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Kapitel 2: Abschied

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Ich denke, man kann einem jünglichen Knaben, wie ich damals einer war, keine Passivität bezüglich Silvia vorwerfen. Da gibt es Männer, die sämtliche Regeln brechen, um einer Frau näher zu sein. Bei mir lief es mitnichten so. Im Gegenteil! Anfänglich versuchte ich die dünne Richtschnur einzuhalten, um den schmalen Grat zu erreichen, den eine Frau einem Mann zugesteht, wenn er ihr entgegenkommen möchte. Dabei ging es um Dinge wie individualistische Konformität oder regelbasierten Eigensinn, die ein erwachsener Mann mit einem tollen Auto, ja besser mit einem edlen Fingerring, vergeblich versucht auszudrücken oder gar riskiert mit einem wunderschönen Blumenstrauss die Angebetete zu beeindrucken. Ich habe jedenfalls noch nie von einem Mann gehört, der versucht einer Frau mit einem Glas Wasser im Briefkasten zu imponieren, auch wenn das Wasser sehr köstlich sein dürfte und diese Tat in der Tat einzigartig wäre. Als kleiner Junge standen mir diese Mittel natürlich nicht zur Verfügung. Dafür bekam ich den Hauch einer Ahnung, dass Frauen ihr Augenmerk auf Veränderung legen. Dieser an und für sich sehr sinnvolle Wunsch, das Leben ist schliesslich eine einzige Veränderung, bekommt der Mann beim Erstkontakt sehr zu spüren und bereitet ihm Kopfzerbrechen, da ausschliesslich der Frau und vielleicht nicht einmal ihr klar ist, in welche Richtung die Veränderung führen soll. Natürlich nur zum Besseren. Eine friedvollere Welt beispielsweise und da man stets im Kleinen beginnen soll, sind hier die geringfügigen Veredelungs- und Kultivierungspotentiale gemeint, die der Mann an den Tag legt und von der Frau schonungslos liebenswürdig aufgedeckt werden. Obwohl diese Kleinigkeiten, für den Mann eigentlich Nichtigkeiten, nicht wirklich der Rede wert sind, bringt die Summe aller gut gemeinten Ratschläge dann doch eine grosse Anstrengung mit sich. Grosse Anstrengungen kann man bekanntlich nur eine kurze Zeit aufrechterhalten, was eine vernünftige Erklärung ist, weshalb Männer zu Beginn einer Beziehung meisterhaft charmant sein können um dann nach Monaten ihr altes Ego raushängen zu lassen.

Silvia spielte dieses Spiel vorzüglich und am Ende wusste ich gar nicht mehr, wer ich war. Dieser Zustand wird gemeinhin als Verliebtheit bezeichnet, was ich aber so nicht als korrekt empfinde. Schliesslich kämpfen auch langjährige Ehemänner mit diesen Problemen und die sind wahrlich nicht mehr verliebt. Nun gut, ich hatte damals kein Auto, zumindest nicht in der richtigen Grösse. Tatsächlich hatte ich Silvia mit meinem Lamborghini-Modell 1:50 versucht zu beeindrucken, aber nur einen hochweiblichen Seufzer kassiert. So musste ich auf die unbeholfenen Möglichkeiten zurückgreifen, die einem Buben blieben. Unbekümmertes, interessiertes Schauen wurde von ihr mit dem Satz: "Glotz nicht so, Lukas!" quittiert. Letzten Endes versuchte ich verzweifelt einen bleibenden Eindruck in Form von Knüffen, schubsen und umwerfen zu hinterlassen, was mir auf unerwünschte Weise auch gelang. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass wir beide froh waren, den Schulwechsel als schicksalshafte Wendung eines sich abzeichnenden Beziehungendes zu interpretieren, da jeder in eine andere Klasse kam. Der Anhänglichkeit meiner Gedanken an das andere Geschlecht taten meine ersten Erfahrungen aber keinen Abbruch.

