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VORWORT

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Gern erinnert sich Barbara an die 1980er Jahre, verbunden mit intensiven, wechselnden Gefühlen, aber immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit für die spannenden, bereichernden und sehr besonderen Erfahrungen, die sie machen konnte.

Sie war Stationspsychologin gewesen auf einer Station für chronisch psychisch Kranke, der Station 13 in Spreeblick. Ihre Erinnerungen bündeln sich um zwei stark idealisierte Aspekte: Einerseits sah sie sich als heldenhafte Kämpferin für das Wohl der PatientInnen, obwohl nüchtern betrachtet eigentlich nicht viel mehr passiert war, als dass aus einer überfüllten, undifferenziert belegten Station für vierzig chronisch psychisch kranke Männer (Schizophrene, geistig Behinderte, Alkoholiker, Epileptiker u. a.) eine nach therapeutischen Gesichtspunkten gestaltete Wohnstation für Schizophrene beiderlei Geschlechts wurde. Für Barbaras Gefühl, und vermutlich auch für manche PatientInnen und Schwestern, hatte sich aber eine Revolution ereignet. Die PatientInnen waren ihr nahegekommen, sie hatte gelernt mit vielen ihrer wunderlichen Äußerungen und seltsamen Verhaltensweisen umzugehen. Horizonte der Verrücktheit hatten sich ihr eröffnet, sie hatte existentielle Erfahrungen gemacht und vieles verstanden.

Andererseits denkt sie sehnsüchtig an die Stimmung friedlicher Toleranz zurück, die damals Verrückten und Ausgeflippten aller Art in der gesamten Gesellschaft, besonders in Spreeblick, entgegengebracht wurde. Die Zeit kommt ihr, trotz aller einschränkenden, ärmlichen Begleitumstände, wie sie auf der Station gegeben waren, idyllisch vor. Die optimistische Aufbruchsstimmung der TherapeutInnen erfüllt sie nachträglich mit Wehmut, weil sie endgültig vorbei zu sein scheinen.

Auch nach dreißig Jahren ist sie noch bestürzt vom Leid der PatientInnen, gerührt von ihrer Scheu und der bizarren Unbeholfenheit ihrer Kontaktversuche, die oft ungewollt komisch wirkten. Es ist auch viel gelacht worden.

Die große Angst, die oft geherrscht hatte, fühlt sie nicht mehr, erinnert sich aber noch gut daran. Sie hatte oftmals untergründig gebrodelt, zog sich manchmal stundenlang hin, führte zu einer Lähmung des Denkens und Handelns, bis sie sich schließlich entlud, oft in einer gewalttätigen Aktion, sei es im Ausbruch eines Patienten, sei es durch seine Überwältigung durch das Personal.

Für die Arbeit hat Barbara sich mit Haut und Haaren engagiert, zehn Jahre lang. Sie war manchmal erschöpft und frustriert, oft von Angst gequält, meistens aber eher gelassen und fast fröhlich.

Sie ist stolz auf ihre Arbeit. Sie hat über viele Jahre hinweg zahlreiche PatientInnen gründlich kennengelernt, für die sie mit der Zeit eine Stabilität und Vertrauen verkörpernde Bezugsperson wurde.

Was aber hat sich tatsächlich getan auf der Station 13? Dort hatten vierzig chronisch Kranke gelebt, auf engstem Raum zusammengepfercht, meistens in Vier-Bett-Zimmern, ohne eigenen Schrank, viele sogar ohne Nachttisch. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie alle schon jahre- oder jahrzehntelang in Kliniken gelebt hatten und keinerlei Verbindung mehr zum Leben außerhalb hatten: keine Arbeit, keine Wohnung, keine Familie, kein Geld. In mehrfacher Hinsicht also die Ärmsten der Armen, die sich nicht mehr im Alltag außerhalb des Krankenhauses zurechtfinden konnten. Nirgendwo wurden sie geduldet, es gab auch keine Entlassungsmöglichkeiten für sie. Alleine zu leben waren sie nicht fähig, sie in eine andere Einrichtung zu verlegen, machte in den wenigsten Fällen Sinn und war, wenn überhaupt, nur mit größten Schwierigkeiten möglich.

Aus dieser Perspektivlosigkeit entstand Hoffnungslosigkeit, bei PatientInnen und bei BetreuerInnen gleichermaßen. Die hatte eine Art gesetzlosen Zustand mit sich gebracht: jeder machte, was er wollte, ohne Rücksicht zu nehmen. Es war vom Personal lange überhaupt nicht auf die häufig vorkommende Gewalt oder den Diebstahl reagiert worden, als lohne es sich nicht mehr oder käme nicht mehr darauf an. Es schien, der jeweils Stärkere würde sich immer durchsetzen.

Die Patienten galten als „Therapieversager“, weder Medikamente noch Gespräche hatten ihren Zustand verbessern können. Die meisten ÄrztInnen reagierten darauf ebenfalls wie „Therapieversager“: sie lehnten die Arbeit auf dieser Station ab, beschäftigten sich lieber mit PatientInnen, die das Krankenhaus auch wieder verlassen konnten. Jemand wurde eingeliefert, mediziert und möglichst schnell wieder entlassen, sobald sich sein Zustand gebessert hatte, auch wenn niemand so genau wusste, warum. Bei einer solchen kurzfristigen Behandlung blieb es für viele PatientInnen, nur bei einem Drittel nahm die Krankheit einen chronischen Verlauf.

