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Prolog – Der Archivar

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„Was bietet mehr Möglichkeiten als eine weiße Fläche“, murmelte Tommy. Seine Fingerspitzen strichen sanft über die leere Leinwand.

Ben brummte wenig überzeugt. Er dachte an seine kleine Wohnung im elften Stock eines heruntergekommenen Wohnturms. An den Wänden hingen keine Fotos, die Geschichten von ihm wichtigen Menschen erzählten; keine Bilder von Orten, an die er gerne reisen würde; keine Filmposter, keine Sporturkunden, ja nicht einmal Farbe wagte ihre Unberührtheit zu beflecken. Er lebte zwischen weißen Wänden. Doch wo Tommy die Chance auf einen Neubeginn sah, starrte er nur auf unerfüllte Verantwortung.

Es war seine Schuld, dass die Fläche für immer weiß bleiben würde.

„Müssen wir das hier wirklich tun?“, fragte Ben missmutig.

„Nein, natürlich nicht. Du musst gar nichts“, erwiderte Tommy. Er schaute Ben von seinem Platz vor der Staffelei aus an. „Aber ich möchte dich schon seit Langem malen, das weißt du. Es würde mir sehr viel bedeuten.“

„Und warum gerade hier?“

Bens Blick wanderte über das Menschenmeer in den Gängen des riesigen Kaufhauses. Es schwappte in Wellen in die vielen Geschäfte und teilte sich vor dem Brunnen, auf dessen Steinmauer er Modell saß. In der Mitte des Kreisbeckens hinter ihm erhob sich die aus dunkler Bronze gegossene Statue eines Mannes, der einen Jungen an der Hand hielt. Wann immer Ben die Skulptur sah, überkam ihn das Gefühl, dass hier etwas Schreckliches passiert war.

„Du weißt doch, weshalb es unbedingt hier sein muss“, antwortete Tommy. Statt zu erklären, was er damit meinte, mischte er auf seiner Farbpalette den Grundierungston an. „Kannst du deine Hand an den Hals legen? Ich will deinen Verlobungsring mit auf dem Bild haben.“

„Warum soll man denn den Ring sehen?“, entgegnete Ben argwöhnisch. Er verbarg die Finger seiner rechten Hand unter denen seiner linken.

„Ich versuche hier nicht bloß dein Äußeres abzubilden, Ben. Einen so großen Teil deiner Vergangenheit kann ich nicht weglassen.“

„Ich wünschte, du könntest es.“ Widerstrebend entblößte er seinen Ring, indem er sich die Fingerspitzen an den Hals legte. „Bitte beeil dich mit dem Gemälde. Es ist so unerträglich heiß.“

Seit Wochen schon brannte die Sonne unentwegt in Bens Nacken und auch heute flutete ihr Licht die Straßen der Stadt. Er versuchte stets, sich von ihr abzuwenden, entrinnen konnte er ihr jedoch nicht. Der Menschenstrom trug die Wärme von draußen ins Innere des Kaufhauses. Anders als die Menschen teilte sich die Hitze nicht vor den Beiden, sondern erfasste sie, verschluckte sie und juckte auf Bens schweißnasser Haut. Bei der Vorstellung, am nächsten Morgen arbeiten gehen zu müssen, überkam ihn das Verlangen, in der nächsten Buchhandlung einen Roman zu kaufen und sich in die Geschichte eines Mannes entführen zu lassen, der floh vor dem ewigen Sommer und sich stattdessen dem spülenden Regen der über ihm aufbrechenden Gewitterwolken ergab, selbst auf die Gefahr hin, dass ihn dieser womöglich hinwegreißend ertränken mochte.

„Man kann sich mit so etwas nicht beeilen“, antwortete Tommy. Er wischte sich mit dem Arm über die feuchte Stirn. „Ein Bild braucht Zeit oder es sollte gar nicht erst gemalt werden.“

In entschiedenen Strichen zog Tommy den Pinsel scheinbar zufällig durch das Weiß der Leinwand. Derweil knetete er mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand sein linkes Ohrläppchen. Tommys Augen glichen normalerweise dunklen Seen. Ihr stilles Wasser verbarg jede Bewegung unter der Oberfläche. Doch wenn er malte, leuchteten sie in kindlicher Begeisterung auf und die freudvollen Grübchen in seinen Augenwinkeln vertieften sich.