In der Schule hörte ich dann das erste Mal, dass wir Menschen von Affen abstammten. Für mich war das ein etwas abenteuerlicher Gedanke, konnte aber als vernünftige Erklärung für das Verhalten von mir bekannten Personen herangezogen werden. Zumindest in eigener Person war nun klar, weshalb man mich immer wieder auf Bäumen fand. Wie auch diesen frühen Morgen, der die Stadt mit einem glutroten Sonnenaufgang beehrte. Ich hatte keine Augen für den Aufgang, sondern sorgte mich mehr um den Abgang einer Amsel. Sie war bis zu meiner Ankunft mit einem Nestbau beschäftigt und konnte sich nun nicht entscheiden, ob ich ein Feind oder nur ein Übel war.

Angespornt über die Menschenaffen-Erkenntnis fragte ich mich, was uns Menschen denn von Tieren unterschied. Die Amsel beäugte mich und ich warf einen misstrauischen Blick zurück. Vielleicht war die Frage falsch gestellt. Was unterscheidet die Tiere von uns Menschen? Die Amsel sah natürlich aus und verhielt sich wie eine Amsel. Ich konnte zu recht behaupten, dass sie eine Amsel war. Aber die Menschen? Ich schaute hinunter und sah Menschen teilnahmslos zur Arbeit gehen. Sie wirkten mehr wie Bienen oder Ameisen. Eine Gruppe hielt genau unter meinem Baum an und ich beobachtete sie. Offenbar mussten sie sich für die nächsten Schritte entscheiden. Dabei schien sich die Richtung durch den gegenseitigen Abstand zu ergeben und war der Willkür des am weitesten ausschreitenden Mitglieds ausgesetzt. Das waren dann wohl Zugvögel. Gedankenvoll blickte ich die Strasse hinauf und in meine Erinnerungen hinein und sah faule Löwenmännchen, einsame Steppenwölfe, feige Hasen und störrische Esel. Was ich aber damals nicht sah, waren Menschen.

Die Amsel überwand ihre Furcht und flog kurze Strecken um das Material für ihr Nest zu besorgen. Es machte Spass ihr zuzuschauen und sie erinnerte mich daran, dass ich in Kürze ebenfalls mein Zuhause neu bauen musste. Zugegeben etwas grösser und ohne die Äste und Federn. Trotzdem würde ich das Leben hier hinter mir lassen und irgendwo auf dem Lande, ich wusste nicht genau wo, ein neues beginnen. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass man immer etwas hinterliess. Einen Eindruck, ganz leicht, wenn man nur kurz auf der Stelle trat. Oder ein Gedanke, der wie ein fahler Nebelfetzen an einem Baum hing und von jemand anderem zu Ende gedacht wurde. Oder man hinterliess eine Erinnerung von sich. Von einem Festessen mit Cervelats, affenartig gegessen mit den Füssen. Oder am schönsten und schlimmsten: ein Gefühl von sich, welches mit dem alten Ort verbunden ist, ein Gefühl eines Zuhauses. Nein, diese Dinge waren mir nicht bewusst. Ich freute mich auf das Neue und Unbekannte. Auf lila Kühe, die grüne Wiesen frassen und dabei die Quelle von weisser Milchschokolade wurden. Hühner, die täglich ein ganzes Ei direkt in die Kartonverpackung legten. Bäume so gross und dicht, dass man kilometerweit von Ast zu Ast klettern konnte ohne jemals den Boden zu berühren.

"Hey Lukas, komm endlich vom Baum herunter!". Ein Grund, weshalb ich sorgenlos in die Zukunft blickte, war sicherlich auch das Wissen, dass sich Thomas' Familie entschieden hatte, ebenfalls mit uns aufs Land zu ziehen. Genauer gesagt waren sie schon auf dem Lande. Thomas war schon vor drei Wochen abgereist. Interessanterweise fiel mir der Zusammenhang von Thomas' physischer Abwesenheit und psychischer Anwesenheit nicht auf. Wahrscheinlich hatte ich seinen ungeduldigen Ruf schon zu oft vernommen. Trotzdem befolgte ich die Aufforderung und angelte mich die Äste runter. Wenigstens am letzten Schultag konnte man des guten Willens wegen pünktlich sein.

