz, das einen solchen Deal verbietet. Die Grundstückskäufe waren bereits abgeschlossen, als das Bauprojekt der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden ist.«

»Eben.«

Sarah Dobry ist eine Kämpferin für Gerechtigkeit aus Leidenschaft. Der Schreibtisch ist mit zahlreichen Dokumenten überhäuft. Manche Dokumente tragen den Stempel ‘streng geheim’. Doch Sarah Dobry weiß, wie man an Unterlagen herankommt, die nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen sind. ‘Der Enthüller’ ist in den letzten Jahren durch die Aufdeckung zahlreicher Skandale und Affären in den höchsten politischen und juristischen Kreisen zum Informationsblatt Nummer Eins in Deutschland geworden - nicht zuletzt durch den unerbittlichen Einsatz einer Sarah Dobry.

Der Telefonanruf aus Madeira mit der traurigen Nachricht, dass ihre Schwester tödlich verunglückt ist, trifft sie wie einen Schlag mitten ins Gesicht. Doch Sarah Dobry ist hart im Nehmen. Noch am selben Tag bucht sie einen Flug nach Madeira und bereits am nächsten Tag landet sie in Funchal. Volker Lacom ist von ihrem Besuch völlig überrascht. Als Sarah Dobry ihm gegenübersteht, läuft es ihm heiß und kalt über den Rücken.

»Was verschafft mir die Ehre?«

»Ich will Dir Beistand leisten, Volker. Dich in dieser schweren Zeit unterstützten.«

Das Verhältnis zwischen Volker Lacom und Sarah Dobry ist alles andere als freundschaftlich. Seit der ersten Begegnung gibt es Reibungspunkte in allen Bereichen. Noch kein Gespräch kam zustande, das nicht bereits nach wenigen Sätzen die Konfrontation zum Vorschein brachte. Die gegenseitige Ablehnung und Verachtung ist für jeden Dritten spürbar. Zwei Charaktere, die keinerlei Schnittmenge haben und auch nicht den Wunsch haben, das Verhalten so zu ändern, dass ein Minimum an Sympathie entsteht.

»Komm rein.«

»Was ist denn genau passiert? Und wo ist Beates Leichnam?«

Volker Lacom holt zwei Gläser aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch.

»Apfelsaft, wie immer?«

»Ja.«

Sein Gehirn fängt an zu rotieren. Nichts falsches sagen. Die Hexe durchschaut eine Betonwand auf hundert Meter Entfernung. Cool bleiben. Was sagt der Plan? Wenn Sarah Dobry dir gegenübersteht, zuerst den trauernden Ehemann spielen, dann den Unfallhergang schildern und schließlich in Tränen ausbrechen.

»Meine liebe Beate. Ich bin noch gar nicht richtig bei Verstand. Das kommt mir alles vor wie in einem Alptraum. Sarah, sag mir, dass es nicht wahr ist. Mein Gott, meine liebe Beate.«

Volker Lacom verdeckt sein Gesicht mit seinen Händen und schluchzt kaum hörbar vor sich hin. Sarahs Augen durchbohren Volkers Körper wie Nadelstiche ein Kleidungsstück. Er spürt, wie sie ihn durchdringt, mit ihren glasklaren, blauen Augen und ihrem Blick, den nur eine Hexenmeisterin haben kann. Er weiß, dass sie jede Handbewegung, jede Mimik und Gestik registriert. Jedes Wort wird mit seinem Verhalten abgeglichen und in ihrem Gehirn unauslöschbar abgespeichert, solange sie lebt. Jede Kleinigkeit, auch die unscheinbarste, löst in ihr Denkprozesse aus und führt zu Schlussfolgerungen, die andere Menschen bereits dazu veranlasst haben, ihr telepathische Fähigkeiten zuzuschreiben.

