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Einleitung

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Themen und Zeitraum der Untersuchung

Diese Einführung in die Sozialgeschichte der Erziehung ist vieles in einem: eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte, eine Geschichte der Familie, Kindheit und Jugend und eine pädagogische Institutionengeschichte – womit schon in etwa der innere Aufbau der drei Buchteile umrissen wäre. So gewaltig das Thementableau, so schwindelerregend ist der behandelte Zeitraum: 2400 Jahre Menschheitsgeschichte, angefangen im griechischen Altertum, endend 1918 mit der Auflösung der Monarchie und dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs. An der Schwelle zur ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland schließt die Abhandlung, weil nach dem Ersten Weltkrieg die Moderne und das Erziehungssystem in Deutschland in ein neues Stadium eintreten, das in seiner Vielschichtigkeit weiter zu verfolgen einer eigenen, detaillierten Untersuchung vorbehalten bleibt. Die Begrenzung auf den abendländischen Kulturraum und die allmähliche Engführung auf die Entwicklung in Deutschland gehören zu den zahlreichen komplexitätsreduzierenden Entscheidungen, die angesichts des bewusst übersichtlich gehaltenen Umfangs dieser Einführung nicht zu umgehen waren.

Erziehungsformen und Kontexte

Dass dieses Buch so vielzählige sozialhistorische Szenerien einschließt, von denen jede für sich eine ausführliche Darstellung verdient, könnte als Vermessenheit ausgelegt werden, ist aber dem übergeordneten Thema geschuldet: der Erziehung, die als ein soziales Phänomen in den Blick genommen und in ihrem geschichtlichen Werdegang analysiert wird. Der historischen Darstellung liegt ein Erziehungsverständnis zugrunde, das die unmittelbaren, personalorientierten Formen pädagogischen Handelns – unterrichten, belohnen, tadeln, strafen usw. (vgl. P. Ludwig 2011;H. Ludwig 2011) – ebenso umfasst, wie die vermittelten, umweltbezogenen Formen: in erzieherischer Absicht gestaltete Spiele, Bekleidung, Kinder- und Schulzimmerinterieurs, Lernmaterialien, Lesebücher usw. (vgl. Hoyer 2011). Berücksichtigt werden überdies die sozio-kulturellen Kontexte, die schichtspezifische Lebenswelt, die Lebensverhältnisse und Lebensgewohnheiten der Heranwachsenden; diese sog. funktionalen Erziehungsfaktoren lassen keine direkte pädagogische Intention erkennen, sind aber im sozialisationstheoretischen Sinn essentiell für die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Hurrelmann 2006). Sämtliche Formen der Erziehung, die unmittelbaren, vermittelten und funktionalen, sind keine zeitlosen sozialen Praktiken, die in einem isolierten Raum vor sich gehen. Erziehung findet im Rahmen historisch wandelbarer Systeme statt, die im Zusammenhang zu reflektieren sind, will man verstehen, was erzieherisches Handeln bedeutet und unter welchen Bedingungen es seine jeweilige Gestalt gewinnt und verändert.

Sozialgeschichte

Im Unterschied zur Ideen- und Begriffsgeschichte, die sich mit Theorien, Argumentationen, Bedeutungsschichten und Quellen sprachlicher Artikulation befasst (vgl. Koselleck 2010a), hat es die Sozialgeschichte mit dem Wechselverhältnis von gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Schichten, Rollen, Systemen und Subsystemen, mit Handlungs- und politischen Entscheidungsprozessen, Institutionen und der empirischen Wirklichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen zu tun (vgl. Kocka 1986). Die Trennung von ideen- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen ist immer künstlich und ein wenig unglücklich, aber aus analytischen Gründen in der Forschung unumgänglich.

Geschichte der Erziehung

Die wünschenswerte theoretische Verschränkung von Ideen- und Sozialgeschichte wäre bei einer langen historischen Periode und einem vieldimensionalen Thema, also im vorliegenden Fall, nur dann realisierbar, wenn man die historischen Inhalte ausdünnt oder den Buchumfang ausdehnt. Beide Optionen kamen hier nicht in Frage, weshalb die Sozialgeschichte allein im Mittelpunkt steht. Aus der deutschen Bildungswissenschaft gibt es auch kaum Versuche, den abendländischen Geschichtsverlauf der Pädagogik aus dem Ineinandergreifen theoretischer Impulse und sozialer Dynamiken zu erklären. Heinz-Elmar Tenorths (1988) mittlerweile mehrmals aufgelegte Geschichte der neuzeitlichen Erziehung steht in dieser Hinsicht unverändert allein auf weiter Flur. In der Publizistik überwiegen seit jeher pädagogische Ideen- und Personengeschichten in der Art von Albert Reble (1989) oder aus jüngerer Zeit Benner und Brüggen (2011). Zur Seite stehen ihnen sozialhistorische Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Schule und zu anderen Bildungsinstitutionen (z.B. Fend 2006;Konrad 2011) sowie verschiedene Versuche, die Geschichte der Familie, der Kindheit und Jugend im großen Radius nachzuzeichnen. Eine die sozialgeschichtlichen Erziehungsfelder in ihrer Verflechtung überblickende Arbeit fehlte bislang.