Um die Langweile der Schule zu vertreiben, betrieb ich seit Monaten ein neues Spiel. Ich entschied mich jeden Morgen, in wen ich verliebt sein wollte. Manchmal war es Evelyn, dann wieder Bettina oder Sandra. Ich konnte die Verliebtheiten nicht jedes Mal steuern, aber den Gefühlen eine Richtung vorgeben. Besonders schlecht gelang es mir, wenn mich eine der dreien aus unerfindlichen Gründen anlächelte oder mich in der Pause ansprach. Weshalb es mir wichtig war, sich nicht auf eine einzige Person zu konzentrieren, weiss ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch an das zufriedene hoffnungsvolle Gefühl erinnern, welches dabei ausgelöst wurde.

Ich wusste, ich musste mich langsam sputen und warf noch kurz einen Blick in eine Pfütze. Die öligen Striemen malten einen Regenbogen in mein Gesicht. Ich stutzte noch, weil ich meine Augen einen kurzen Moment nicht erkannte, aber dann doch braun wurden und mich anlachten. Ich lachte mit und rannte zum Schulhaus.

Ich öffnete und schloss leise die Klassentüre, die Stunde hatte bereits begonnen. Herr Vogel und ich hatten ein unausgesprochenes Abkommen vereinbart, welches mich zu spät kommen liess und er dafür ungestört die Stunde abhalten konnte. Dank meiner Geistesgegenwärtigkeit hatte ich einen Fensterplatz. Naja, nicht ganz. Ich musste durch das Schulzimmer aus dem Fenster blicken. Trotzdem hatte ich praktisch freie Sicht nach draussen. Naja, nicht ganz. Kathrin sass seit ein paar Wochen davor und so trafen sich hin und wieder unsere Blicke. Wie es sich gehörte, brach der eine oder andere schnell den Blickkontakt wieder ab. Meine Vermutung war, dass die Augäpfel sonst aus der Höhle traten und rausfielen. So vermied ich den Blick aus dem Fenster und damit eine Sauerei. Und zur allgemeinen Erleichterung meines Erwachsenenumfeldes kam ich doch noch zu ein paar Wochen Schulunterricht.

Dieser Morgen war aber anders. Kathrin schaute öfters zu mir, ich bemerkte es im Augenwinkel. Ihr Blick hatte etwas magisch anziehendes. Als wollte sie mit mir kommunizieren. Ich versuchte gleichzeitig meine Augen zu halten und zu ihr zu schauen. Irgendwas brachte sie in diesem Moment zum Lachen, ihr Mund öffnete sich, ich glaubte, sie wollte etwas sagen.

Es wäre vermessen zu behaupten, ich sei ein Spezialist in Lippen lesen, trotzdem sollte der Mangel eines Zertifikates niemanden davon abhalten etwas zu tun, insbesondere, wenn es wichtig ist. Ich las demzufolge ein "Schau weg" und kam ihrer Bitte unverzüglich nach. Dadurch verpasste ich ein kräftiges Paar Stirnrunzeln und vernahm als Echo unserer stummen Unterhaltung ein Klatschen. In der Hoffnung einer bravourösen Geste schaute ich nochmals zurück, sah aber nur noch ihre flache Hand von der Stirn verschwinden.

"Kathrin, alles in Ordnung?" fragte Herr Vogel und sie gab leicht zerknirscht zur Antwort, dass alles bestens sei.

In der Pause lag ich auf dem Rand eines Brunnens und führte eine Feldstudie an Wolkenformen durch. Manchmal leistete mir Thomas Gesellschaft, was teils zu absurden Unterhaltungen führte. So sah ich ein hüpfendes Kaninchen, welches die Pfote in einen Karottentopf legte und Thomas eine Stratocumulus. Als er das erste Mal die verschiedenen Cumulus erwähnte, schaute ich mich nach einem grossen M um, realisierte aber bald, dass er die Gattung der Wolke meinte. Thomas' praktische Art führte einen Regenschirm mit, wenn sich eine Nimbostratus näherte. Ich persönlich bestaunte das Wunder, wie praktisch sich die Natur doch eingerichtet hatte. Thomas war aber heute nicht da und so hingen meine Gedanken alleine in der Luft.

