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Prolog

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Wilhelm Tell ist kein Freiheitskämpfer. Er ist auch kein Gründervater, Attentäter oder Revolutionär. Er ist die griffige Hauptfigur einer guten Geschichte. Ein Agent, ständig unterwegs, in wechselnden Verkleidungen – im Auftrag derjenigen, die seine Geschichte erzählen.

Von diesen Erzählern und ihren verschiedenen Versionen handelt dieses Buch. Erzählen klingt wie eine freundliche und harmlose Tätigkeit, aber die hat es in sich. Erzählungen, hat Hans Blumenberg notiert, sollen immer etwas vertreiben. «Im harmlosesten (aber nicht unwichtigsten) Fall: die Zeit.»1 Geschichten sind fliegende Teppiche, mit denen man eine Figur wie den Tell flott über grosse Zeiträume transportieren kann. Die authentische Urzeit – der Ur-Sprung, könnte man sagen – ist jeweils genau dort, wo Tell gerade zur Armbrust greift. Dieses wahre Mittelalter kann offensichtlich immer wieder neu re-installiert werden – vom 13., 14. und 15. Jahrhundert bis in die Zeitalter der Eisenbahnen, Flugzeuge und Maschinenpistolen. Max Frisch, dessen ironischer «Wilhelm Tell für die Schule» bei seinem Erscheinen 1971 in der Schweiz wütende Reaktionen ausgelöst hat, hat darin auf eine besondere Eigenschaft der Tell-Erzählungen hingewiesen: Ihre Wiederholbarkeit. «Nicht zu Unrecht, wenn auch zur allgemeinen Empörung», meinte er, «haben die palästinensischen Attentäter, die in Zürich am 18. Februar 1969 aus dem Hinterhalt ein startendes El-Al-Flugzeug beschossen, sich auf Wilhelm Tell berufen. Die Vogt-Tötung bei Küssnacht, wie die schweizerischen Chroniken sie darstellen, entspricht den Methoden der ‹El-Fatah›.»2

Tell ist, neben vielem anderen, eben auch ein Terrorist aus dem Mittelalter. Was hat die Tell-Geschichten über die Jahrhunderte so unwiderstehlich gemacht? Erzählen, schreibt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in seinem Buch «Wahrheit und Erfindung», heisst Filtern, Weglassen, Umbauen. Erzählen lässt störende Details verschwinden, verwandelt kompliziertes Unbekanntes in Vertrautes und verdichtet es zu einprägsamen Schemata.

Eine Geschichte ist deswegen eine gute Geschichte, weil sie immer wieder neu erzählt werden kann. Sie erzeugt ihre eigenen Varianten, Spielplätze sozusagen, auf denen Abweichungen getestet werden können, ohne dass die ganze Erzählanordnung bedroht wird. Unser Mann mit der Armbrust bekommt im Lauf seiner Karriere nicht nur wechselnde Namen, sondern auch sehr verschiedene Gegner, Familienangehörige und Verbündete: Diese Ungenauigkeiten und Vieldeutigkeiten vermindern aber die Wirkung der Erzählungen nicht, sondern verstärken sie. Denn Erzählen ist auch immer die nachträgliche Integration von wechselnden neuen Elementen – schliesslich soll der Ursprung auch zu dem passen, was später passiert ist.

Erzählungen handeln deswegen von abgeschwächten, uneindeutigen Kausalitäten. Sie müssen einen Bruch mit den Erwartungen der Zuhörer vollziehen, aber dieser Bruch muss selbst neuen Sinn erzeugen. Glaubwürdig wird dabei derjenige Erzähler, der einen solchen Ausnahmefall überzeugend mit einem Akteur und einer Absicht versehen kann. Ohne einen ordentlichen Helden geht das nicht. «Der Held ist unverzichtbar», so Koschorke trocken, «weil er erfolgreich Sinn reduziert.»

Und Kommentare produziert, könnte man ergänzen. Wer im 21. Jahrhundert über Wilhelm Tell schreibt, sieht sich im Wortsinn Bergen von Literatur gegenüber – es gibt vermutlich keine andere Figur der Schweizer Geschichte, über die auch nur annähernd ähnlich viele gelehrte Bücher geschrieben worden sind.3 Blättern wir nach. Was hat den Mann mit der Armbrust so unwiderstehlich und verlockend gemacht?

Wilhelm Tell, Import - Export

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