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So etwas wie ein Erlebnis

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Wenige Schritte weiter, und wieder auf der Kaufhofseite, ist Peek & Cloppenburg, die Konkurrenz, wieder für die Autoren, die kein Problem mit dem Anfangssatz haben, und deshalb von mir nur für Besichtigungen, nicht für Einkäufe betreten. Heute, absichtslos die Welt in mich aufnehmend, betrete ich diesen Laden, und im Unterschied zu C&A werde ich auch gleich, nachdem ich etwa sieben verdächtige Sekunden lang einen einzigen Hemdenstapel inspiziert habe, von einer Verkäuferin freundlich gemustert und angesprochen. Kann ich Ihnen helfen. Ach danke, ich schaue mich nur ein bisschen um. Also schaue ich mich weiter um, bei den T-Shirts, den Pullovern, den Socken, den Hosen, und auch im 2. Stockwerk bei den Anzügen, den Sakkos, den Mänteln und Jacken, in der sehr kleinen Schuhabteilung, die meinem finanziellen Niveau entgegenkommt, und bei den Ständern mit den Kleinigkeiten. Beim Blick auf die Umkleidekabinen im Mäntelbereich fällt mir eine Unregelmäßigkeit auf. Füße, die unter dem Vorhang einer Kabine vorragen. Ich gehe ein bisschen näher dran, aber nicht zu auffällig, um nicht wieder Objekt der Aufmerksamkeit einer Verkäuferin zu werden. Die Schuhe sind Schuhe meiner Größe, also kein spielendes Kind, das auf dem Boden sitzt. Sie rühren sich nicht. Ich gehe bis vor den Vorhang und frage mich, was ich nun tun soll. Hallo? Es antwortet niemand, auch nicht aus den Nachbarkabinen, die gerade alle leer sind. Ich nehme mir ein Herz und schiebe den Vorhang zur Seite. Auf dem Boden sitzt, angelehnt an den Spiegel, ein Mann, schätzungsweise in den Siebzigern, nicht unbedingt ungepflegt, den Kopf in Nickhaltung, und auch auf mein zweites Hallo? nicht reagierend. Ich denke, das ist der Zeitpunkt und Ort zur Aktion, suche jetzt meinerseits einen verkaufenden Menschen, rufe, Hallo, hier wird ein Notarzt gebraucht, suche die Mäntel- und Jackenabteilung ab, die auf einmal nur noch aus Kleidungsständern ohne jedes menschliche Wesen besteht, und finde endlich doch den Mantelzuständigen. Da hinten ist ein Mann in den Umkleidekabinen, der wohl einen Notarzt braucht. Er sagt zu, sich darum zu kümmern, entschwindet in Richtung der Kabinen, ohne mich, und nun höre ich ein kurzes Gemenge, Lassen Sie mich los, hastige Schritte, der Mann, der auf dem Boden der Kabine gesessen hatte, hastet um die Ecke. In der einen Hand hält er einen Mantel und hat hinter sich nun den Verkäufer, der ebenfalls um die Ecke kommt und ihn verfolgt. Weiter geht es, einen Kleiderständer umreißend, zur Rolltreppe, hinunter in den 1. Stock und dann wohl weiter in das Erdgeschoss und hinaus, jedoch hört man nun ein Stehngeblieben!, einen Aufschrei und einen dumpfen Laut. Die Neugier treibt mich in Richtung Rolltreppe, nicht zufällig, denn möglicherweise bietet sich hier mein erster Satz und mehr. Erst als ich bis zum 1. Stock hinuntergefahren bin, sehe ich ihn dort bäuchlings auf dem Boden liegen, ein Verkäufer über ihm kniend und mit einem Handy telefonierend. Ein Ladendieb. Das ist nichts Spektakuläres, aber mehr als ein absolut langweiliger Nachmittag. Wie gesagt, nicht spektakulär, aber aus Romanen und aus dem Fernsehen weiß ich, dass solche Szenen auch im gegenseitigen Einvernehmen gelöst werden können. Hier also anders, vielleicht ist der Mann bekannt. Nun kommt auch schon jemand, jedoch kein Polizist, sondern ein legere gekleideter Mensch, der den Mann auffordert, aufzustehen. Ich vermute, der Kaufhausdetektiv. Das sieht jetzt nach Ermahnung, Verabredung, Deal aus. Der Mantel wurde ihm ohnehin schon abgenommen. Der Detektiv nimmt den Mantel noch einmal von einem Verkäufer, reicht ihm den und macht ihm offenbar ein Angebot, wahrscheinlich das Angebot, ihn regelrecht zu kaufen. Aber der Mann lehnt ab, schüttelt heftig den Kopf. Er darf jetzt gehen. Wie der Deal aussieht, bleibt mir leider verborgen, aber ein einfaches Schwamm drüber wird es wohl nicht sein. Man könnte etwas daraus machen.

