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Der schlafende Riese

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Es war einmal ein Riese, der in einem längst vergessenen Königreich lebte. Der Riese war dort nicht besonders beliebt, denn er war selbst für einen Riesen riesig groß. Wenn er seine rechte Hand hob, dann konnte er mit seinen Fingern durch die Wolken greifen und mit seinen mächtigen Schritten in kürzester Zeit das ganze Königreich durchschreiten.

Doch der Riese musste vorsichtig sein, denn allzu schnell passierte es ihm, dass er etwas zerstörte. Die Leute waren darüber gar nicht erfreut, und darum hatte der Riese auch nicht viele Freunde. Immer wenn er irgendwo vorbeistampfte, hörte er nur: „Pass doch auf, wo du hintrittst! Nein, nicht dorthin! Und auch nicht dahin!“ Viel zu oft passierte ihm dies und darum wusste er manchmal gar nicht, wohin er überhaupt noch treten durfte. Das machte den Riesen sehr, sehr traurig.

Eines Tages stampfte der Riese wieder einmal durch das Königreich. Mitten auf einer Wiese setzte er sich nieder und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Dies tat der Riese sehr oft, denn in diesen Momenten konnte er alle seine Sorgen vergessen. Als schließlich auch der letzte Sonnenstrahl verschwunden war, erhob sich der Riese und wollte sich wieder auf den Weg zu seinem Berg machen. Dort hatte er sich eine riesige Schlafkerbe geschlagen, in der er Nacht für Nacht schlief.

Doch gerade als er sich aus dem Gras erhoben hatte, merkte er ein Zwicken an seinem Hinterteil. Mit seinem rechten Daumen und Zeigefinger entfernte er den – wie er vermutete – Baum, denn durch seine enorme Größe passierte es dem Riesen recht oft, dass er sich auf einen solchen setzte, der ihn dann aus Notwehr piekste. Der vermutete Baum stellte sich aber als eine zerdrückte Kutsche heraus.

Schon krabbelte aus den Trümmern auch deren Besitzer heraus, ein alter Bekannter des Riesen – der Zauberer Trottebart.

„Was hast du mit meiner Kutsche gemacht?“, krächzte Trottebart laut. „Ich habe die Nase voll von dir! Letzte Woche zerstörtest du meinen Garten und heute meine Kutsche. Gott sei Dank habe ich die Pferde gerade zum Wassertrinken geschickt, sonst müsste ich mir jetzt nicht nur eine neue Kutsche, sondern auch noch neue Pferde besorgen. Riese! Niemand will dich hier in diesem Königreich! Ich verzaubere dich! Du sollst für alle Zeit schlafen und nie mehr etwas zerstören. Hokus pokus teraptus!“

Und im gleichen Moment plumpste der Riese an Ort und Stelle zu Boden und fiel in einen tiefen, tiefen Schlaf.

Viele, viele Jahre vergingen, und niemand vermisste den Riesen. Mit den Jahrzehnten vergaß man sogar, dass es ihn jemals gegeben hatte. Währenddessen veränderte sich das Königreich. Die Städte wurden größer, und viele neue Dörfer wurden gegründet. Auch die Pflanzenwelt veränderte sich. Wo früher noch Wälder waren, wichen sie Dörfern, und dort, wo keine waren, wuchsen neue Wälder heran. Der Riese schlief nun schon so lange, dass die Natur meinte, er würde zu ihr gehören. So kam es, dass Wiesen und Wälder über den Riesen hinwegwuchsen. Niemand dachte mehr daran, dass dort ein Riese lag und schlief.

Weitere Jahrzehnte vergingen, und einige Bauern gründeten dort ein neues Dörfchen. Sie legten Felder an, bepflanzten diese und bauten Häuser. Es war ein kleines und beschauliches Dorf, und die Leute fühlten sich wohl.

Eines Tages spielte dort ein kleiner Junge am Waldrand mit seiner Schwester Verstecken. Als das Mädchen mit dem Suchen an der Reihe war, lief der Junge in den Wald und entdeckte dort eine Höhle.

Hurra! Das ist ein toller Ort, um mich zu verstecken!, dachte er und drang weiter in die Höhle ein, bis er zu einem Abgrund kam, bei dem er nicht mehr weiter konnte. Um zu testen, wie tief es da hinunterging, schoss er mit seiner geliebten Steinschleuder, ohne die er niemals das Haus verließ, in die Tiefe.

Draußen zählte die Schwester bis hundert ...

Nachdem der Junge geschossen hatte, begann die Höhle auf einmal zu wackeln, und der Junge vernahm ein sehr lautes Geräusch, fast so, als würde jemand zu ihm sprechen. Es war so laut, dass ihm die Ohren wehtaten.

