Читать книгу Büchermorde – Mordsbücher - Thomas Kniesche - Страница 7

1.
HISTORISCHE BÜCHERMÖRDER UND IHRE LITERARISCHEN DOPPELGÄNGER

Оглавление

Über berühmte Bücherdiebstähle gibt es viele Berichte. Selten enden diese Geschichten tödlich. Jedoch sind zwei Fälle mit einem solchen Ausgang überliefert. Auch wenn man jeweils nicht direkt von Mord sprechen kann, so enden sie doch tödlich: Menschen kommen auf gewaltsame Weise zu Tode bzw. werden Opfer einer Straftat, die – zumindest nach heutigen Maßstäben – der vorsätzlichen Tötung ziemlich nahe kommt.

In der Romanzeitschrift Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens erschien im sechsten Band des Jahrgangs 1912 unter der Rubrik »Mannigfaltiges« eine kurze Abhandlung zum Thema »Berühmte Bücherdiebe«. Gleich der erste Fall, der dort referiert wird, ist ein Bücherdiebstahl mit tödlichen Folgen – in diesem Falle für den Bücherdieb. Erzählt wird die Geschichte eines »Magister Silvanus« aus Köln, der als Hauslehrer bei reichen Patrizierfamilien arbeitete.

Es war die Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks, und die wohlhabenden Bürger der reichen Handelsstädte wetteiferten miteinander beim Aufbau wertvoller Bibliotheken. Anscheinend kam es dabei weniger auf den Inhalt der Bücher an als auf ihre Ausstattung: Einbände und Buchdeckel mit Schnitzereien aus Elfenbein und mit kostbaren Steinen besetzte »Goldarbeit« sollten den Reichtum der Besitzer solcher Bücher für alle sichtbar demonstrieren.

Das Buch galt als Statussymbol. Magister Silvanus soll sich dieses Besitzstreben und diese Vorzeigementalität auf ganz eigene Weise zunutze gemacht haben. Im Verlauf von nur zwei Jahren stahl er, so wird berichtet, die für damalige Verhältnisse ungeheure Zahl von 462 wertvollen Büchern und verkaufte sie nach Frankreich und Italien. Erwischt wurde er schließlich, als er beim Verlassen eines Patrizierhauses mit dem gerade heimkehrenden Hausherrn zusammenstieß und ihm dabei eine kostbar verzierte Bibel aus dem Mantel fiel. Die sofort einsetzenden Nachforschungen ergaben, dass gerade aus denjenigen Häusern wertvolle Bücher verschwunden waren, in denen der umtriebige Magister den Familiennachwuchs als Privatlehrer unterrichtet hatte. Magister Silvanus wurde am 2. September 1492 gehängt. Seine einträglichen Bücherdiebstähle hatten für ihn also fatale Folgen.

Ein anderer Fall dieser Art ereignete sich in England während der Herrschaft von Heinrich IV. (1367–1413). Ein gewisser John Leycester und seine Frau Cecilia wurden des Diebstahls eines Buches aus der Kirche von Stafford angeklagt.1 Die amtlichen Dokumente weisen aus, was mit den Beschuldigten geschah: »Sus. per coll.« Das ist die Abkürzung für das lateinische suspendatur per collum = man möge ihn am Hals aufhängen (bis der Tod eintritt). Es mag heute verwundern, dass der Diebstahl von Büchern mit dem Tod bestraft wurde, aber für die Justiz dieser Zeit, die auch für Bagatellvergehen die Todesstrafe vorsah, muss der hohe Wert der gestohlenen Bücher die Härte der Bestrafung gerechtfertigt haben.

Über solche Bücherdiebe und ihr unrühmliches Ende wird zunächst in Chroniken, Berichten und Falldarstellungen erzählt, aber einige von Büchern besessene Bibliomanen, die es nicht beim bloßen Diebstahl beließen, sondern deren Obsession sie bis zum Mord trieb, brachten es in der Folge auch zu besonderen literarischen Ehren.