Ein Schatten ragte plötzlich über meinem Gesicht empor und meine blitzschnellen Reflexe liessen mich in Deckung gehen. Ich fiel in den Brunnen. Glücklicherweise war der Schulabwart davon überzeugt, dass weniger Arbeit bessere Arbeit wäre und ein Brunnen ohne Wasser, trotzdem ein Brunnen war, aber zusätzlich die Fantasie der Kinder anregen könne, in dem sie sich das Wasser vorstellen müssten. Sozusagen eine Win-Win-Situation. Obwohl ich nicht immer mit dem Abwart einer Meinung war, beispielsweise nicht einig waren wir, was die Funktion des Schulhausdaches anging, so konnte ich mich der pragmatischen Ansicht über Brunnen in diesem Moment anschliessen.

Wahrscheinlich wollte Kathrin ein einfaches Hallo sagen, wurde aber durch meine herausragende Reaktion unterbrochen und sagte: "Was zum Teufel machst du da?"

Ich stand gekonnt langsam auf und erwiderte: "Ich absolviere ein Überlebenstraining und habe mir Reflexe antrainiert, die mich bei Gefahr in Deckung gehen lassen." Das wollte ich sagen, wenn mir diese Worte in diesem Moment eingefallen wären. Letzten Endes fiel mir aber nur folgender Satz ein: "Ich wollte mich abkühlen, es ist so heiss an der Sonne."

"Der Brunnen hat kein Wasser!" wies mich Kathrin auf eine bekannte Tatsache hin. Ich schaute mich um und versuchte einen passablen Ausruf: "Tatsächlich, da muss ich wohl mit dem Schulabwart sprechen". Es kam leider nur ein "Ja." raus. Kathrin übersprang meinen peinlichen Augenblick und sprach eine weitere Tatsache aus: "Du ziehst weg?"

Ich war erstaunt. Natürlich hatte Herr Vogel meinen Umzug angekündigt. Da ich mich aber selten um die Belange anderer kümmerte, ging ich davon aus, dass andere dies ebenso mit den meinigen hielten. "Das stimmt." bestätigte ich und als ich es laut aussprach, ging mir auf einmal auf, dass ich das letzte Mal auf diesem Brunnenrand liegen würde. Das heute die letzte Gelegenheit war, dem Schulhausdach einen Besuch abzustatten, sofern mich der Schulabwart nicht erwischte. Vielleicht sah ich auch das letzte Mal Wolken, vielleicht gab es diese ja nur in der Stadt. Ein letztes Mal in Evelyn, Bettina oder Sandra verliebt sein oder vielleicht in alle drei gleichzeitig. Eine leichte Wehmut machte sich bemerkbar, ein Ziehen in der Magengegend, ein zögerndes Tippen an der Schultern, welches mir sagen wollte: "Schau dich um, noch ein letztes Mal. Schau genau!" Ich drehte mich um, schaute die Plätze an, die mir ans Herz gewachsen waren und versuchte mir jeden einzelnen Ort einzuprägen. Kathrin stand geduldig neben mir und sah mir zu. Ich wusste nicht, ob sie verstand, was ich da tat, aber ich dankte ihr mit stillem Herzen, dass sie trotz meines komischen Verhaltens bei mir stehen blieb.