„Ha...hatschi!!“ Gleichzeitig kam aus der Tiefe ein heftiger Windstoß, der den Jungen so mir nichts, dir nichts vor die Höhle beförderte.

Dort lag der Junge nun ganz verwirrt auf dem Boden und schüttelte und rüttelte sich.

„Haha“, meinte seine Schwester, die ihn gesucht hatte, spöttisch. „Brüder­chen, du hast dich aber nicht sonderlich gut versteckt, ich hab dich schon!“

Erschrocken erzählte der Junge seiner Schwester, was passiert war, und gemeinsam erklommen sie den Hügel ober der Höhle.

Plötzlich erklang eine tiefe Stimme: „Was hat mich da in meinem Nasenloch gekitzelt? Was ist passiert? Warum liege ich auf dem Boden und kann mich nicht bewegen?“

Der Junge, der eben gemerkt hatte, dass sie auf einem riesigen Gesicht standen, fragte entgeistert: „Wer bist du? Du hast ein so großes Gesicht! So etwas habe ich noch nie gesehen!“

Da erhob sich die Stimme abermals: „Ich bin der größte Riese dieses Königreiches und fühle mich, als hätte ich tausend Jahre geschlafen!“

Die Geschwister erschraken vor der dröhnenden Stimme des Riesen und liefen zurück ins Dorf. Dort erzählten sie dem Dorfältesten, was passiert war.

Dieser war aber nicht sonderlich erstaunt darüber und fing zu erzählen an: „Vor vielen, vielen Jahren lebte einst ein riesiger Riese in unseren Landen. Keiner mochte ihn wirklich, da er so groß war, dass er mit seinen großen Füßen immer etwas zerstörte. Ständig zertrampelte der Riese etwas. Seien es Häuser, Kutschen oder Gärten, egal, wo immer der Riese auch auftauchte, ging irgendwas zu Bruch. Damals ging ein Gerücht durch die Lande, der Riese sei verzaubert worden, dass er für immer schlafen sollte, um niemals mehr in diesem Königreich etwas zerstören zu können. Doch niemand weiß, was wirklich war. Die Zeit verging, und alles wurde zu einer Legende.“

Mittlerweile hatte es sich im ganzen Dorf herumgesprochen, was die Geschwister entdeckt hatten, und am Dorfplatz entstand eine wilde Diskussion. Manche waren der Ansicht, der Riese sollte einfach weiterschlafen, andere dagegen wollten nicht auf einem Riesen leben. Die Meinungen gingen so weit auseinander, dass am Ende niemand mehr wusste, was zu tun war. So entschied der Dorfälteste, mit dem Riesen zu reden, und stapfte auf den Hügel hinauf.

„Riese“, begann er, als oben ankam. „Was sollen wir nur mit dir machen? Unser ganzes Dorf wurde hier aufgebaut und so, wie es aussieht, stehen unsere schönen Häuschen genau auf deinem Bauch. Wir lieben aber unser Dorf und wollen auch nicht umsiedeln.“

„Oje, oje“, erwiderte der Riese traurig. „Ihr wollt nicht umziehen? Wie, um Himmels willen, soll ich denn dann aufstehen?"

Der Dorfälteste kratzte sich am Bart und fuhr mit ernster Miene fort: „Warum schläfst du nicht einfach weiter? Das wäre für alle am besten!“

„Das ist doch nicht dein Ernst!“, meinte der Riese erzürnt. „Wie wäre es, wenn ich dir vorschlagen würde, einfach für immer zu schlafen? Dies würde dich auch nicht entzücken! Ich schlage dir einen Handel vor. Ihr alle helft mir, dass ich aufstehen kann, dafür helfe ich euch bei der Umsiedlung des Dorfes!“

Der Dorfälteste kratzte sich wieder und überlegte kurz. „Hm, wenn du uns wirklich hilfst, so werde ich meine Gemeinde davon überzeugen, dass wir dir helfen!“

So waren sich der Riese und der Dorfälteste einig, und kurze Zeit darauf waren alle Einwohner des Dörfchens davon überzeugt, dem Riesen helfen zu müssen.

Mit Äxten und Spaten bewaffnet begannen sie, Bäume zu fällen, und lockerten den Boden um den Riesen herum auf. Immer wieder knurrte der Riese zwischen­durch, wenn sie ihm dabei ein Haar ausrissen, oder er fing zu kichern an, wenn ihn eine Axt kitzelte.

Inzwischen begannen sie auch schon mit der Umsiedlung des Dorfes, um den Bauch des Riesen freizulegen. Der Junge und seine Schwester brachten ihm immer wieder große, duftende Brotlaibe und Eimer mit frischem Wasser, damit der Riese nicht verhungerte. Fast ein ganzes Jahr benötigten die Menschen, um den Riesen zu befreien.