Einer der berühmtesten Büchermörder war Don Vincente, der in den 1830er-Jahren acht Morde2 begangen haben soll, um seine Gier nach wertvollen Büchern zu befriedigen. Don Vincente war Mönch und Bibliothekar in einem Zisterzienserkloster in der Nähe von Tarragona im Nordosten Spaniens. Als das Kloster und die Bibliothek eines Nachts ausgeraubt wurden, verließ er den Orden und tauchte kurz darauf als Inhaber eines Buchantiquariats in Barcelona auf. Offenbar hatte er sich spontan mit den Räubern zusammengetan und selber die wertvollsten Bücher mitgehen lassen. Bald fiel er dadurch auf, dass er mehr Bücher kaufte als verkaufte, und besonders dadurch, dass er sich von wertvollen Büchern nicht trennen konnte.

Nachdem Don Vincente bei einer Auktion des einzigen verbliebenen Exemplars eines seltenen Buches aus dem Jahr 1482 von einem Buchhändlerkollegen überboten wurde, geschah es, dass drei Tage später der Laden dieses erfolgreichen Konkurrenten niederbrannte. In den Trümmern fand man die Leiche des Besitzers. Bald darauf ereigneten sich weitere Mordfälle in Barcelona, und immer waren die Opfer Besitzer wertvoller Bücher. Weil er nach der Auktion einen Wutanfall erlitten hatte, wurde Don Vincente als Hauptverdächtiger verhaftet. Bei einer Durchsuchung seines Hauses fanden sich neben dem besagten Exemplar aus dem Jahr 1482 auch Bücher, die den anderen Mordopfern in Barcelona gehört hatten. Don Vincente stritt zunächst alles ab. Doch als man ihm versicherte, seine Büchersammlung werde intakt bleiben, unabhängig davon, welche Strafe ihn ereilen werde, legte er ein Geständnis ab.

Bei der Gerichtsverhandlung argumentierte sein Verteidiger, dass es keine eindeutigen Beweise für die Schuld des Angeklagten gebe und dass die Anklage nur auf Indizien beruhe. Und wie erkläre er es dann, dass man das einzige Exemplar des bewussten Buches bei Don Vincente gefunden habe?, fragte der Ankläger. Woraufhin der geschäftige Verteidiger bewies, dass noch ein zweites Exemplar existierte. Als Don Vincente dies hörte, verlor er die Beherrschung und – mit dem Ausruf »Mein Exemplar ist nicht das einzige!« – anscheinend auch seinen Verstand. Bis zum Tag seiner Hinrichtung im Jahr 1836 wurde er nicht müde, diesen ungläubigen Ausruf immer wieder vor sich hin zu murmeln.

Damit aber nicht genug. Ein damals fünfzehnjähriger Schüler las von dem Fall Don Vincentes in einer Zeitungsnotiz mit dem reißerischen Titel Das Ungeheuer von Barcelona. Er schuf aus diesem Stoff die Erzählung Bibliomanie (Bücherwahn). Der junge Autor war kein Geringerer als Gustave Flaubert. Er nennt seinen mörderischen Bibliomanen Giacomo und verleiht dieser Gestalt deutliche Züge eines Bibliophilen, der auf liebevolle Weise mit Büchern und Handschriften umgeht. Giacomo liest Bücher nicht, er befühlt sie, er riecht an ihnen, er prüft ihre Einbände, erfreut sich an der Schrift und den Illustrationen – kurz: er verehrt sie als schöne Gegenstände und bewertet sie ausschließlich nach ihrer äußeren Schönheit.

Auch Flaubert greift die Auktion und den Brand sowie die Morde an anderen Besitzern wertvoller Bücher auf. Doch in seiner Erzählung rettet Giacomo das einzigartige Buch aus den Flammen des Hauses und beteuert, die Morde nicht begangen zu haben. Noch wichtiger ist die Schlusspointe, die Flaubert der Geschichte gibt: Als sein Anwalt Zweifel an der Schuld seines Mandanten erzeugen will, indem er ein zweites Exemplar des Buches vorweist, durchkreuzt Giacomo die Absichten des Verteidigers und legt ein Geständnis ab, woraufhin er zum Tode verurteilt wird. Sein größter Wunsch und zugleich das Zeichen seines einzigartigen Bücherwahns war es gewesen, das einzige Exemplar eines Buches zu besitzen. Weil sich das als Illusion erwiesen hat, hat sein Leben für ihn keinen Sinn mehr. Er erbittet sich das von seinem Verteidiger aufgefundene zweite Exemplar noch einmal, zerreißt es in einem Wutanfall und schreit ihm ins Gesicht: »Sie haben gelogen, Herr Advokat! Ich habe es ja gesagt: es gibt nur ein Exemplar in Spanien!«3