"Spielst du Shogun?" fragte sie plötzlich und unterbrach meine Verabschiedung. Ich schaute sie an und sah erwartungsvolle braune Augen. Ich wusste, die Augen-Aus-Der-Höhle-Treten-Regel traf nur bei grösseren Distanzen zu. Je näher die Augenpaare waren, desto länger durfte man schauen. So nahe hatte ich ihre noch nie gesehen und sie sagten Dinge wie: "Natürlich spiele ich Shogun, insbesondere gerne mit dir. Solange du möchtest." Ich sagte: "Ja." Längere Sätze brachte mein Hirn momentan offenbar nicht zu Stande. Ich versuchte mich an Shogun zu erinnern. Thomas war begeistert davon. Wahrscheinlich weil er gegen mich immer gewann. Ich versuchte nochmals einen Satz: "Ja, mach ich!"

"Grossartig!" meinte Kathrin. "Möchtest du heute nach der Stunde noch mit mir spielen?". "Grossartig," dachte ich, "ich habe einen ganzen Satz gesagt." und sagte dann: "Ja."

"Du fängst an" entschied Kathrin und drehte das Brett so, dass die weissen Steine auf meiner Seite lagen. Ich machte meinen ersten Zug und meine Gedanken formierten sich. Dies war das erste und letzte Mal, wo ich mit Kathrin Shogun spielen würde. Den Start und das Ziel in einem Schritt. Nur ein Schritt von Kathrin entfernt. Die kurze Distanz und die Konzentriertheit von Kathrin liessen mir genügend Zeit, sie aufmerksam zu mustern. Mir fiel auf, noch nie so nahe einem Mädchen gewesen zu sein. Die Angespanntheit, wenn ihr Verstand die nächsten Züge überlegte. Der kurze Augenblick, als sich eine Idee in einem Augenfunkeln verriet. Wie sie sich auch freute, wenn mir ein guter Zug gelang. Ihre Haltung und ihre Aufmerksamkeit zeigte ein Interesse und Wohlwollen an mir, welches ich mir nicht gewohnt war. Es fühlte sich gut an. Sie fragte mich, ob ich mich auf meinen neuen Ort freue. Weshalb ich ständig in den Bäumen sass und was ich den Spannendes ausserhalb des Schulzimmers sah. Ob ich nicht Ärger mit dem Hauswart bekam, wenn ich meine Pause auf dem Dach verbrachte und wie ich trotz meinen Träumereien stets die passenden Antworten während der Schulstunde hatte. Durch den Spielfluss ergab sich ein Redefluss und ich glaube, bis zu diesem Zeitpunkt hat mich niemand besser gekannt als Kathrin, ausgenommen Thomas natürlich.

Meine eigenen Gedanken und Beobachtungen machten sich langsam bemerkbar. Ich verlor Zug für Zug Steine und gewann dafür neue Eindrücke von Kathrin. Ihre Augen waren nicht durchgängig braun, wie man auf den ersten Blick glauben mochte, sondern hatten einen grünen Schimmer am Rande. Eine offensichtlich unbewusste Handbewegung schob die widerspenstige Haarsträhne im Sekundentakt hinter ihr linkes Ohr. Und wenn sie gedankenvoll über den nächsten Spielzug nachdachte, legte sie ihre Stirn in jugendliche Falten. Dies war toll und faszinierend. Ich wollte auch so Falten.

"Lukas, was machst du da?" Kathrin schaute fragend zu mir. Natürlich weiss ich nicht, wie mein Gesichtsausdruck damals aussah, aber offenbar entfalteten meine Faltenbemühungen ihre Wirkung. Leider nicht in die gewünschte Richtung. Kathrin schaffte es gar, nur eine Augenbraue hochzuziehen. Ich konzentrierte mich wieder auf das Spiel.