»Wir waren auf einer Wanderung. Wir hatten kurz vor einem Tunnel Rast gemacht, Beate wollte etwas essen und noch Fotos machen. - Dann gingen wir weiter, ich voraus und sie hinterher. Ich war fast schon auf der anderen Seite, - als ich bemerkte, dass sie nicht mehr hinter mir war.« Sarahs Blicke stechen Volker in die Augen. Er schaut verlegen nach unten, denkt an seinen Plan, konzentriert sich auf schärfste. »Ich habe nach ihr gerufen, - bin zurück gelaufen. Der Schein ihrer Stirnlampe konnte ich auch nicht sehen. Ich dachte, vielleicht ist sie zurückgegangen, weil sie etwas vergessen hat. Ich ging wieder zurück zum anderen Ende des Tunnels, - aber sie war nicht da. Ich war mir sicher, dass sie direkt hinter mir in den Tunnel gegangen ist. Ich war mir ziemlich sicher. Da wurde mir ganz mulmig. Ich suchte die Levada ab und - sah plötzlich etwas im Wasser liegen. Es war Beate. Mein Gott.«

Volker Lacom kommen die Tränen und er wischt sie sich mit seiner Hand aus den Augen. Schluchzend fährt er mit seiner Schilderung fort.

»Ich zog sie aus dem Wasser. Da kamen dann Wanderer, die haben mir geholfen sie rauszutragen, wollten sie wiederbeleben, - aber es war nichts mehr zu machen. Wir haben alles versucht. Nichts. Nichts war zu machen. Der Notarzt kam, aber auch der konnte ihr nicht mehr helfen. ... Herr, Gott im Himmel, - warum hast du mir das angetan, warum?«

Volker Lacom bricht in Tränen aus und gibt sich keine Mühe, diese zu verbergen. Sarah Dobry schaut aus dem Fenster direkt auf das Meer. Mit Beate hat sie sich immer gut verstanden. Sie war nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihre beste Freundin, die sich gegenseitig alles anvertrauten. Selbst die intimsten Geheimnisse. Der Blick auf das Meer lässt Sarah träumen und löst Erinnerungen an ihre Kindheit aus, an frühere Urlaube in Südfrankreich und Andalusien. Wie sie um die Wette schwammen und schnorchelten. Wie sie auf den Meeresgrund tauchten, um Muscheln und Seesterne zu sammeln.

»Mama ist zusammengebrochen, als ich es ihr gesagt habe. Mein Gott, Beate. Beate.«

Sarah Dobry erhebt sich, geht auf den Balkon, kommt nach einer Weile wieder herein.

»Wo ist sie jetzt?«

»In der Rechtsmedizin, zur Obduktion.«

»Obduktion? Ich dachte, der Arzt hat die Todesursache schon sicher diagnostiziert?«

»Reine Routine. Die machen das hier immer so.«

»Ich will sie sehen.«

Volker Lacom registriert bereits ihren journalistischen Instinkt mit tausenden von Fragen, Verdächtigungen und ein Misstrauen, das selbst ein Schwur bei allen bekannten Göttern nicht beseitigen kann. Sein Trauergesicht mutiert zu einer in Lauerstellung gezogene Fratze eines Raubtieres, das sich gegen eine drohende Gefahr jeden Moment zur Wehr setzen muss.

»Warum?«

»Sie ist meine Schwester.«

Mit dem Taxi geht’s zur Klinik. Eine Unterhaltung kommt nicht zustande. Sarah Dobry trauert um ihre Schwester, ist tief in Gedanken an sie versunken. Sie denkt an ihre Mutter, die schon früh zur Witwe wurde und jetzt auch noch in das Grab ihrer Tochter sehen muss. Der Alptraum aller Eltern. Das Taxi quält sich durch die Straßen von Funchal, Stoßstange an Stoßstange geht es im Schneckentempo voran. Die Mittagshitze ist erdrückend. Der Taxifahrer entschuldigt sich für die defekte Klimaanlage und öffnet auf beiden Seiten die Fenster vollständig. Straßenlärm, Abgase, Hupen und vorbei ratternde Motorräder. Sarah Dobry kann den Meerblick nicht genießen. Zu sehr steckt der Verlust ihrer Schwester ihr in den Knochen. Volker Lacom grübelt darüber nach, wie er sich verhalten soll, um sich nicht verdächtig zu machen. Trauernde Menschen reden wenig bis gar nichts. Schweigen. Er schaut aus dem Fenster, sein Blick immer in die gleiche Richtung gerichtet. Sarahs Blicke stets im Rücken, das wird das beste sein.

