Читать книгу Spiegel der Schatten - V.C. Andrews - Страница 7

Оглавление

1

Ein völlig neues Spiel

In meinen geheimsten Träumen – denen, die man tief unter dem Kopfkissen verborgen hält, die einen erwarten sollen, sobald man die Augen schließt – sah ich meine leibliche Mutter zum Waisenhaus kommen, und sie war ganz anders als die Thompsons. Damit meine ich nicht, dass meine Mutter nicht schön gewesen wäre; sie war genauso schön wie Pamela. Und in meinen Träumen sah sie auch keinen Tag älter aus als Pamela.

Die Mutter meiner Träume hatte wirklich meine Haarfarbe und meine Augen. Sie sah so aus, wie ich vermutlich aussehen würde, wenn ich erwachsen war. Sie war durch und durch schön, und ihre besondere Stärke lag darin, Menschen zum Lächeln zu bringen. Sobald traurige Leute sie sahen, vergaßen sie, wie sie waren. Mit meiner Mutter neben mir würde auch ich vergessen, was es hieß, unglücklich zu sein.

In meinem Traum erkannte sie mich sofort unter all den anderen Waisen; und als ich sie in der Tür stehen sah, wusste auch ich sofort, wer sie war. Sie öffnete ihre Arme weit, und ich stürzte mich hinein; sie übersäte mein Gesicht mit Küssen und murmelte zahllose Entschuldigungen. Ihre Entschuldigungen waren mir egal. Ich war zu glücklich.

»Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte sie zu mir und ging ins Verwaltungsbüro, um alle Papiere zu unterschreiben. Bevor ich wusste, wie mir geschah, marschierte ich an ihrer Seite zum Waisenhaus hinaus, stieg in ihr Auto und fuhr mit ihr davon, um ein neues Leben zu beginnen. Wir hatten uns so viel zu sagen, dass wir beide unentwegt redeten, bis sie mich ins Bett brachte und versprach, immer für mich da zu sein.

Natürlich war das nur ein Traum, und sie kam nie. Ich sprach nie über sie und fragte auch niemanden im Waisenhaus nach ihr. Ich wusste nur, dass sie mich verlassen hatte, weil sie zu jung war, um für mich zu sorgen, aber im tiefsten Inneren meines Herzens hegte ich dennoch die Hoffnung, dass sie immer vorgehabt hatte, mich zu sich zu holen, sobald sie alt genug war, um sich um mich zu kümmern. Bestimmt wachte sie genau wie ich oft nachts auf und dachte an mich, fragte sich, wie ich aussah, ob ich einsam war oder Angst hatte.

Wir Waisenkinder gingen eigentlich nirgendwo anders hin als zur Schule, aber hin und wieder machten wir einen Ausflug nach New York, um ein Museum, eine Ausstellung oder eine Aufführung zu besuchen. Immer wenn wir in die Stadt kamen, presste ich mein Gesicht gegen die Scheibe des Busses und musterte eingehend die Menschen, die die Bürgersteige entlanghasteten. Ich hoffte, eine junge Frau zu sehen, die meine Mutter sein könnte. Meine Chancen waren genauso groß wie auf einen Hauptgewinn in der Lotterie – das wusste ich –, aber es war mein geheimer Wunsch, und schließlich lebten wir Waisenkinder von Wünschen und Träumen. Ohne sie wären wir verloren und vergessen.

Aber nicht im Traum hätte ich mir vorgestellt, dass ein Paar wie Pamela und Peter Thompson mich erst in Pflege nehmen und dann adoptieren wollte. Leute, die so reich und bedeutend waren wie sie, hatten andere Mittel und Wege, an Kinder zu kommen als ein gewöhnliches Waisenhaus. Natürlich machten sie sich nicht selbst auf die Suche. So etwas ließen sie von jemandem erledigen.

Daher fühlte ich mich an jenem Tag, als ich mit ihnen das Waisenhaus verließ, als hätte ich das große Los gewonnen. Ich trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt der New York Yankees. Ich hatte ein Party-of-Five-Poster dagegen eingetauscht. Pamela besah den Rest meiner Garderobe und wies Peter an: »Lass das einfach hier. Lass alles aus ihrer Vergangenheit hier, Peter.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich besaß nichts Wichtiges. Das einzige, was mir wichtig war, nämlich jenes verblasste rosa Band, das ich an dem Tag trug, als meine Mutter mich zurückließ, steckte ich unbemerkt in die Tasche meiner Jeans.

»Unseren ersten Halt legen wir bei Bloomingdale’s ein.«

Peter fuhr mit dem Rolls-Royce vor. Zwar hatte ich schon von diesen Autos gehört, aber noch nie eines gesehen. Es sah aus wie vergoldet. In Ehrfurcht erstarrt, wagte ich nicht zu fragen, ob es wirklich Gold war. Das Innere roch brandneu, und das Leder fühlte sich so weich an, dass es unvorstellbar viel gekostet haben musste. Einige der anderen Kinder starrten aus dem Fenster, die Gesichter gegen die Scheiben gepresst. Sie sahen aus, wie in ein Aquarium eingesperrt. Ich winkte und stieg ein. Als wir davonfuhren, hatte ich das Gefühl, auf einem fliegenden Teppich davonzuschweben.