Ben konnte das Bild von seinem Platz am Brunnen aus nicht sehen. Beunruhigt verfolgte er das Spiel der Muskeln an Tommys Unterarm. Er wusste von Tommys ungewöhnlichem Vorgehen beim Malen. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, die in der Regel damit begannen, grobe Formen des Gesichts zu erfassen, würde Tommy nach wenigen Grundierungsstrichen zur Darstellung irgendeines Details übergehen. So würde Tommy vielleicht mit seinem breiten Mund beginnen, der wie zum Lachen gemacht schien, es aber aus ihm selbst unbekannten Gründen nur selten tat. Oder er würde eine seiner losen, blonden Locken so lebensecht abbilden, dass man im ersten Moment versucht war, mit dem Finger darüber zu streichen. Tommy hatte sich vorgenommen, seine Essenz, sein tiefstes Innerstes, in den Farben einzufangen und Ben befürchtete, sein Freund könne damit Erfolg haben.

Er schrie auf, als etwas in seine Wange schnitt.

„Was ist los?“, fragte Tommy erschrocken.

Ben berührte die Stelle mit den Fingerkuppen und betrachtete sie dann in der Erwartung, Blut daran vorzufinden. Schließlich zuckte er die Schultern, denn es war nichts zu sehen.

„Ach nichts.“

Tommy nickte und setzte den Pinsel wieder an die Leinwand. Besorgt spürte Ben das Kribbeln der Pinselborsten auf seinem Kinn, als sei seine Haut aus dem Leinen gemacht, auf dem Tommy malte. Der Druck wurde heftiger, die Borsten wurden mit jeder Sekunde härter und spitzer, bis er schließlich das Gefühl hatte, Tommy ritze ihm mit einem Messer seine intimste Schuld auf die Haut, wo sie jeder ungehindert betrachten konnte. Hunderte von anklagenden Gesichtern starrten ihn aus dem wogenden Menschenmeer heraus an. Sie rauschten vorüber und erkannten den Schmutz in seinen Farben. Jeder von Tommys Strichen biss schmerzhafter ins Leinen als der Vorherige. Feurige Striemen zeichneten seine Gesichtszüge nach. Sein Herz raste, die Qualen wurden unerträglich.

Ben fuhr hoch. Er verbarg sein Gesicht in den Händen.

„Hör bitte auf!“

„Was? Warum?“

„Es tut mir leid, Tommy. Ich halte das nicht aus. Es ist so heiß. Lass uns abbrechen.“

Tommy atmete geräuschvoll aus. Er rieb sich mit den Handballen erst über die Augen, dann über die Schläfen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas Kopfschmerzen bereitete. Der panische Unterton in Bens Stimme war ihm bestimmt nicht entgangen.

„Na schön“, gab er nach. „Versprichst du mir, dass wir das Porträt irgendwann fertigmalen?“

„Ich verspreche es.“

Am nächsten Morgen kam Ben zu spät zur Arbeit. Die Anwaltskanzlei Schmidt & Grauer, in der er als Aushilfskraft angestellt war, lag gerade einmal fünf Minuten entfernt von seiner Wohnung. Doch als er am vorangegangenen Abend in sein Bett gefallen war, hatte er sich gefühlt, als müsse er die verpassten Nächte eines ganzen Jahrzehnts aufholen. Zugetan hatte er trotzdem kein Auge.

Er schlurfte zur Tür herein und entschuldigte sich bei Linda, die nur kurz nickte. Die fünfzehn Jahre ältere Frau war zweifache Mutter und arbeitete halbtags in der Kanzlei. Sie nahm gerade die Daten eines neuen Kunden auf und rasselte dabei mit ihrem Schmuck. An jedem Arm trug sie vier oder fünf verschiedene Metallarmbänder, jedes in einer anderen Farbe. Trotz des strengen Zuges um ihren Mund erwies sie sich, wenn man sie näher kennenlernte, als ein mitfühlender, liebevoller Mensch. Sie war das Einzige, was Ben an seiner Arbeit mochte.

„Ach, Ben“, rief sie ihm zu. „Ich habe etwas für dich.“

Sie reichte ihm einen zerknitterten Zettel.