Das Klinikpersonal ist zuvorkommend und weiß mit trauernden Menschen umzugehen. Die Treppe führt auf dem kürzesten Weg zur Hölle. Chlorgeruch, Desinfektionsmittel und der Geruch von Ammoniak liegt in der Luft, schwer wie Blei und nicht mehr aus der Nase zu bekommen. Das Gehirn gleicht den Geruch mit bisherigen Gerüchen ab, unangenehme Erinnerungen werden wach. Die Treppe will nicht enden, die Beine stampfen Stufe für Stufe hinab, der Gang verzögert sich, die Schritte werden langsamer. Die begleitende Krankenschwester weiß, wie sich Menschen fühlen, denen ein Anblick toter Angehöriger bevorsteht. Sie schweigt. Kahle Wände säumen den langen, schmalen Flur. Die Schritte widerhallen in einem gleichmäßigen Takt, ein Echo, das kaum wahrgenommen wird, von den Gedanken verdrängt, Gedanken - in sich selbst gefangen, unempfänglich für Geräusche und Worte von Außen. Volker Lacom hält seinen Kopf leicht nach unten geneigt. Er läuft den Beiden hinterher, angespannt, aber nicht verzweifelt. Hoch konzentriert legt er sich seine Worte für nachher zurecht. Er weiß, wie er sich verhalten muss. Sarah Dobry hält ein Taschentuch in ihrer Hand. Tränen quellen aus ihren Augen hervor. Das Taschentuch ist völlig durchnässt. Aber sie geht aufrecht. Als Journalistin hat sie schon vieles erlebt. Der Tod ihrer Schwester und der bevorstehende Anblick ihres Leichnames trifft sie dennoch mitten ins Herz. Die Krankenschwester öffnet eine Stahltür. Ein kalter Luftstrom kommt ihnen entgegen. Weiße Kacheln, soweit das Auge reicht. Der kalte Handschlag eins Arztes reißt Sarah Dobry aus der Lethargie und befördert sie in die kalte, unmenschliche Realität zurück. Ein paar Worte auf Englisch werden gewechselt. Die Krankenschwester setzt sich auf einen Stuhl und überlässt dem Arzt alles weitere. Volker Lacom war noch nie in einer solchen Situation. Das gehört nicht zum Angenehmen im Leben und wurde stets verdrängt. Sein Plan hatte eine solche Leichenschau nicht vorgesehen. Sein Hass auf Sarah Dobry steigert sich ins Unermessliche. War der Tag im Tunnel nicht schon genug unangenehm für ihn? Wozu diese Quälerei? Dieser Arzt ist für diesen Job wie geschaffen. Sein Gesichtsausdruck einer Leiche gleich, sein Gang gleicht dem eines Gespenstes. Er ist hier in seinem Revier. Volker Lacom gehört nicht hierher. Er ist für den Strand, den Pool, die Segelyacht und das Nachtlokal geschaffen. Die kalte Luft wirkt wie tausend kleine Nadelstiche auf seinem Gesicht. Seine Eingeweide ziehen sich zusammen. Seine Zähne klappern, obwohl es sein Gehirn verbietet. In außergewöhnlichen Situationen kann der Mensch seine Emotionen nicht bewusst verbergen. Er ist ihnen ausgeliefert, für seine Mitmenschen durchschaubar, wie eine Glasscheibe. Der Arzt führt sie an einen Tisch, auf dem der Leichnam von Beate Lacom unter einem grauen Tuch verborgen liegt. Die weiblichen Konturen sind deutlich zu erkennen. Die Hände von Volker Lacom waren es seit jeher gewohnt, eben diese Körperteile, die die Weiblichkeit darstellen, als erstes zu berühren, wenn er sich spät abends seiner Frau näherte. Sein Blut kommt in Wallung, beseelt von dem Drang, seine Frau zu berühren, auf sie zu stürzen, sie zu liebkosen, eine Abschiedsszene, wie sie der beste Liebesroman nicht zu schildern vermag, kein Regisseur im besten Hollywoodstreifen darstellen kann. Das Leichentuch wirkt durch das Neonlicht noch grauer, als es in Wirklichkeit zu sein scheint. Der Tod ist hier allgegenwärtig. Das Jenseits auf Erden ist hier in diesem Raum gebündelt. Gefangen, von den Menschen an diesen Ort verbannt, weit weg vom Alltagsgeschehen, aus den Augen der mitleidigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der der Tod nur noch eine Randerscheinung ist, eine Erscheinung, mit der sich nur noch ausgewählte Spezialisten, wie Ärzte, Leichenbestatter und Priester zu beschäftigen haben. Für jedes Leben das eigentliche, vom Schöpfer seit jeher bestimmte Ziel. Der Arzt fasst das Tuch an den Enden und zieht es langsam von Beate Lacoms Gesicht, bis ihr ganzes Antlitz sichtbar ist. Sarah Dobry hält sich ihr Taschentuch vor den Mund, der Leichengeruch ist intensiv, stechend, und wird, je näher sie ihr kommt, unerträglicher.

