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2 Was Therapeut/innen über Traumata wissen müssen

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Trauma heißt Wunde. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und wurde ursprünglich in der Medizin als Begriff für schwere körperliche Verletzungen mit schockartigen Folgen eingeführt. In der Psychologie und Psychotherapie wurde die Bezeichnung schließlich auf schwere seelische Verletzungen erweitert.

Um zu verstehen, wie Traumata in die nächste Generation weitergegeben werden, müssen wir wissen, was ein Trauma ist und welche Folgen es haben kann.

Wir wollen die Grundlagen, die für ein Traumaverständnis notwendig sind, hier vorstellen und verweisen auf ausführliche Darstellungen in der Literatur, z.B. Herman 1994/2007, Fischer/Riedesser 2004, Frick-Baer 2009. Dabei ist uns wichtig, unser Traumaverständnis möglichst klar zu definieren. Es gibt gelegentlich Tendenzen, den Traumabegriff inflationär zu benutzen und auf jedes belastende Ereignis anzuwenden. Daran wollen wir uns nicht beteiligen, weil damit der Traumabegriff seinen Wert in Diagnostik und Therapie verliert bzw. zumindest verlieren kann. In diesem Buch geht es nicht darum, was Eltern oder Elternteile allgemein an Belastungen, Kränkungen oder Störungen an ihre Kinder weitergeben, sondern um einen Teil davon, einen bestimmten Aspekt, nämlich das Trauma und dessen transgenerative Weitergabe.

Begrifflich hat es sich dabei für uns als sinnvoll herausgestellt, verschiedene Aspekte zu unterscheiden, die in der Sammelbezeichnung „Trauma“ enthalten sind. Diese sind:

» das Traumaereignis,

» das Traumaerleben, also die Art und Weise, wie ein Mensch sich und seine Welt vor, während und unmittelbar nach dem Traumaereignis erlebt,

» die Traumabewältigung, also die Art und Weise, wie der Mensch kurz- und langfristig sein Traumaerleben bewältigt,

» die Traumafolgen, also die Folgen des Traumaerlebens und der Traumabewältigung.

Betrachten wir diese vier Aspekte genauer.

Jedes Trauma beginnt mit einem Traumaereignis. Traumaereignisse können sehr unterschiedlich sein. Menschen kämpfen als Soldaten im Krieg oder werden als Zivilisten bombardiert, andere werden überfallen, ausgeraubt oder vergewaltigt. Kinder und Jugendliche werden sexuell missbraucht, andere erleben einen Tsunami, ein Erdbeben oder einen Verkehrsunfall. Ein Lokführer überfährt einen Selbstmörder mit seinem Zug, ein anderer sieht zu, wie ein Mensch ertrinkt, ohne dass er helfen kann. So unterschiedlich die Ereignisse sein können, die ein Trauma hervorrufen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die beteiligten Menschen sich durch dieses Ereignis existenziell bedroht und erschüttert fühlen. Das Ereignis macht noch kein Trauma aus, sondern die Qualität des Erlebens eines Ereignisses. Traumaereignisse sind Ereignisse, die Menschen als existenziell bedrohlich erleben und durch die sie in ihren Grundfesten erschüttert werden.

Zum Traumaereignis gehört allerdings auch die Zeit unmittelbar danach – nach der Vergewaltigung, nach dem Unfall, nach dem Unglück. Wir haben in unseren Therapien immer wieder erfahren, dass die „Zeit danach“ zum Traumaereignis hinzuzuzählen ist. Zur Zeit laufende Studien haben dies bestätigt (Frick-Baer i.V.). Die Art und Weise, wie der Beteiligte an einem schweren Verkehrsunfall unmittelbar danach behandelt wird, kann das Erleben abmildern oder vertiefen. Ob ein Kind nach der Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs beschämt, beschuldigt oder im Folgenden allein gelassen wird oder ob es Halt, Parteilichkeit und Trost erfährt, bestimmt das Erleben und die Bewältigungsmöglichkeit des Traumas im wesentlichen Maße. Uns ist deshalb wichtig, die Zeit „unmittelbar danach“ zum Traumaereignis zu zählen und entsprechend in Therapie und Begleitung zu würdigen.

Schon bei der Beschreibung des Traumaereignisses haben wir das Traumaerleben erwähnt. Die Art und Weise, wie ein Mensch sich und das traumatische Ereignis erlebt, muss mit einbezogen werden, um ein Ereignis als ein Traumaereignis zu identifizieren. Jede traumatische Erfahrung wird als Ohnmachtsgefühl erlebt. Die Betroffenen sind anderen Menschen, dem Krieg, der Gewalt, der Natur usw. ausgeliefert. Dies erschüttert bei vielen Menschen die Gewissheit, wirksam zu sein, und beeinträchtigt damit oft das Selbstwertgefühl. Dies erschüttert auch die Illusion unserer Unverletzlichkeit, der wir Menschen uns im Alltag so gerne hingeben. Bei den meisten traumatischen Erfahrungen werden die Schutzgrenzen, die die Intimität und Persönlichkeit bewahren, durchbrochen, insbesondere bei sexueller Gewalt. Zumeist ist zudem eine traumatische Erfahrung ein Beziehungserleben. Bei Überfällen, sexueller Gewalt etwa sind andere Menschen unmittelbar beteiligt, ebenso bei Kriegserfahrungen, Flucht, Vertreibung usw. Auch bei Verkehrsunfällen und Naturkatastrophen gibt es immer andere Opfer und sind andere Menschen „in der Zeit danach“ Teil der traumatischen Erfahrung, helfen und vermindern oder vergrößern die Not.