Aber damit immer noch nicht genug: Auch Detlef Opitz hat in einem Roman, der eigentlich dem Fall des Magisters Tinius gewidmet ist (dazu gleich mehr), die Geschichte des Don Vincente noch einmal erzählt.4 Hier sind es schon elf Morde, die Don Vincente zur Last gelegt werden5. An der Version von Opitz fällt auf, dass Don Vincente nicht mehr der kaltblütige Killer aus Büchersucht ist, der er in der Falldarstellung und bei Flaubert war. Im Gegenteil, jetzt ist er ein »Großer unter den Großen, ein Mitstreiter, Gefährte des Magisters [Tinius]« und »ein prächtiger Soldat also für die geheiligte Sache«.6 Das ist eine merkwürdige Kehrtwendung und lässt den mordenden Bibliomanen in einem völlig neuen Licht erscheinen. – Aber was ist »die geheiligte Sache«, für die Don Vincente angeblich gestritten hat? Das lässt sich nur mit einem genaueren Blick auf die Geschichte des bereits erwähnten Magisters Tinius beantworten.

Kein Fall eines des Mordes angeklagten Büchersammlers hat die Gemüter über zweihundert Jahre lang so erhitzt wie der des Johann Georg Tinius, protestantischer Geistlicher in der kleinen Gemeinde Poserna bei Leipzig. Etwa dreihundert Publikationen, darunter die Autobiographie des Angeklagten, aber auch Zeitungsartikel, Abhandlungen, Falldarstellungen, ein Theaterstück, Erzählungen und Romane erschienen im Laufe der Zeit.7 Die Bibliothek dieses prominenten Bibliomanen soll zwischen 30.000 und 60.000 Bände umfasst haben. Er kaufte manchmal ganze Sammlungen und Nachlässe, obwohl er als Pfarrer nur über ein bescheidenes Salär verfügte. Und auch als er die beträchtliche Mitgift seiner zweiten Frau eingestrichen hatte, machte er bald wieder Schulden, um seinem Bücherwahn frönen zu können.

Johann Georg Tinius wurde 1764 in einem kleinen Dorf in der Niederlausitz geboren. Obwohl er aus einfachen Verhältnissen stammte, fand er verschiedene Gönner, die ihm zuerst den Besuch des Gymnasiums in Luckau und dann auch das Studium der Theologie an der Universität Wittenberg ermöglichten. Dieses Studium schloss er mit dem Magistergrad ab und arbeitete dann zunächst als Lehrer an einem Gymnasium, während er sich gleichzeitig um eine Stelle als Pfarrer bemühte. Über einige Umwege wurde er schließlich 1809 Pfarrer in der kleinen Gemeinde Poserna in der Nähe von Leipzig in Sachsen.

Schon seit seiner Zeit als Lehrer sammelte er Bücher und gab dafür sein gesamtes Geld aus. Von Poserna aus fuhr er oft nach Leipzig, um dort mehr und immer mehr Bücher zu kaufen. Schon bald reichte der Platz in seinem Haus nicht mehr aus, und er musste einen Teil seines Bücherbestands in einer Scheune unterbringen. Auch falls seine Bibliothek, wie er selber angab, nur 40.000 Bände umfasst haben sollte, hätte man – einer klugen Berechnung zufolge – für die Unterbringung dieser Bücher doch immerhin ungefähr 222 Regale des »Klassiker[s] eines bekannten schwedischen Möbelhauses« benötigt.8 Bei diesen Büchermassen und der enormen Kauflust des Pastors kann es nicht verwundern, dass Tinius immer mehr Schulden machte, bis er schließlich in eine finanzielle Notlage geriet. Dann ereigneten sich zwei Morde in Leipzig.