»Sie lebt! Beate! Beate! Sie atmet! Sie lebt!«

Volker Lacom schreit sich diese Worte aus dem Hals, stürzt sich auf Beate, fasst sie mit seinen Händen wolllüstig an, sein Ohr auf ihrem Busen und nur mit Mühe kann der Arzt und die herbeieilende Krankenschwester Volker Lacoms Umklammerung um den kalten Körper lösen. Die moderne Medizin hat hierfür ihre Erklärung, weiß, wie trauernde Angehörige in solchen Fällen reagieren. Während sich das Fachpersonal um Volker Lacom kümmert und behutsam auf ihn einredend ins Nebenzimmer führt, blickt Sarah Dobry in das Antlitz ihrer toten Schwester. Die Nase und die Stirn haben Schürfwunden. Das Gehirn von Sarah Dobry beginnt zu arbeiten. Trotz der emotionalen Empfindung versucht sie, alle möglichen Eindrücke abzuspeichern. Unbewusst weiß sie, dass sie die Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt viel besser in Zusammenhang bringen kann, falls es erforderlich sein sollte. Das Leichentuch ist durch den emotionalen Ausbruch von Volker Lacom verrutscht und gewährt einen freien Blick auf den Oberkörper. Sarah Dobry erkennt leichte Schürfwunden an den Brüsten. Mit Bedacht zieht sie das ganze Tuch von ihrem Leib, beschaut sich ihre Schwester von oben bis unten und erkennt weitere Schürfwunden am rechten Knie und an der linken Hand. »Komisch.« Ein Wort, das nicht gesprochen, sondern laut gedacht wird, immer dann, wenn Verwunderung über etwas völlig Unerwartetes entsteht.

Volker Lacom ist sich seines Talentes als Theaterspieler bewusst und lässt widerwillig Trost und Aufmerksamkeit des Arztes und der Krankenschwester über sich ergehen. Fürsorglich wird er mit liebevollen Worten umsorgt, die er zwar nicht verstehen, aber dafür spüren kann. Trost und Fürsorge finden zwar in allen Sprachen dieser Welt unterschiedliche Worte und klingen für einen Sprachunkundigen völlig fremd, aber der Kontext des Geschehens, das Ereignis, die Hingebung lassen auf den Sinn der gesprochenen Worte schließen und erlangen so die gleiche Wirkung wie in der Muttersprache. Gestik und Mimik transformieren dies in einer menschlich unmissverständlichen Weise, berühren das Herz der Betroffenen auf sonderbare Weise und machen selbst Worte, die nicht ausgesprochen werden, hörbar. Auch für Volker Lacom, obwohl sein Herz für diese Worte verschlossen ist, sein Herz, das ein Geheimnis in sich verbirgt, das niemals ein Mensch erfahren darf.