Den problematischen Verhältnissen wurde gleich zu Anfang durch einfache Maßnahmen begegnet: Die „Fehluntergebrachten“ (geistig Behinderte, Epileptiker, Alkoholiker) wurden mit großen Schwierigkeiten in geeignetere Einrichtungen verlegt, sodass, bis auf wenige Ausnahmen, nur Schizophrene übrigblieben. Die Station wurde zu einer „Wohnstation“ erklärt. Sie sollte eine nach therapeutischen Gesichtspunkten gestaltete Wohnmöglichkeit für Schizophrene beiderlei Geschlechts sein. Ein Ort, an dem PatientInnen dauerhaft wohnen konnten, ohne therapeutischem Druck ausgesetzt zu sein. Gefordert war nur, möglichst über alles zu reden. Alle, die PatientInnen und das Personal, waren durch diese Bestimmung entlastet von therapeutischen Ansprüchen, denen keiner gerecht werden konnte. So entstand ein Ort, um Leben zu lernen und sich in den gegebenen, eng beschränkten Verhältnissen mit anstehenden Problemen auseinanderzusetzen.

Eine neue verbindliche Regel wurde eingeführt: „Wer schlägt, der fliegt.“ Sie bedeutete für einen Patienten, der gewalttätig geworden war, dass er in den Wachsaal auf eine andere Station verlegt wurde, wo er so lange bleiben musste, bis der Vorfall in Ruhe geklärt worden war. Das war einerseits eine Strafe und signalisierte klar, dass die Regelverletzung nicht toleriert wurde. Andererseits blieb so auch Zeit für eine diagnostische Klärung mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen. Hatte der Patient eventuell Stimmen gehört oder stand unter dem Einfluss einer krankhaften Idee? Waren Medikamente sinnvoll? Diese Regelung bewirkte eine Beruhigung und deutliche Abnahme von Gewaltausbrüchen.

War jemand vom Pflegepersonal gewalttätig geworden, wurde er sofort und ohne weitere Diskussion von der Station entlassen.

Alle, die dort arbeiteten, engagierten sich so gut sie konnten für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung. Sie lernten Geduld und Toleranz für das oft skurrile, manchmal bedrohliche, meistens unverständliche Reden und Verhalten der Schizophrenen und geistig schwer Behinderten, von denen einige auf der Station geblieben waren. Die Schwestern erfuhren, dass Kontinuität, Verlässlichkeit und Klarheit die Verwirrung der PatientInnen mildern konnte, und erlebten die Beziehung zu ihnen als interessante Beschäftigung, im glücklichen Fall als Bereicherung.

Nach 1968 entstand in der BRD im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderungen eine psychiatriekritische Bewegung. Auf breiter Ebene bildeten sich Initiativen, die in der Regel gegen ein rein somatisches Krankheitsverständnis, gegen ausschließlich medikamentöse Behandlung, vor allem auch gegen die Elektroschockbehandlung eintraten, stattdessen mehr Verständnis und Unterstützung für psychiatrische PatientInnen forderten, am radikalsten das „Sozialistische Patientenkollektiv“, später die „Irrenoffensive“. Die Sozialpsychiatrie entstand mit Zeitschriften und Publikationen, am bekanntesten der Titel „Irren ist menschlich“ (Dörner / Plog).

Es setzte auch, sehr zaghaft zunächst, die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus ein. Die „Euthanasie“ hatte vor allem, und das wurde am wenigsten in Frage gestellt, die Ermordung chronisch psychisch Kranker und Behinderter zum Ziel gehabt. Dass erst 2014 ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde eröffnet wurde, der das bis dahin vorhandene unauffällige Schild ersetzt, zeigt, wie vernachlässigt diese Menschen immer noch sind.

Zu einem Ideal der psychiatriekritischen Bewegung wurde Franco Basaglia, als er 1978 in Italien die Schließung der Irrenanstalten erreichte, ein radikaler und mutiger Schritt. Schon Wilhelm Griesinger hatte 1872 gefordert, die akut psychisch Kranken müssten in gut erreichbaren städtischen Krankenhäusern behandelt werden, während die chronisch Kranken aus dem Krankenhaus befreit und in einer natürlichen Umgebung, der Familienpflege, versorgt werden müssten. Wie weitsichtig diese Reformvorstellung war, zeigte sich 1978 in Italien. Die Chroniker waren zwar befreit aus den Kliniken, aber auch alleingelassen und unfähig, ohne beschützende Umgebung zu überleben. Sie hatten kein Einkommen, waren obdachlos und wurden als hilflose Personen in andere soziale Einrichtungen gebracht, in denen sie oftmals schlechter lebten, als zuvor in der Psychiatrie.

Der Bundestag veröffentlichte 1975 die Psychiatrie-Enquete, in der die Mängel der psychiatrischen Versorgung umfassend erfasst wurden. Ihr folgte ein „Bundesmodellprogramm“, von dem einige psychiatrische Institutionen profitierten, unter anderen auch, in geringem Ausmaß, die in diesem Buch beschriebene Station 13.

Für alle daran Beteiligten war die Arbeit eine wertvolle Erfahrung. Für die Psychiatrie insgesamt nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

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