Am 27. Januar 1812 wurde der Kaufmann Friedrich Wilhelm Schmidt in seiner Wohnung niedergeschlagen und beraubt. Bankobligationen im Wert von 3000 Talern waren ihm gestohlen und dann in einer Bank eingelöst worden. Am 6. April erlag er seiner schweren Kopfverletzung. Von dem Täter fehlte jede Spur.

Im Februar des folgenden Jahres ereignete sich wiederum in Leipzig ein ähnliches Verbrechen. Ein Unbekannter verschaffte sich Zutritt zur Wohnung der 76-jährigen Witwe Kuhnhardt und verpasste ihr einen Schlag über den Kopf. Blutüberströmt brach sie zusammen und konnte nur wenige Aussagen machen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Auch sie starb kurze Zeit später. Dieses Mal hatte der Täter kein Geld gefunden, aber er war von mehreren Personen beim Betreten und Verlassen des Hauses, in dem die Witwe wohnte, gesehen worden. Aufgrund dieser Zeugenaussagen und verschiedener Indizien wurde Johann Georg Tinius am 4. März 1813 verhaftet.

Was nun folgte, waren Untersuchungen und ein geradezu kafkaesk anmutender Prozess: Tinius saß zehn Jahre in Untersuchungshaft und wurde erst dann zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Insgesamt verbrachte er zweiundzwanzig Jahre im Gefängnis. Es gab mehrere Gründe, warum das Urteil erst nach so langer Zeit gesprochen werden konnte. Zunächst waren die Zeugenaussagen widersprüchlich, manchmal widersprachen sich nach einiger Zeit sogar die Zeugen selber. Außerdem hatte man nur Indizien gegen Tinius in der Hand, eindeutige Beweise ließen sich trotz aller Bemühungen nicht finden. Und schließlich, was sich besonders drastisch auswirkte und wesentlich zu der langen Verzögerung beitrug: 1815 wurde Poserna nach der Teilung Sachsens im Gefolge des Wiener Kongresses und der Neuordnung Europas nach der endgültigen Niederlage Napoleons preußisch, was ein unglaubliches Durcheinander in der Prozessführung nach sich zog. Juristische Zuständigkeiten mussten neu verhandelt und Prozessakten ausgetauscht bzw. an die richtigen Stellen geleitet werden, und weil dabei manches verloren ging, hatte man neu zu recherchieren.

Letztlich wurde Tinius 1823 wegen Mordes an der Witwe Kuhnhardt zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Überfall auf den Kaufmann Schmidt konnte ihm nicht nachgewiesen werden. 1835 wurde er aus der Haft entlassen. Er starb am 24. September 1846. Bis zuletzt beteuerte er seine Unschuld.

Der Fall des Magisters Tinius hat die Phantasie und den Forschungsdrang von Schriftstellern verschiedenster Art so stark beflügelt wie wenig andere in der Geschichte des Verbrechens. Eine der ersten Darstellungen, die in späteren Zeiten noch enormen Einfluss auf die Beurteilung dieses Büchermordes haben sollte, wurde 1843 im Neuen Pitaval veröffentlicht, der seit 1842 in Leipzig beim Verlag F. A. Brockhaus erschien.

Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, wie der genaue Titel hieß, wurde herausgegeben von Julius Eduard Hitzig (1780–1849) und Willibald Alexis (eigtl. Wilhelm Häring, 1798–1871). Bis 1890 wurden 60 Bände aufgelegt, deren 524 Schilderungen Kriminalfälle aus den Jahren 1397 bis 1889 berücksichtigten. Der neue Pitaval ist eine reichhaltige Quelle gruseliger Verbrechen und schauerlicher Geschichten, in denen die Abgründe menschlichen Verhaltens vermessen werden. Er ist aber auch ein interessantes Dokument davon, wie Kriminalität im 19. Jahrhundert verstanden wurde und wie man über Verbrechen schrieb, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen.9 Und das tat der Neue Pitaval. Seinen Erfolg kann man an der Zahl der erschienenen Bände und seiner Laufzeit ablesen.