Der Arzt bedeckt den kalten Körper in der gewohnten Weise, nachdem er dem Wunsch von Sarah Dobry nachgekommen ist, ihre Schwester von allen Seiten betrachten zu dürfen. Sarahs Verwunderung über Beates Verletzungen werden vom Arzt bereitwillig erläutert, Fragen ausführlich beantwortet, Erklärungen und Theorien sollen Aufschluss geben, den fachfremden Angehörigen, die die Wahrheit nicht ertragen können und Vermutungen und Fehlinterpretationen freien Lauf lassen, wie einem Geist, der sich einem erlernten Denkmuster entziehen will und sich selbst zu ergründen sucht.

Der Arzt überreicht Volker Lacom ein Bündel, das die Kleidung und die Schuhe sowie sämtliche Habseligkeiten, die seine Frau bei der Wanderung trug, enthält. Wortlos nimmt er es entgegen. Doch er hat dafür keine Verwendung, spürt die Belastung und Abscheu in sich aufsteigen und reicht es dem Arzt zurück, mit dem Hinweis, es endgültig zu entsorgen.

»Ich nehme es mit.«

Für Sarah Dobry ist es eine Frage des Respekts ihrer Schwester gegenüber, ihre Kleidung in Andenken aufzubewahren, zumindest eine Zeit lang. Beates Kleider einfach in den Müll werfen, das sieht diesem Idioten ähnlich. Volker wirkte auf sie schon immer unsentimental und grob. Was hätte Beate zu Ehren ihres Mannes nicht alles getan. Der Tod kommt abrupt, unerwartet, ohne Vorwarnung, grausam für die Menschen, die den Verstorbenen mit Liebe verbunden sind. Man fragt Gott nach dem warum. Warum gerade jetzt? Warum auf diese Art und Weise? Warum nicht erst im hohen Alter? Warum nicht nach schwerer Krankheit? Tod nach schwerer Krankheit wird als Erlösung betrachtet. Die Menschen sind erleichtert, dass die Kranken endlich von ihrem Leiden befreit worden sind. Einen Menschen selbst von einem Leiden durch den Tod zu befreien - in der modernen Welt undenkbar. Die Bestimmung des Todeszeitpunktes ist Gott vorbehalten. Der Mensch darf nur mit Hilfe der Medizin das Leben verlängern. Trickst den Willen Gottes aus. Das moderne Leben ist so schön. Genießen, konsumieren, Erfolg haben, Krankheiten überwinden, Lieben - der Mensch hat es sich so schön eingerichtet, Menschen und Sachen, die ihn glücklich machen, um sich versammelt - und plötzlich soll ein Mensch völlig unverhofft abberufen werden? Das Leben wird von vielen Menschen als Leid betrachtet. Darf der Mensch also das Leiden verlängern, aber den Menschen nicht vom Leiden erlösen? Sarah Dobry geht vieles durch den Kopf. In Gedanken versunken nimmt sie das Bündel entgegen. Das rote T-Shirt hat Beate von ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt bekommen. Sie wird ihr nicht sagen, dass es Beates Totenhemd geworden ist.

Schweigend gehen sie den Flur entlang, die Treppe hoch, die Krankenschwester hat sich längst verabschiedet und Sarah spürt nur noch einen kalten Lufthauch hinter sich. Volker scheint die Kälte in sich aufgesogen zu haben. Speichert sie ab, wie ein Akku. Ein lebender Eisberg, mehr Yeti als Mensch mit warmen Blut. Wortlos geht es zurück ins Hotel. Fünf Sterne, für Volker Lacom kommt nichts anderes in Frage. Schweigen, Hitze, Kälte aus dem tiefsten Innern eines menschlichen Herzens. Sarah registriert alles um sich herum.