Endlich war es soweit. Der Riese schüttelte sich so stark, dass gleich ein paar Kühe in das neue, halbfertige Dorf geblasen wurde, aber er half den Menschen tatkräftig, und kurz vor der Vollendung des neuen Dorfes fehlte es nur noch an ein paar Hölzern. Da sie aber alle Bäume in der Gegend gefällt hatten, machte sich der Riese auf den Weg, um weitere zu finden und diese den Dorfbewohner zu bringen.

Nach ein paar großen Schritten fand er gleich welche ganz in der Nähe und auch ein kleines Schlösschen. Doch wie früher passierte es ihm wieder, allzu schnell etwas kaputt zu machen. Er ramponierte mit einem Baum das Dach des Schlosses, und als dessen Besitzer auf den Balkon trat, konnte dieser seinen Augen kaum glauben

„Das kann nicht sein!“, rief er erschrocken aus. „Ich habe dich auf ewig verzaubert! Und jetzt? Jetzt zerstörst du gerade mein Schloss und reißt meine Bäume aus meinem Garten! Wie konntest du nur erwachen?“

„Du warst das also, Zauberer Trottebart?“, rief der Riese so laut, dass die Dorfbewohner vor Schreck ihre Köpfe einzogen. „Ewig schlafen lassen wolltest du mich? Gut, dass es in diesem Königreich noch Menschen gibt, die Gefühle haben! Ein kleiner Junge hat mich aus meinem Schlaf befreit!“

Wütend wandte sich der Zauberer ab und trottete in seine Gemächer zurück, und der Riese machte sich mit den Bäumen auf der Schulter auf den Weg zurück ins Dorf.

Dort angekommen, musste er aber eine schreckliche Entdeckung machen. Alle Dorfbewohner wirkten, als wären sie versteinert. Und als er genauer hinblickte, wurde ihm klar, dass es nicht nur so schien, sondern dass es wirklich so war: Alle Dorfbewohner waren zu Stein geworden.

Der Riese war außer sich vor Zorn und wusste gleich, wer dafür verantwortlich war. Mit seiner ganzen Wut stampfte er zum Schloss zurück.

„Trottebart! Trottebart!“, brüllte er dort. „Was hast du mit den Dorfbewohnern gemacht? Du willst mich, also verzaubere mich, aber die Dorfbewohner haben ein gutes Herz und mit dieser Sache nichts zu tun!“

Boshaft lachend kam der Zauberer auf den Balkon: „Hahaha! Sie haben dir geholfen, und das ist ihre Strafe. Jetzt werde ich auch dich in Stein verwandeln, dann kann dich niemand mehr jemals retten. Titrutus fidibus saktulus!“

Ganz langsam wurden die Füße des Riesen zu Stein. Dann seine Unterschenkel, seine Oberschenkel ... Doch plötzlich konnte der Riese Gedanken vernehmen.

Gib nicht auf, Riese, gib nicht auf!, hörte er den kleinen Jungen, und auch die Dorfbewohner riefen ihm in seinem Kopf den gleichen Satz zu. Immer und immer wieder. Bald hatte sich die Versteinerung seinen Körper heraufgekämpft und auch seine linke Hand befallen, doch die vielen Worte, die in seinem Kopf hallten, gaben ihm Kraft.

Mit riesiger Riesenanstrengung hob er seine rechte Hand und packte den Zauberer am Oberkörper, der dabei seinen Zauberstab verlor. Der Riese knurrte grimmig. „Wenn das Dorf und ich schon versteinert werden, dann sollst auch du für immer dieses Schicksal erleiden!“ Er hielt den Zauberer so fest in seiner Hand, dass er für immer gefangen war, sobald die Riesenhand versteinert war.

„Riese!“, flehte Trottebart, der ohne seinen Zauberstab machtlos war. „Lass mich runter, und ich werde alle wieder entzaubern!“

Der Riese aber wusste nicht, ob er Trottebart trauen sollte, und zögerte. Erst als in seinem Kopf die Stimme des Jungen hallte, die ihm zurief „Riese, ich glaube, er meint es ernst!“, warf er den Zauberer im letzten Moment noch auf den Boden.

Klatsch!

Rasch griff Trottebart nach seinem Zauberstab, hielt Wort und verwandelte gleich alle Dorfbewohner und den Riesen zurück.

Daraufhin reparierte der Riese mit ein paar raschen Handgriffen das Dach des Zaubererschlosses und half den Dorfbewohnern beim restlichen Aufbau des Dörfchens.

Der Riese und der Zauberer wurden in den Jahren darauf noch sehr enge Freunde, und wenn sie heute über die Geschehnisse von damals sprechen, fangen beide an zu lachen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lachen sie noch heute.

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