Ich hätte mir die Szenerie anders vorstellen können. Der Mann nicht mehr am Leben, Mord im Kaufhaus, wird von Schriftsteller entdeckt, Schriftsteller nimmt eigene Ermittlungen auf, kommt in jedem Stadium der Polizei zuvor, findet den Mörder auf seine Weise und ist trotzdem bei der Polizei unbeliebt. Sehr klischiert und in vielfältigen Variationen schon auf dem Büchermarkt. Auch glaube ich nicht, dass ich mich als Kriminalautor eignen würde: die Komposition des Romans über die vielen Stränge der Ermittlungen und Nebengassen einschließlich eines spannenden Handlungsbogens, Action mit mindestens einer riskanten Verfolgungsjagd, ein bisschen Privatleben des Schriftstellers, Beziehungen, ein wenig Sex, bis hin zu einer plausiblen Lösung, die bereits am Anfang von mir konzipiert sein muss, das ist nicht mein Ressort. Mein Talent sind die Einzelszenen, die assoziativ aneinander gereihten Miniaturkapitel, das thematisch dezentrale Leben, die Zufälligkeit, das, was gerne nachträglich zusammengebunden wird, dies aber nie verdient hätte. Geht mir da gerade wieder ein möglicher erster Satz verloren? Ich grabe mich grübelnd immer tiefer in den Ständer mit den Bugatti-Jacken ein, da ich nach der Enttäuschung mit dem kulant erledigten Ladendieb wieder in den zweiten Stock zurückgekehrt bin. Aber ich finde hier nichts, nicht die gewünschte Leiche, mit der ich ohnehin nichts Besonderes hätte anfangen können, nicht den Satz, und auch keine sonstige Inspiration. Peek & Cloppenburg ist nicht der Ort. Ich trenne mich widerwillig von Bugatti, meiner heimlichen Lieblingsmarke, steige in den ersten Stock und das Erdgeschoss hinab und gemessenen Schrittes den Ausgang hinaus. Das Wetter ist besser geworden, die Spätnachmittagssonne durchflutet die Ost-West-gerichtete Fußgängerzone. Die im mittleren Bereich aufgestellten Bänke sind jetzt bevölkert von Eis-verzehrenden Menschen, die sich in der C&A gegenüber liegenden Eisdiele versorgt haben. Links und rechts sind zahlreiche Textilgeschäfte zu finden, günstig, mit Waren gefertigt in Bangladesh, China oder sonstwo. Das, was sie für Männer zu bieten haben, ist auch gelegentlich in meinem Kleiderschrank gelandet. Wenn ich jetzt ein Stück weitergehe, lande ich schon am Ende der Fußgängerzone und in einer Anliegerstraße. Aber einstweilen bleibe ich auf der Höhe eines der Läden – ich glaube, es ist Bijou Brigitte – stehen und versuche über meine letzten Schritte nachzudenken. Ich versuche darüber nachzudenken, ob das Nachdenken über meine letzten Schritte wirklich das ist, das mich in meinem Anliegen jetzt weiterbringt. Welche Geschichte hat diese Straße? Hat nicht jede Straße eine Geschichte, habe ich nicht nur versäumt, sie zu entdecken? Was ist das eigentlich, eine Geschichte entdecken?

Während ich mich auf eine Bank setze, zu den Eis verzehrenden Jugendlichen, sehe ich mich wieder in der Sackgasse der hingebungsvollen Suche nach dem Einen, dem unnachahmlichen, dem außergewöhnlichen und in der Weltliteratur einzigartigen Satz, der den Rest fast automatisch mit sich führen wird. Aber nicht in einer Anliegerstraße mit dunkelbeigen zweistöckigen Mietshäusern. Wie viel Eis kann ein Mensch am Tag essen? Wie viele Menschen sitzen täglich auf einer Bank in der Umgebung einer Eisdiele? Bei welchen Temperaturen tun sie es nicht? Reden sie miteinander? Wäre das die Lösung aller meiner Rätsel? Das Ende meiner Suche? Der Satz, den der eine dem andern zuflüstert? Was soll das für mich und meinen Roman bedeuten? Der Satz, der auf einer von der spätnachmittäglichen Sonne beschienenen Bank in einer Fußgängerzone von einem eisleckenden Jugendlichen gesprochen wird und sicherlich eine Geschichte hat, aber keine, die ich kenne. Vielleicht eine, in die ich ihn hineintue. Sich gegenseitig verschränkende Inspirationen. Der Hund einer Passantin bellt mich an. Vielleicht eine Hündin, und ich ein Mann. Wer weiß. Das führt hier zu nichts mehr, ich gehe langsam weiter an der Geschäftsfront entlang bis zur Straßenecke und nach rechts, was vorbehaltlich einer weiteren Abbiegung der Heimweg wäre. Das ist kein zufriedenstellender Heimweg, sondern eine Kapitulation. Vor mir, vor der Welt, vor dem Reich der Sätze und Geschichten, das sich mir einstweilen nicht erschießt. Mit Blicken nach links und rechts – noch gebe ich nicht auf – bewege ich mich gemessenen Schrittes vorwärts, wie schon den ganzen Tag unübertrefflich absichtslos und dem Zufall hemmungslos ergeben. Von einem Kiosk und einem kleinen Souterrain-Café abgesehen bieten diese Straße und dieser Gehweg keine Herausforderungen für die Sinne, keine Innovationen für die Wahrnehmung. Hier wohnen Menschen in Häusern, hinter Fassaden, mit Fenstern, gut isolierend, schlecht isolierend, geöffnet, geschlossen, aufgeklappt. In wenigen -zig Meter wird das endgültige Wort über das Scheitern meines Spaziergangs gesprochen sein.

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