»Wo ist es genau passiert?«

Eine Wanderkarte wird auf dem Tisch ausgebreitet. Volker Lacom fährt mit seinem Finger eine rot eingezeichnete Linie entlang.

»Hier in diesem Tunnel, fast am Ende.«

Sarah Dobry markiert sich die Stelle und beschließt, morgen die Route zu laufen. Sie wird sich alleine auf den Weg machen müssen, da der trauernde Ehegatte keine Kraft mehr hat, diesen Weg ein zweites Mal zu laufen. Die Erinnerungen sind zu schrecklich, das Ereignis sitzt noch tief in den Knochen.

»Ich nehme Beates Rucksack mit.«

Sarah Dobry fragt nicht lange, sondern macht das, zu dem sie sich entschlossen hat. Des Gatten Gehirn fängt wieder an zu rotieren. Lauert irgendwo Gefahr? Hat er etwas vergessen? Eine Handbewegung signalisiert seine Zustimmung. Doch schon im nächsten Augenblick läuft es ihm eiskalt über den Rücken.

»Wir sehen uns dann in Deutschland wieder. Machs gut. Tschüs Volker.«

Die Tür fällt ins Schloss und der Ehegatte grübelt für eine Weile über mögliche Gefahren nach, die ihm aus dem Rucksack heraus lauern könnten. Ein tiefes Durchatmen und die Gewissheit, dass weder Beweise noch Hinweise auf seine Tat zu erwarten sind, lassen ihn in einen tiefen Schlaf fallen. Nichts nagt heftiger im Innern eines Schuldigen, als die Angst, ertappt zu werden.

Am nächsten Morgen ist Sarah Dobry früh unterwegs. Mit einem Taxi fährt sie an den Ausgangspunkt der Wanderroute, will exakt den Weg laufen, der ihrer Schwester zum Verhängnis wurde. Strahlender Sonnenschein, die Wolken hängen im Gebirge, festgesetzt, dennoch ständig in Bewegung. Im Minutentakt wechselt der Wolkenvorhang, gibt Felsen preis, die noch wenige Minuten zuvor nicht zu erkennen waren, um sie im nächsten Moment wieder völlig zu verbergen. Sie lässt das Naturschauspiel auf sich wirken, marschiert den felsigen Weg entlang, über Wurzeln und durch dichtes Gebüsch, immer hart am Abgrund, nur durch ein Seil gesichert. Die Levada strömt langsam in entgegengesetzter Richtung, das Wasser eisig und klar. Der Weg weist kaum Steigung auf, erfordert nicht allzu viel Kondition, nur Aufmerksamkeit, der steilen Abhänge wegen. Eine üppige Vegetation. Ein Erdrutsch beförderte einige Meter des Weges den Abhang hinunter, eine Kletterpassage über Geröll und Erde, das Sicherungsseil an der Seite bietet keinen Schutz mehr, der Weg endet und die Mauer der Levada ist die einzige Möglichkeit weiter zu kommen. Kahle schwarze Felsen ragen weit in den Himmel empor. Hohe Bäume, dichtes Gebüsch und Sträucher verhindern den Blick in die Tiefe. Keine Menschenseele weit und breit, außer einer einsam marschierenden Frau, völlig in Gedanken versunken an nichts Bestimmtes denkend und völlig überwältigt von der Naturkulisse, die hinter jedem Hügel, nach jeder Kurve, nahezu im Minutentakt ein neues Schauspiel bietet. Seit drei Stunden ist sie unterwegs, knapp die Hälfte der ganzen Tour. Die Levada weicht vom Weg ab, auf den sie später wieder trifft. Der erste Tunnel ist erreicht und Sarah gönnt sich eine kleine Pause. Als sie Beates Rucksack öffnet, wird ihr bewusst, dass sie während der ganzen Tour kaum an sie gedacht hat. Überwältigt von der Natur und dem Panorama hingen ihre Gedanken im Hier und Jetzt, verdrängten die Tatsache, dass sie wegen des Todes ihrer Schwester hierher gereist ist. Neu gestärkt geht sie einige Meter den schmalen Tunnel hinein. Auf der einen Seite die Levada, auf der anderen Seite die von Menschenhand freigelegte, kahle Felswand, von denen stetig Wasser tropft. Der Weg, schmal, gerade ausreichend für eine Person zum Laufen. Sarah wartet eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. »Mist.« Nach wenigen Metern bricht sie ihr Vorhaben ab und geht wieder zurück. Sie zieht Beates Stirnlampe heraus, doch die Enttäuschung ist groß, da sie keinen Lichtstrahl von sich gibt. Im Batteriefach ist noch Wasser. Auch nach dem Trocknen erfüllt die Stirnlampe nicht ihren Zweck. Ein Umkehren oder gar Aufgeben kommt für eine Frau wie Sarah Dobry jedoch nicht in Frage. Ein Blick in die Landkarte verrät die Länge des Tunnels und Sarah beschließt, sich langsam voranzutasten. Meter für Meter geht es vorwärts, mit der Hand immer die kahle, feuchte Wand entlang. Sarah kann absolut nichts sehen, lediglich den schwachen Lichtkegel am Ende des Tunnels. Ein helles Pünktchen, das Sarah wieder die Freiheit gewähren wird, aus dieser dunklen, von Menschenhand geschaffenen Umklammerung. Furchtlos und mit Bedacht lässt sie die Dunkelheit hinter sich und marschiert, umgeben von dichtem Pflanzenwuchs und kahlen Felswänden in immer schnelleren Schritten den Weg entlang. An einer Wegkreuzung stößt sie auf eine kleine Wandergruppe und wie es das Schicksal so will, haben sie den gleichen Weg vor sich. Durch Gespräche aus der Lethargie gerissen und mit dem Hinweis auf ihre in dem nächsten Tunnel verunglückten Schwester, bekunden die Wanderer ihr Mitgefühl und achten während der Tunnelpassage auf Spuren oder mögliche Hinweise. Volkers nur vage Beschreibung der Unglücksstelle verlängert die Aufenthaltsdauer in dieser unheimlichen Dunkelheit. Eine bedrückende Stimmung ist allen Anwesenden anzumerken, so, als ob Beates Geist hier sein Unwesen treiben würde. Die Stirnlampen leuchten so gut es geht den Boden und die Felswand aus, sie blicken in die Tiefe der Levada.

