Читать книгу König und Meister - Theresa Hannig - Страница 12

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5. Kapitel

Zurück in ihrem Zimmer war Ada so erschöpft, als hätte sie eine Weltreise hinter sich. Stöhnend glitt sie ins Bett und zog sich die Decke bis unter die Nase.

Sie musste eingeschlafen sein, denn sie erwachte, als ein Pfleger das Tablett mit dem Abendessen brachte und eine weiße Tüte auf den Stuhl neben ihrem Bett stellte.

»Was ist das?«, murmelte sie schlaftrunkener, als sie eigentlich war, denn sie wollte nur Antworten, keine Fragen hören.

»Das sind Ihre persönlichen Sachen. Ein Mitarbeiter der Polizei hat sie abgegeben. Wenn Sie wollen, kann ich sie auch in den Safe legen?«

»Nein, danke, geben Sie bitte her.«

Er reichte ihr die Habseligkeiten und ließ sie dann allein. Ada lugte in die Tüte. Tatsächlich lagen dort ihr Geldbeutel sowie der ihres Vaters, mehrere Schlüsselbunde, sein altes Handy und ihr eigenes Smartphone. Das Schutzglas war in ein Spinnennetz zersprungen, doch als sie auf den Power-Knopf drückte, leuchtete das Display auf. Ada versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wo das Handy während des Unfalls gewesen war. Die Erinnerung pochte in ihrer Magengrube wie ein Faustschlag: Sie hatte es in der Hand gehalten, sie hatte die Rehe gefilmt. Vor lauter Schreck entglitt ihr das Telefon, landete aber weich auf der weißen Decke. Mit zitternden Fingern nahm sie es erneut hoch, konnte ihren Tremor aber kaum unter Kontrolle bringen, sodass es sie einige Mühe kostete, die Kamerafunktion zu öffnen. In einem kleinen runden Fenster erschien das Vorschaubild des letzten Videos, das sie aufgezeichnet hatte: ein Standbild des verwackelten Wagenfensters. Ada zögerte. Wollte sie das wirklich sehen? Konnte sie es aushalten? Bevor sie sich entschieden hatte, tippte ihr Daumen schon auf Play.

Sie hörte das Brummen eines Motors, das Display zeigte ein wackeliges, hellgelbes Weizenfeld durch das geschlossene Beifahrerfenster, dann die Einfahrt eines Wirtschaftsweges, Bäume, die am Straßenrand vorbeiflogen. Die wohlbekannte Stimme ihres Vaters sagte: »Schau mal, da vorn.« Die Landschaft bewegte sich abrupt nach rechts. Rehe auf einer Wiese. Dann ein Schwenk zurück über die leere Straße in Richtung der Baumreihen, doch bevor das Objektiv wieder fokussieren konnte, sagte ihr Vater: »Ach du …«, das Bild flog zur Seite, wilde Farben tanzten, ein Schrei, Ende. Ada schluckte. Sie erinnerte sich noch genau, ja, ihre Erinnerungen deckten sich mit dem Video, da sie im Augenblick des Unfalls auf eben dieses Display geblickt hatte. Doch etwas war anders. Es waren nicht nur die fehlenden Gefühle, die den Film von ihrer Erinnerung unterschieden. War da nicht … Erneut spielte sie das Video ab. Es ging alles so schnell, das Bild war verhuscht, die Töne dumpf, doch sie war sich sicher: Irgendetwas stimmte nicht! Sie drückte auf Pause und schob den Fortschrittsbalken mit dem Finger langsam an die richtige Stelle. Da war es: Die Straße vor dem Auto war leer.

Das Bild zeigte eindeutig eine vollkommen freie Fahrbahn. Weder links noch rechts war ein Reh zu entdecken. Aber sie hatte es doch gesehen! Das siebte Reh. Ihr Vater hatte deshalb das Lenkrad verrissen. Warum hätte er das bei einer leeren Straße tun sollen? Der dunkle Ort in ihrem Magen begann sich langsam zu drehen. Ihre Gedanken rasten. Wie konnte das sein? Wieso hatte das Handy nicht aufgezeichnet, was sie und ihr Vater eindeutig erkannt hatten? Es musste ein Fehler sein. Irgendein technischer Defekt, wie ein toter Winkel oder ein fehlender Frame, ein gelöschter Datenpunkt durch die Kräfte des Unfalls. Irgendetwas. Hatte die Polizei das Handy geprüft? Hatten sie das Video gesehen? Hatten sie vielleicht irgendwelche Daten gelöscht? Aber warum sollten sie so etwas tun? Sollte sie ihnen das Video zeigen? Oder würde das beweisen, dass ihr Vater völlig grundlos in den Graben gefahren war? Vielleicht würden sie Ada verdächtigen, irgendetwas getan zu haben – ich habe nur um mein Überleben gefleht! – obwohl sie doch vollkommen unschuldig war … Das Handy klingelte und Ada fuhr erschrocken zusammen. Sie schaute aufs Display: Es war ihre Mutter.