Was war das Geheimnis dieses Erfolgs? Ein Faktor war, dass die Herausgeber gleichzeitig Kriminalisten und Schriftsteller waren. Hitzig war »Criminaldirector«, Wilhelm Häring, der die meisten Einträge schrieb, war zuerst Referendar am Kammergericht Berlin, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und sich hier besonders als Autor umfangreicher historischer Romane im Anschluss an Walter Scott hervortat. Er wurde zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts.

Wichtiger noch als ihr Fachwissen war die neue Art dieser Autoren, über Kriminalfälle zu schreiben. Darstellungen von Fallgeschichten hatte es schon vorher gegeben. Den Anfang hatte der erste oder, wenn man so will, der Alte Pitaval gemacht. Das waren die Causes célèbres et intéressantes, avec les jugements qui les ont décidées, also die Berühmten und interessanten Rechtsfälle, die der Advokat und Schriftsteller François Gayot de Pitaval in 20 Bänden von 1734 bis 1743 in Paris herausgegeben hatte. Pitaval hatte zahlreiche Nachahmer gefunden, aber sowohl er als auch seine Nachfolger wandten sich in erster Linie an ein juristisch bereits geschultes Publikum oder an Leser, die etwas über juristische Verfahren lernen wollten. Dementsprechend trocken und gewunden war auch der Stil, in dem diese Schriften daherkamen.

Das Team Brockhaus, Hitzig, Häring wollte etwas Anderes und Neues: einen Schreibstil, der zwischen juristischer Verfahrensdarstellung und freier literarischer Erfindung eine dritte Möglichkeit realisierte. Ihr Programm bestand darin, aufbauend auf solider juristischer Kompetenz und genauer Kenntnis der Fakten den Fall so darzustellen, dass immer die Tat und der Täter im Vordergrund standen oder, wie sie es selber im Vorwort zum ersten Band ausdrückten: »die lebendige Darstellung der Handlung, der That und ihrer Motive«10.

Das hatte zur Folge, dass man, ausgehend vom Urteil, das immer als angemessen und gerecht vorausgesetzt wurde, zurückging auf die Person des Täters, sein soziales Milieu und seine Lebensumstände, seine Biographie und sein psychologisches Profil (wie man heute sagen würde). Aus diesen Umständen wurde erklärt, oder besser: erzählt, wie das Verbrechen zustande kam. Grundlage der Darstellung war einerseits die Realität, wie sie sich in der Aktenlage präsentierte. Auf der anderen Seite sollte aber auch spannend und verständlich geschildert werden, wer der Verbrecher war und wie es zur Tat kam. Eine kritische Sicht auf das Justizwesen war dagegen nicht vorgesehen, im Gegenteil: Die Justiz und ihre Vertreter hatten immer Recht, an ihrer Weisheit war nicht zu zweifeln, und jede Geschichte hatte eine Moral, die für jedermann nachvollziehbar war. Diese Schreib- oder Darstellungsstrategie erwies sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts als überaus erfolgreich.


Der vierte Band des Neuen Pitaval enthält die Geschichte des Magisters Tinius11. Zunächst werden die Fakten der gerichtlichen Untersuchung dargelegt und berichtet, wie der Verdacht auf Tinius fiel. Das große Rätsel, dem man sich anschließend zuwendet, ist nicht die Frage nach der Identität des Mörders, sondern wie es dazu kommen konnte, dass Johann Georg Tinius diese Tat beging. Tinius war immerhin Pfarrer, Familienvater, ein Mann von Bildung und Verstand! Die Erklärung war aber schnell bei der Hand, als man seine Bibliothek gefunden hatte. 60.000 Bände in der Hausbibliothek eines Landgeistlichen – das war ein klarer Fall von Bibliomanie!

Aber dies allein reichte als Erklärung nicht aus. Trotz aller Bemühungen blieb der psychologische Hintergrund des Falles unklar. Die Indizien hatten zwar nach Meinung des Gerichts zu einer Verurteilung ausgereicht. Aber die letzte Frage, »wie ein Mann von solcher Verstandeskraft, seiner Bildung, wie ein Geistlicher seine Bücherliebe bis zu der Raserei der Leidenschaft steigern konnte, […] wie Tinius ein kaltblütiger Raubmörder werden konnte, der mit Vorbedacht und entsetzlicher Consequenz Mord und Raub als Geschäft betrieb«12, diese Frage blieb offen. Die Geschichte von Magister Tinius, wie sie im Neuen Pitaval erzählt wurde, stieß hier also offensichtlich an die Grenzen ihrer Erklärungskraft.