Dienstag & Donnerstag 18:00-20:00, Sofia Donati,

Allenniastraße 12, Seminarraum 111


„Was ist das?“

„Das sind die Daten von einem Kurs für kreatives Schreiben“, erklärte sie. „Meine Tochter wollte ihn ursprünglich besuchen, hat jetzt aber keine Zeit dafür. Ich weiß doch, wie sehr du Geschichten liebst. Vielleicht möchtest du ja mal reinschauen.“

„Danke, Linda. Ich überlege es mir.“

Zu seiner Linken befand sich die Rezeption. Gleich dahinter lag das Archiv, das aus großen Metallschränken bestand und wo er nun damit begann, die bearbeiteten Akten wegzuräumen, die auf einem kleinen Tisch gesammelt wurden. Er nahm eine Akte mit der Aufschrift Harmann/Schmitz und ging zu dem entsprechenden Schrank. Nachdem er die Akte alphabetisch korrekt eingeordnet hatte, nahm er sich die nächste Akte vom Stapel. Wolff/Funke. Er ging damit zum Schrank und sortierte sie zwischen den restlichen Akten ein. Dann nahm er die nächste Akte vom Stapel. Bauer/Adolphs. Er nahm die Akte und räumte sie an ihren Platz. Fischer/Kirschmeier. Er nahm die Akte. Schwarz/Weiland.

Den restlichen Vormittag über erfüllte Ben seine üblichen Pflichten in der Kanzlei. Er beklebte Briefe mit Briefmarken, nahm Daten von Kunden auf, bat sie, im Wartezimmer Platz zu nehmen, antwortete auf Emailanfragen aller Art, plante Termine für die Anwälte, holte die bearbeiteten Akten aus ihren Büros, legte sie im Archiv auf den kleinen Schrank und sortierte sie ein.

In den letzten sechs Jahren seines Lebens war er immer mehr in diesen Trott verfallen. Jeder Tag glich dem vorherigen, Stunden über Stunden verbrachte er mit derselben geistlosen Tätigkeit. Ohne Anfang und Ende arbeitete er sein Leben ab. Wo waren die Neubeginne geblieben? In seine Fantasie hatte er sie verbannt, auf dass ein Anderer sie lebe. Hunderte von Geschichten hatte er sich ausgedacht, neidvoll träumend, sich danach sehnend, wie seine Figuren aus der windstillen Einöde heraus und hinein in das wilde Toben des Sturms zu treten. Doch er hatte es bei all seinen Versuchen nie geschafft, die eine Geschichte so zu schreiben, wie er es wollte, die er mehr als alle anderen am liebsten zu konstruieren in der Lage gewesen wäre: Sein Leben. Wer auch immer sein Leben erzählte, er selbst war es nicht, denn er lebte noch immer in der Realität und hier gab es keine Stürme. Nur endlose Hitze.

Als er gerade im Begriff war, eine der Akten zwischen die Übrigen zu schieben, hielt er inne. Mit einem Mal zerflossen die Metallschränke um ihn herum, die Wände der Kanzlei, die Stimmen der Kunden und Kollegen. Das fahle Licht der Neonröhren leuchtete grell auf und im nächsten Moment erstreckte sich über ihm ein strahlend blauer Himmel. Unter seinen nackten Füßen spürte er von der Sonne gewärmten Stein. Vor ihm breitete sich das Weltmeer aus, die gewaltigen, sich ewig bewegenden Fluten schlugen in Wellen an den Strand, erreichten seine Zehen jedoch nicht. Der erfrischende Wind, den die Wassermassen unentwegt aus weiter Ferne herantrugen, entknotete seine Haare. Seeluft füllte seine Lungen. Da entwand sich die Akte, die er immer noch in der Hand gehalten hatte, seinem Griff und flog in hohem Bogen dem Meer entgegen. In der Luft nahm sie das Tausendfache ihrer ursprünglichen Größe an und formte sich durch fortwährendes Falten zu einem Schiff. Gischt spritzte auf bei seiner Landung auf der wogenden Oberfläche. Hunderte solcher Schiffe schaukelten dem Horizont entgegen, wo sie immer kleiner wurden, bis sie schließlich ganz verschwanden. All die Geschichten, die hätten sein können, die auf ihre Segel geschrieben, auf Bug und Heck ins Holz geschnitzt standen, sie glitten davon und ließen den Archivar allein am Strand zurück. Seine Geschichte war eine andere. Sie handelte von weißen Flächen und unvollendeten Bildern.

Ben brachte nach kurzem Wühlen den Zettel aus seiner Hosentasche zum Vorschein. Er strich mit dem Daumen über das Papier. Ein Seminar, bei dem man lernte, wie man selbst die Geschichte schrieb? Vielleicht sollte er diese Sofia Donati wirklich mal kennenlernen. Ben erhob sich und verließ die Anwaltskanzlei Schmidt & Grauer für immer.


Der Mann im Regen

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