Dankbar für diesen Ausweg aus dem Chaos nahm Ada das Gespräch an.

»Hallo, Mama« Sie schluchzte, da sich augenblicklich alle Gefühle Bahn brachen und durch ihre Augen nach draußen quollen.

»Hallo, Ada«, quäkte die Stimme ihrer Mutter blechern aus dem Lautsprecher. »Du erinnerst dich doch sicher noch an Mike von Creatom, der Werbeagentur, mit der wir die letzte Nudging-Kampagne hatten. Mit dem habe ich beim Lunch über dich gesprochen und stell dir vor, er hat vielleicht einen Job für dich. Natürlich müsstest du ihn …«

»Mama …«, unterbrach Ada ihre Mutter, doch die redete unbeeindruckt weiter.

»… erst mal kennenlernen. Er kann auch nicht zaubern und muss sich auf die Expertise seiner Personaler verlassen, aber ganz sicher wird er da ein Wörtchen mitzureden haben, ich weiß doch, wie das läuft. Er ist mir nämlich noch einen Gefallen …«

»Mama …«

»…schuldig, wegen er Sache mit Nordchip. Das hat er in den Sand gesetzt und deshalb habe ich was gut bei ihm. Man mag es kaum glauben, aber ja, auch Männer haben ein schlechtes Gewissen. Vor allem, wenn es um Geld geht, aber …«

»Mama!«

»Was ist denn? Wieso unterbrichst du mich ständig? Kannst du nicht abwarten, bis ich fertig bin? Und geh mal ans Fenster, wo du besseres Netz hast, ich versteh dich kaum.«

»Mama! Papa und ich hatten einen Autounfall. Mir geht es gut, aber Papa …«

»Was? Ich verstehe kein Wort.«

»Wir hatten einen Unfall.«

»Wer hat einen Anfall? Meine Güte, Ada, kannst du dir nicht endlich ein anständiges Handy kaufen? Ich rufe dich in fünf Minuten zurück. Und in der Zwischenzeit gehst du raus oder nimmst ein Headset oder sonst was. Ich hasse es, mit Leuten zu telefonieren, deren Handy nicht richtig funktioniert. Das liegt nur daran, dass du es ständig runterfallen lässt. Bis gleich.«

Damit war die Verbindung beendet. Fassungslos starrte Ada auf das Display. Am liebsten hätte sie das Telefon an die Wand geworfen! Doch das würde kein Problem lösen, außerdem durfte sie das Video nicht verlieren. Ihre Mutter würde wieder anrufen, so viel war klar. Vielleicht war der Empfang draußen auf dem Flur besser.

Sie steckte das Handy in die Brusttasche des Schwesternhemds und machte sich mit den Krücken erneut auf den Weg. Im Flur überprüfte sie den Empfang, doch hier draußen hatte sie noch weniger Netz als im Zimmer. Leise fluchend schleppte sie sich zum Aufzug und fuhr nach unten in die Patientenstraße, von der mehrere Türen nach draußen in den Innenhof führten. Ihr war zu kalt, um dort zu telefonieren, doch hier im Glasgang zeigte das Netz immerhin zwei Striche an.

Exakt fünf Minuten, nachdem Adas Mutter aufgelegt hatte, klingelte das Handy erneut.

»So, ich hoffe, du hast jetzt Netz, sonst leg ich gleich wieder auf.« Die genervte Stimme ihrer Mutter klang verzerrt durch den kaputten Hörer.

»Hörst du mich?«, fragte Ada. Ein Schluchzen drohte sich schon wieder nach oben zu bahnen, doch sie konzentrierte sich, es nicht heraus zu lassen. Hier waren überall Leute, außerdem wollte sie erst sicher sein, dass die Gefühle, die sie unter so schrecklichen Schmerzen hervorpresste, auch bei ihrer Mutter ankamen und nicht irgendwo im Äther versackten. Wie sehr sie sich wünschte, ihre Mutter wäre jetzt wirklich hier und würde sie in den Arm nehmen.