Und genau an diese Erklärungslücke knüpft ein sehr viel neuerer Text an: der 2005 erschienene Roman Der Büchermörder von Detlef Opitz. Eigentlich hatte der Autor den Auftrag, über etwas ganz anderes zu schreiben, aber dann erregte der Fall des Magisters Tinius seine Aufmerksamkeit. Und das kam so:

Detlef Opitz bekommt den Auftrag, einen Begleittext zu einem Fotoband über Goethe zu schreiben, stößt dann aber in der Sophienausgabe13 (das ist die Goethe-Ausgabe, in der alles, aber auch wirklich – fast – alles steht, was Goethe je geschrieben hat) auf den Namen des Magisters Tinius. Wer war das? Das Lexikon (es muss ein altes gewesen sein) verrät: »Räuber und Mörder aus Büchersammelwuth.« Das Stichwort Büchersammelwut führt bei Opitz, der selber Bibliophiler ist, zur dichterischen Initialzündung: »Pfaffe, Killer, Bibliomane!«14 – dem musste nachgegangen werden. Ein neues Buchprojekt war geboren, was bedeutete, dass erst einmal recherchiert werden musste. Und das tat der Autor dann auch – und zwar sieben Jahre lang.

Als Resultat der umfangreichen Forschungs- und Ermittlungsarbeit ergibt sich für Opitz, dass die Geschichte des Falles ganz neu geschrieben werden muss, denn alles, was bisher berichtet wurde, ist unzulänglich. Mit dem vorliegenden Material zum Fall Tinius geht er denn auch hart ins Gericht. Die Texte seien »so zahlreich wie armselig und hilflos«, und die Zeitungsartikel über den Fall seien »der üppliche (!) Dreck«.15 Besonders die bis dahin als Standardquelle geltende Abhandlung im Neuen Pitaval wird heftig kritisiert. Opitz wirft ihr vor, sie sei unlesbar und voreingenommen und stecke voller »Schlampigkeiten«. Vor allem bemängelt er, dass man nichts über den Angeklagten als Menschen erfahre, sondern nur das, was in den Akten stehe. Die Autoren der Abhandlung, also Hitzig und Häring/Alexis, hätten Tinius noch persönlich sprechen können, wenn sie sich darum bemüht hätten. Stattdessen hätten sie sich aber auf die Akten verlassen und ihn »bis in alle Ewigkeiten schuldig« geschrieben: »Schande! Schade! Wirklich schade …«16

Opitz rollt den Fall ganz neu auf, und zwar in Form eines Romans mit dem Untertitel »Ein Criminal«. Dieser Untertitel lässt sich sowohl auf den vermeintlichen Kriminellen Tinius wie auch auf die Gattung des vorliegenden Romans beziehen. Zum Kriminalroman wird Der Büchermörder aber nicht, weil hier die Taten eines Mörders geschildert werden, sondern deshalb, weil der Roman aus der Perspektive eines Erzählers geschrieben ist, der sich als Detektiv betätigt, um die wahren Geschehnisse um die Leipziger Büchermorde aufzuklären. Und genau das ist der entscheidende Ansatz in Opitz’ Roman. Denn jetzt beginnt die Suche nach den ursprünglichen Informationen zum Fall des Magisters Tinius. Und die Geschichte dieser Recherche ist ebenso spannend wie die Geschichte der beiden historischen Morde.

Die offiziellen Untersuchungsakten zum Fall Tinius waren nach der üblichen Frist im Jahr 1855 makuliert, d.h. vernichtet worden. Diese Information war für Opitz aber kein Grund, die Suche aufzugeben. Und tatsächlich gelang es ihm, die Akten wieder aufzufinden.