All diese Aspekte führen dazu, dass wir sagen: Ein Trauma ist in erster Linie ein Erlebensprozess und ein Beziehungsprozess.

Für den erlebenden Menschen hat die phänomenologische Philosophie den Begriff „Leib“ geprägt. Leib stammt aus dem indogermanischen „lib“ und bedeutet „lebendig“. Mit „Leib“ bezeichnen wir den sich und seine Welt erlebenden Menschen. (Deswegen bezeichnen wir auch unseren therapeutischen Ansatz als „Kreative Leibtherapie“ bzw. hier als „Leiborientierte Kreative Traumatherapie“. Doch dazu später.)

Das Trauma ist also ein leiblicher Prozess. Dieser Erlebensprozess vollzieht sich auch als biologisch-neuronaler Prozess im Gehirn. Im Gehirn ist ein Mechanismus eingebaut, der das Überleben der Menschen in existenziell bedrohlichen Situationen sichern soll. Ein bestimmtes neuronales Teilsystem, die Amygdala, überprüft alle im Gehirn eingehenden Informationen daraufhin, ob sie potenziell bedrohlich sein können. Früher konnte dies das Brüllen eines Säbelzahntigers sein, heute sind es die vielfältigen anderen Elemente der erwähnten Traumaereignisse. Wird eine Information als Anzeichen für eine möglicherweise existenziell bedrohliche Situation eingestuft, tritt ein Notfallprogramm in Gang. Dies betrifft den gesamten Körper vom Denken bis zum Blutdruck. Im vegetativen Nervensystem wird ein Alarm-Stress-Modus aktiviert, um gegen den Säbelzahntiger zu kämpfen oder vor ihm zu fliehen.

Doch bei den meisten traumatischen Ereignissen gibt es kaum Möglichkeiten, zu kämpfen oder zu fliehen, das traumatische Erleben eint das Merkmal der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Deswegen bleiben viele Opfer traumatischer Erfahrungen in der Ohnmacht erstarrt und die Hochspannung und Hocherregung kann sich nicht oder nicht vollständig abbauen.

Diese Reaktionen und damit ein traumatisches Erleben erleiden Menschen auch dann, wenn sie nicht unmittelbar betroffen, sondern nur mittelbar Zeugen eines Ereignisses sind. Wer bei einer Vergewaltigung, einem Unfall oder einem anderen traumatischen Ereignis zusieht, besonders als Kind, das die Tatsache und seine Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit noch nicht einzuordnen weiß, kann genauso traumatisiert sein wie die unmittelbar Beteiligten.

Zu dieser biologisch-neuronalen Notfallreaktion gehört auch, dass die Teile des Gehirns, die für die kognitive Verarbeitung und Erinnerung des existenziell bedrohlichen Ereignisses zuständig sind, in einen Sparmodus gehen. Sie werden nicht gebraucht, um unmittelbar gegen den Säbelzahntiger zu kämpfen oder vor ihm zu fliehen, deswegen werden sie als zweitrangig behandelt. Dies führt dazu, dass die kognitiven Erinnerungen an traumatische Ereignisse oft lückenhaft, manchmal sogar gar nicht vorhanden sind, während der leibliche Modus des Erinnerns, das Leibgedächtnis, weiter die Erinnerung an das traumatische Ereignis aufrechterhält. „Ist die Erinnerung an die traumatische Situation verloren oder fragmentiert, so repräsentieren traumatische Reaktionen bzw. Prozesse diese Erfahrung als implizite Erinnerung, auf der Ebene des Körpergedächtnisses.“ (Fischer/Riedesser 2004, S.119)

Wir ziehen aus der Analyse des Traumas als Erlebensprozess die Konsequenz, dass auch Hilfen bei der Traumabewältigung sich nicht auf rein verbale und kognitive Interventionen beschränken dürfen, sondern leibliche Prozesse, die auch das Leibgedächtnis ansprechen und verändern helfen, beinhalten müssen. Doch dazu ebenfalls später.

Wird das Erleben eines Traumas unaushaltbar, können Menschen im Interesse ihres psychischen Überlebens dieses Ereignis oder manche Aspekte dieses Erlebens dissoziieren. Eine Dissoziation ist mehr als ein Vergessen, sie ist ein weitgehendes Auslöschen von Erinnerungen und damit verbundenen Erlebensqualitäten, an deren Stelle eine Leere tritt. Doch nicht alles ist „verschwunden“: Die Leerstelle ist spürbar und es gibt häufig Phänomene, die auf das Traumaereignis hinweisen, aber von den Betroffenen mit dem Dissoziierten nicht in Verbindung gebracht werden. Für den Romanhelden Austerlitz in W. G. Sebalds gleichnamigem Roman war der Verlust seiner Eltern und seiner Heimat ein traumatisches Ereignis. Seine Eltern hatten ihn als jüdischen Jungen 1937 im Rahmen eines Hilfsprogramms nach England geschickt, damit er dort vor den Nazis in Sicherheit sei.