Darstellungsweise

Die vorliegende Einführung, die solch einen Gesamtüberblick anstrebt, will mit keiner der vorhandenen Monographien in Konkurrenz treten. Erst recht kann sie in der Detailgenauigkeit nicht mit den ungezählten sozialgeschichtlichen Spezialuntersuchungen mithalten. Die reichhaltige Forschungsliteratur, von der das Literaturverzeichnis nur einen winzigen Ausschnitt spiegelt, ist eingeflossen in dieses Buch, dem es primär um die Synthese, also die großen historischen Linien geht. In den chronologisch aufeinander aufbauenden Epochenporträts werden die jeweils dominanten Merkmale der häuslich-privaten und öffentlich-institutionalisierten Erziehung zur Sprache kommen. Die Darstellung verfolgt keine historische Richtungsthese, wie man sie aus Geschichtswerken kennt, deren Navigationssysteme beispielsweise auf Fortschritt oder Verfall, auf zunehmende Liberalisierung oder abnehmende Diskriminierung geeicht sind. Solche Aspekte werden in dieser Studie nicht ausgeblendet, stellen jedoch keine durchgehende Zentralperspektive dar.

Makro- und Mikrohistorie

Die großen Linien, Strukturveränderungen und organisatorischen Vorgänge fest im Blick, verliert man schnell die konkreten Verhältnisse in Stadt und Land, die Alltagswelt der Familien und die individuellen Erfahrungen aus den Augen, die ihre eigene, anschauliche Art der Geschichte erzählen. Um beiden Perspektiven gerecht zu werden, wird in diesem Buch der „Maßstabswechsel“ (Ricœur 2006, S. 178) zwischen Makro- und Mikrohistorie praktiziert.

Schwerpunkt Moderne

Das Buch ist so verfasst, dass es sowohl punktuell studiert als auch in einem Zug gelesen werden kann. Auffällig dürfte sein, dass die behandelten Epochen von Kapitel zu Kapitel kürzer, die Ausführungen aber immer länger werden. Das liegt daran, dass sich das Erziehungsfeld ausdifferenzierte, und die Quellen- und Forschungssituation mit jeder Epoche besser wird. Zudem spielt die abnehmende Entfernung vom Hier und Heute eine Rolle. Aus der Sozialgeschichte der abendländischen Erziehung fällt unentwegt Licht auf die Gegenwart, doch je näher man der Moderne rückt, desto erhellender wird es. Auch deshalb hält sich die Abhandlung im 19. Jh. länger auf als etwa in Athen, dem christlichen Mittelalter oder der Aufklärung.

Dank

Schließlich mein Dank: an Jens Seeling, für sein aufmerksames Lektorat, an Edith Glaser, für Gespräche im Vorfeld dieser Arbeit und ihren Hinweisen zu den Teilen A und B, und an Christoph Rehm, der mir beim dritten Teil großartige Hilfe leistete. Gewidmet ist das Buch Eva Wink – in Liebe und Dankbarkeit.

Timo Hoyer

Karlsruhe, Februar 2015

Weiterführende Literatur zur Einleitung

Erziehungsgeschichte im Allgemeinen:

Tenorth, Heinz-Elmar (1988): Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim, München. (4., erw. Aufl. 2008)

Geschichte der Kindheit:

– die Klassiker:

Ariès, Philippe (1978): Geschichte der Kindheit. München.

deMause, Lloyd (Hg.) (1980): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt/M.

– mit Illustrationen:

Weber-Kellermann, Ingeborg (1997): Die Kindheit. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt/M.

Geschichte der Familie:

Burguière, André et al. (Hg.) (1998): Geschichte der Familie. 4 Bände. Frankfurt/M., New York.

Gestrich, Andreas/Krause, Jens-Uwe/Mitterauer, Michael (2003): Geschichte der Familie. Stuttgart.

Geschichte der Jugend:

Levi, Giovanni/Schmitt, Jean-Claude (Hg.) (1996): Geschichte der Jugend. 2 Bände. Frankfurt/M.

Geschichte der Schule:

– ein einführender Überblick:

Fend, Helmut (2006): Geschichte des Bildungswesens. Der Sonderweg im europäischen Kulturraum. Wiesbaden.

– eine umfangreiche Gesamtdarstellung:

Geißler, Gert (2011): Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt/M.

– das etwas in die Jahre gekommene Pionierwerk zur höheren Bildung beeindruckt noch heute:

Paulsen, Friedrich (1919): Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. 3., erw. Aufl. 2 Bände. Leipzig.

Geschichte der Universität:

Weber, Wolfgang E. J. (2002): Geschichte der europäischen Universität. Stuttgart.

Sozialgeschichte der Erziehung

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