Es folgte ein Spiel nach dem anderen. Wir versuchten den Zeitpunkt des Unvermeidlichen zu verschieben, wahrscheinlich unbewusst. Die Spielzüge dauerten immer länger. Die Geschichten, die wir uns erzählten dehnten sich aus, brachten Details hervor und wurden mit Fantasie angereichert. Die Augenblicke erreichten eine Intensität, welche die Zeit auflöste. Jeder Moment dauerte ewig, implodierte abrupt und wurde durch einen Neuen ersetzt. Diese Spielstunde war eine einzige Aneinanderreihung von Anfängen. Und, diese Spielstunde war eine einzige Aneinanderreihung von Abschieden. Erfuhr ich etwas Neues von Kathrin, ergänzte irgendjemand in mir, dass ich sie nie mehr sehen werde. Brachte ich sie so sehr zum Lachen, dass sie den Grund für dieses Spiel vergass, leuchteten die Augen hell auf. Nur um wieder zu erlöschen, sobald sie sich dem Spiel zuwandten. Die Zukunft war ein Messer, welches unsere Heiterkeit in scharfen Schnitten abtrennte. Und obwohl wir uns sehr bemühten die Zeit anzuhalten, lief sie unerbittlich weiter.

Irgendwann, es war schon dunkel und alle anderen gegangen, sagte Kathrin: "Du, ich muss leider gehen, es ist schon spät." "Ok..." antwortete ich.

"Es war sehr schön, dich kennengelernt zu haben. Schade, dass du wegziehst." Es waren Worte, die mein Herz erwärmten. Ich überlegte fieberhaft, was ich dazu antworten könnte, mir fiel aber nichts ein. Zweifellos dauerte meine Pause zu lange. Kathrin fing an zu grinsen und sagte: "Dir ist bewusst, dass du wohl nie Shogun-Champion wirst. Du hast fünfzehn mal verloren." "Ja..." Offenbar hatte ich wieder den Modus gefunden, die Aussagekraft meiner Antworten auf ein Minimum zu reduzieren. Da kam plötzlich ein Gedanke und er kam so schnell, mein Mund hatte ihn schon ausgesprochen, bevor ich ihn zu Ende dachte: "Ein Abschied ist bewusste Vergänglichkeit, deshalb verabschieden sich Tiere nicht!" Kathrin's Gesichtsausdruck nach zu schliessen, war es nicht das, was sie erwartet hatte. Wahrscheinlich hätte ich es bei einem Ja belassen sollen. Wir verabschiedeten uns.

"Du hast fünfzehn Spiele hintereinander in Shogun verloren? Ein trauriges Ergebnis!" rief Thomas aus. "Ich dachte, es gehe nicht ums verlieren" erwiderte ich. Wir sassen am Rande eines alten Steinbruchs und suchten die langsamsten Schnecken der Welt, Ammoniten.

"Und das gegen ein Mädchen, fünfzehn Mal!" Thomas konnte es kaum fassen. Manchmal ist Angriff die beste Verteidigung und so sagte ich: "Gegen dich verliere ich ja auch meist."

"Was möchtest du damit sagen?"

"Dass du so gut wie ein Mädchen spielst" grinste ich. "Ernsthaft, wie hätte ich erwarten sollen, mich in der letzten Stunde noch in ein Mädchen zu verlieben? Und es mir dann plötzlich so schwer fällt umzuziehen."

"Grosse Abschiede, also endgültige, sind immer schwer" bestätigte Thomas "Aber sie gehören ja auch zum Leben und sie machen Platz für Neues."

"Ich frage mich, ob die Liebe den Abschied so schwer macht, oder der Abschied die Liebe überhaupt ermöglicht" und Thomas ergänzte mit einem Satz, den ich nie vergass: "Vielleicht ist die Liebe ja da, um der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen."

Wir starrten beide auf die herausgebrochene Steinwand und versuchten uns vorzustellen, wie vor Millionen von Jahren Schnecken an dieser Stelle dahingekrochen sind.

"Glaubst du, man erhält die Teile des Herzens wieder zurück, wenn man sie verschenkt?" fragte ich unvermittelt.

"Nein, das glaube ich nicht", antwortete Thomas nach längerem Nachdenken, "aber es werden Menschen kommen, die dir ihren Teil schenken."

Sein Blick fiel auf etwas Spiralförmiges: "Da, ich habe eine gefunden!"

"Das ist ein Schraubenabdruck, du Schnecke!" Wir lachten beide. Die Welt ist stets in Ordnung, wenn man sie mit einem Freund teilt.

Verliebte Träume

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