»Ja, ich höre dich, aber ganz abgehackt. Kann es sein, dass dein Telefon schon wieder kaputt ist?«

»Ja, kann sein. Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erzählen. Wir hatten einen Autounfall und …«

»Ihr hattet einen was?«

»Einen Unfall.«

»Wer?«

»Papa und ich.«

»Wer? Kannst du mir vielleicht eine SMS schreiben, ich verstehe dich so schlecht.«

»Hör mir doch endlich zu, verdammt!«, schrie Ada. »Papa und ich hatten einen Autounfall. Ich bin okay, aber Papa liegt auf der Intensivstation und ist halb tot, verstehst du jetzt endlich?«

Die Stille, die Ada daraufhin umschloss, kam sowohl von ihrer Mutter als auch von den unzähligen Leuten, die um sie herum im Patientengang stehen geblieben waren. Gesichter, in denen sich Mitleid und Scham mit Erleichterung darüber mischten, selbst nicht ganz so schlecht dran zu sein.

»Ada …«, hörte sie endlich die Stimme ihrer Mutter, diesmal eine Nuance hektischer, was sie vermuten ließ, dass sie jetzt verstanden hatte. »Ada, geht es dir gut?«

»Nein … ja … ich hab nur ein paar Schrammen.«

»Und Frank?«

»Papa … hat es ganz schlimm erwischt.« Da waren sie wieder, die Tränen. Wie Ada sie hasste. Tränen machen hässlich, sagte ihre Mutter Karin immer; sie, die Ada noch nie hatte weinen sehen. »Er war nicht angeschnallt und hat sich tausend Sachen gebrochen und auch am Kopf ist es ganz schlimm und … also … ich weiß, so was darf man nicht sagen, aber ich glaube nicht, dass er es schaffen wird, weil …« Den Rest brachte sie nicht mehr heraus, weil die Schluchzer ihr die Kehle zuschnürten.

»Ada, wo bist du?«

»Im Rechts der Isar.«

»Bleib, wo du bist. Ich besorge dir ein neues Telefon, dann können wir in Ruhe reden, ja? In zwei Stunden ruf ich dich noch mal an.«

Das Gespräch war wieder beendet. Ada lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas, das unter ihrem heißen Atem sofort beschlug. Ihre Eingeweide strebten erneut dem Mahlstrom zu, den sie auf der Intensivstation gespürt hatte. Als würde sich ihr Innerstes auflösen. Als würde alles, was jemals wichtig gewesen war, verschlungen, ins Nichts, ins Nichts.

Knapp zwei Stunden später war Ada zurück in ihrem Zimmer, als jemand an die Tür klopfte. Eine Expresskurierin in Radlermontur brachte ihr einen dünnen Karton, in dem sich ein neues, aufgeladenes Smartphone und ein Ladegerät befanden. Auf einem gelben Post-it standen ihre neue Telefonnummer und die dazugehörige PIN.

Wenige Minuten später kam der erste Anruf.

»Hallo, Mama.«

»Ada, gut, jetzt verstehe ich dich endlich. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich habe gerade schon mit dem Krankenhaus telefoniert, aber die wollten mir nichts sagen. Wie geht es dir? Bist du verletzt?«

»Es geht. Mein Knie ist angeschrabbt, aber die sagen, das heilt wieder.«

»Ein Glück!« Ada meinte, echte Erleichterung zu hören.

»Aber Papa ist ganz schlimm verletzt.«

»Ich habe ihm immer gesagt, dass er sich anschnallen soll, aber er wusste ja alles besser. Nur zwanzig Prozent der Todesfälle sind auf nicht angeschnallte Passagiere zurückzuführen. Der Rest stirbt also, obwohl er angeschnallt ist. Solche Sprüche hat er immer gebracht. So ein Unsinn. Dabei wusste er doch genau …«

»Mama! Ich will jetzt keine schlechten Sachen über Papa hören.«

»Wieso schlechte Sachen? Das hat dein Vater selber gesagt.«

»Ist mir egal. Eigentlich hatte ich mir nur gewünscht, dass du mich tröstest und sagst, dass alles gut wird und du herkommst.«

Ada biss sich auf die Lippen. Die Pause am anderen Ende ließ ihren Mahlstrom rotieren.

»Ada … ich bin sehr froh, dass es dir gut geht. Wenn etwas Schlimmes wäre, würde ich sofort kommen …«

»Es ist etwas Schlimmes … wie kann das nichts Schlimmes sein?«

»Nein, ich meine, wenn es dir schlecht ginge … aber wie es aussieht, bist du ja nur leicht verletzt. Im Augenblick … weißt du, grad ist es total schlecht. Ich komme jetzt nicht weg. Jedenfalls nicht die nächsten zwei Tage. Marsheimer hat mich allein gelassen und ich muss morgen eine Präsentation fertig haben und am Mittwoch ist noch eine Konferenz in Basel. Am Donnerstag könnte ich es schaffen, vielleicht komme ich einfach direkt nach München. Ich muss mal sehen.«

»Weißt du was? Vergiss es.« Ada trennte die Verbindung und schaltete beide Telefone aus.

König und Meister

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