Der Bremer Verleger, Antiquar und Buchliebhaber Hans Kasten hatte eine umfangreiche Materialsammlung zum Fall Tinius angelegt, um ein Buch zu schreiben, was dann aber nie verwirklicht wurde. Unter diesem Material befanden sich auch die verloren geglaubten Akten, aus denen er schon 1932 einige Faksimiles publiziert hatte. Kasten hatte die Akten 1930 von einem Leipziger Antiquar gekauft. Woher der sie erhalten hatte, konnte nicht mehr ermittelt werden. Jedenfalls waren die besagten Akten in den dreißiger Jahren aufgetaucht, verschwanden aber bald wieder. Denn nach Kastens Tod 1959 wurde sein Nachlass bei einer Auktion 1961 versteigert. Den Zuschlag erhielt ein Bieter aus den USA. Dort verlor sich die Spur der Akten erneut.


Aber unser Autor/Detektiv gab nicht auf und fand heraus, dass ein Antiquariat Martin Breslauer in New York (vormals London, davor Berlin) das Konvolut ersteigert hatte. Dessen Sohn und Nachfolger Bernd Breslauer erinnerte sich noch an die Sammlung Kasten, aber was dann mit ihr geschah, konnte der immerhin 80-Jährige beim besten Willen nicht mehr sagen. Opitz stand am »Punkt Null in NY«17, ground zero also für den Bücherdetektiv. Was tun?

Obwohl er nicht weiß, wie die Recherche weitergehen soll, reist Opitz nach New York. Bei einem Besuch der berühmten New York Public Library wird er am Ende fündig. Dort ist der Nachlass von Hans Kasten einschließlich der Prozessakten verzeichnet. Er liegt im Magazin der Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, nicht weit weg von New York. Für Fotokopien – wohlgemerkt, nur für Kopien des Materials – bezahlt der reisende Ermittler 1500 Dollar und leitet damit »eine neue Ära der Tinius-Literatur«18 ein.

Denn jetzt stehen zum ersten Mal seit dem Neuen Pitaval wieder die ursprünglichen Gerichtsdokumente zum Fall zur Verfügung. Der Rest ist Geschichte, und zwar diejenige Geschichte des Magisters Tinius, die Opitz in seinem Roman ganz neu schreibt. In dieser Geschichte geschieht vor allem eins: Es werden Zweifel gestreut an der Schuld des Magisters Tinius bzw. an dem Vorwurf, ein Büchermörder gewesen zu sein. Grundlage dieser Neueinschätzung des Falls ist der kritische Umgang mit dem Material. Opitz nimmt Zeugenaussagen genau unter die Lupe, entlarvt Voreingenommenheiten und Vorverurteilungen, führt gewisse Aussagen auf Geltungssucht und Imponiergehabe zurück und macht auf den dringenden Wunsch der Ermittler und Juristen aufmerksam, den Fall zu einem irgendwie befriedigenden Abschluss zu bringen.

Auf diesem Hintergrund erscheint der Magister Tinius in einem ganz neuen Licht, nämlich als unschuldig Verfolgter, der aufgrund verschiedener unglücklicher Zufälle ins Visier von Ermittlern gerät, die von Anfang an von seiner Schuld überzeugt sind, ohne dafür stichhaltige Gründe zu haben. Seine größte Sorge nach seiner Verhaftung gilt seinen Büchern. Es ist schließlich die Zeit der Napoleonischen Kriege, und niemand weiß, wie sich die Soldateska der verschiedenen Kriegsparteien verhalten wird, wenn sie auf seine Büchersammlung stößt.

Was bleibt am Ende? War Tinius der Büchermörder von Leipzig oder war er es nicht? Klaus Seehafer, der, aufbauend auf dem Roman von Opitz und dessen Forschungen, mit seinem Buch Magister Tinius die bisher letzte Biographie über diesen angeblichen Büchermörder geschrieben hat, räumt ein, dass er, fände sein Prozess heute statt, wahrscheinlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden müsse.19 Johann Georg Tinius galt über 150 Jahre lang als das Paradebeispiel des bibliomanen Büchermörders. Ob er es wirklich war, wissen wir nicht. Auf jeden Fall aber war er, wie auch sein Zeitgenosse Don Vincente, ein treuer Streiter für die Sache des Buches.

Büchermorde – Mordsbücher

Подняться наверх