»An dieser Stelle muss es passiert sein.«

Sarah Dobry schaut zu dem Mann, der die Gruppe führt.

»Die Fußspuren auf dem sandigen, feuchtes Grund deuten darauf hin, dass sich hier mehrere Menschen aufgehalten haben und nicht einfach durchgelaufen sind.«

Schweigen. Bedrückt schauen sie in der Dunkelheit um sich, gedenken der Verstorbenen, sprechen im Stillen ein Gebet. Sarah markiert die Stelle an der Wand, indem sie mit einem Messer die Initialen des Namens ihrer Schwester einritzt. Ansonsten ist jedoch nichts zu finden oder zu erkennen. Wortlos gehen sie dem Tageslicht entgegen. Sarah bedankt sich für deren Hilfe, ohne die sie die genaue Stelle niemals hätte finden können. Die Wege trennen sich und wieder völlig in Gedanken versunken, geht Sarah dem Ende ihrer Tour entgegen. Was wollte sie eigentlich mit dieser Tour bezwecken? Warum hat sie sich entschlossen, die Unglücksstelle ausfindig zu machen? Hatte ihr journalistischer Instinkt ihr etwas vorgegaukelt? Fragen über Fragen, doch Sarah findet keine Antworten darauf. Sie grübelt vor sich hin, lässt sich immer wieder von der Natur und ihrer Schönheit ablenken, beobachtet die wenigen Tiere, die sie zu sehen bekommt. Am nächsten Morgen fliegt sie nach Deutschland zurück. Im Gepäck Beates Rucksack samt Inhalt und die Kleidung, die ihre Schwester am Unglückstag getragen hatte.

Tod in der Levada

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