Diese Erfahrung hatte der Junge dissoziiert, doch wie es in jeder Dunkelheit einen kleinen Lichtspalt geben kann, so gab es auch hier Phänomene, die die innere Verbindung zu diesem traumatischen Ereignis aufrecht erhielten. Austerlitz verband den Schrecken seines Heimat- und Elternverlustes unbewusst mit dem Bahnhof, auf dem er in England eintraf. Auch an diesen Schrecken erinnerte er sich nicht mehr, aber er studierte Zeit seines Lebens Bahnhöfe, war fasziniert von deren Architektur usw.

Zum Traumabegriff gehört auch der Aspekt der Traumabewältigung. Manche Menschen, die einen Unfall erlebt haben, sind davon erschüttert, steigen aber wieder ins Auto und bewältigen allmählich den Schrecken des Ereignisses. Andere können nie wieder mit einem Auto fahren und leiden jahre- oder jahrzehntelang unter den Folgen. Das Gleiche gilt für Lokomotivführer, die mit ihrem Zug einen Menschen überfahren haben. Auch wenn ihr Verstand sagt, dass sie nichts dafür konnten, ja dass die Opfer sterben wollten, so können viele von ihnen nie wieder einen Zug besteigen und schrecken jahrzehntelang nachts mit Bildern dieses Ereignisses aus dem Schlaf auf. Andere können das gleiche Ereignis aus welchen Gründen auch immer in relativ kurzer Zeit verarbeiten und ihrem Beruf weiter nachgehen. Ob ein Traumaereignis zu einem Trauma mit nachhaltigen Folgen wird, hängt also nicht nur davon ab, wie es erlebt wird, sondern auch davon, wie die Bewältigungsmöglichkeiten sind. „Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden.“ (Fischer/Riedesser 1999, S.19)

Ein Trauma beinhaltet folglich immer auch die Diskrepanz zwischen dem Erleben eines traumatischen Ereignisses und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Wie groß diese Diskrepanz ist, hängt zum einen von der Schwere und der Dauer der existenziellen Bedrohung durch das traumatische Ereignis ab. Bei bestimmten Qualen, wie Folter oder sequenzielle, sich häufig wiederholende sexuelle Gewalt, reichen keine menschlich vorstellbaren Bewältigungsmöglichkeiten aus, um anhaltende Schädigungen zu vermeiden. Die Art und Weise der Traumabewältigung hängt zum anderen auch von der „Zeit danach“ ab, davon, ob Menschen Schutz, Trost und Verständnis finden oder ob sie allein gelassen oder gar beschuldigt werden und im Schweigen erstarren (müssen). Auch das Befinden vor dem traumatischen Ereignis ist wichtig.

Jemand, dessen Identität geschwächt und brüchig ist, der von Selbstzweifeln angefüllt ist und sich einsam und unbeachtet erlebt, wird wahrscheinlich nach einem traumatischen Ereignis weniger heilungsfördernde Bewältigungsstrategien zur Verfügung haben (können) als ein Mensch, der sich in seiner Identität als gefestigt und in sozialen Beziehungen aufgehoben fühlt.

Und schließlich gehören zum Traumabegriff auch die Traumafolgen. Einige dieser Folgen haben wir schon erwähnt, vor allem die Erschütterungen von Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl. Wer in seinem Beziehungsvertrauen z. B. durch eine Gewalterfahrung tief verletzt wurde, wird in Zukunft zumeist misstrauischer an neue Beziehungen herangehen als jemand, der diese Erfahrungen nicht gemacht hat. Wenn einem Menschen eine traumatische Erfahrung widerfahren ist, wird das Leibgedächtnis über den beschriebenen neuro-biologischen Alarmprozess besonders geschärft, um alle Anzeichen für eine mögliche Wiederholung dieses existenziell bedrohlichen Ereignisses zu erkennen. Wer als Kind Bombardierungen erlebt hat, wird auch im hohen Alter zusammenschrecken, wenn er das Grollen eines Gewitterdonners hört. Die Amygdala aktiviert über das Leibgedächtnis alle Warnsignale. Solche Auslöser für ein traumatisches Wiedererleben werden „Trigger“ genannt.

Manche langfristigen Auswirkungen eines Traumas können sich verfestigen und die Betroffenen Jahre und jahrzehntelang begleiten. Bei einer bestimmten Kombination solcher Symptome gibt es den diagnostischen Begriff des „Posttraumatischen Stresssyndroms“. Mit ihm werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen und der Frage nachgehen, ob und wie einzelne oder mehrere Symptome eines Posttraumatischen Stresssyndroms oder anderer Traumafolgen der ersten Generation sich auch bei der zweiten Generation zeigen können.

Wie Traumata in die nächste Generation wirken

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