Ich hatte nicht gedacht, dass Pamela es wörtlich gemeint hatte, als sie davon sprach, als erstes zu Bloomingdale’s zu gehen, aber genau dorthin fuhr Peter. Jeder kannte Pamela in dem Warenhaus. Sobald wir die Kinder-Abteilung betraten, stürzten die Verkäuferinnen sich auf uns wie Haie. Pamela ratterte eine Liste von Wünschen herunter, marschierte dann die Gänge entlang und deutete auf dieses und jenes. Stundenlang probierten wir Kleidung an.

Während ich verschiedene Blusen, Röcke, Jacken und selbst Hüte anzog, saßen Pamela und Peter dort wie Zuschauer bei einer Modenschau. Ich hatte noch nie so viele verschiedene Bekleidungsartikel gesehen, geschweige denn anprobiert. Pamela machte sich genauso viel Gedanken darüber, wie ich die Kleidungsstücke trug wie über ihren Sitz. Bald hatte ich das Gefühl, ein Model zu sein.

»Langsam, Brooke, geh langsam. Kopf hoch und Schultern zurück. Vergiss deine gute Haltung nicht, jetzt da du Kleidung trägst, die deine Erscheinung positiv beeinflussen kann. Wenn du dich umdrehst, halt einen kleinen Augenblick inne. Genau. Du trägst den Rock zu hoch in der Taille.« Sie lachte. »Du benimmst dich, als hättest du noch nie einen Rock getragen.«

»Das tue ich auch kaum«, bestätigte ich. »Jeans sind viel bequemer.«

»Jeans. Das ist doch lächerlich. Jeans haben keine femininen Linien. Ich wusste gar nicht, dass die Röcke dieses Jahr so kurz sind, Millie«, sagte sie zu der Verkäuferin, die mir half. »Oh, ja, Mrs. Thompson. Das ist die neueste Mode.«

»Die neueste Mode? Wohl kaum«, widersprach Pamela. »Für die neueste Mode müsste man nach Paris fahren. Alles, was wir in unseren Geschäften bekommen, hinkt Monate hinterher. Halt deine Arme nicht so, Brooke. Du wirkst zu steif. Du siehst aus, als wolltest du einen Baseball fangen«, lachte sie. »Findest du nicht, Peter?«

»Ja«, bestätigte er und stimmte in ihr Lachen ein.

Sie stand tatsächlich auf, um mir zu zeigen, wie ich gehen, meine Arme halten, mich drehen und den Kopf halten sollte. Warum war das alles so wichtig, wenn ich Kleider anprobierte, fragte ich mich. Sie ahnte diese Frage.

»Wir können wirklich nicht beurteilen, wie dir diese Kleidungsstücke stehen, solange du sie nicht richtig trägst, Brooke. Haltung und Auftreten, die beiden Schwestern des Stils, werden dafür sorgen, dass alles, was du trägst, nach etwas Besonderem aussieht, verstehst du?«

Ich nickte, und sie lächelte.

»Du warst so lieb, ich glaube, du hast etwas Besonderes verdient. Findest du nicht, Peter?«

»Das dachte ich auch gerade, Pamela. Was würdest du vorschlagen?«

»Sie braucht eine gute Uhr für ihr kostbares kleines Handgelenk. Ich dachte an eine dieser neuen Cartier-Uhren, die ich auf dem Weg ins Geschäft gesehen habe.«

»Du hast völlig Recht. Wie immer«, sagte Peter mit einem Lachen.

Als ich den Preis an der »guten Uhr«, wie Pamela sie nannte, sah, war ich sprachlos. Der Verkäufer nahm sie heraus und befestigte sie an meinem Handgelenk. Sie schien zu glühen. Ich hatte Angst, sie zu zerbrechen oder zu verlieren. Die Diamanten auf dem Zifferblatt funkelten.

»Man muss nur das Band ein wenig kürzen, damit sie ihr richtig passt«, meinte Pamela, die meine Hand höher hielt damit Peter die Uhr an meinem Handgelenk bewundern konnte.

Er nickte. »Steht ihr gut«, bestätigte er.

»Das ist doch so viel Geld«, flüsterte ich. Falls Pamela mich gehört hatte, zog sie vor, darüber hinwegzugehen.

»Wir nehmen sie«, beschloss Peter rasch.

Wie würde es denn Weihnachten sein, fragte ich mich. Ich war völlig benommen von diesem Kaufrausch, bei dem man keine Rücksicht nahm auf die Kosten. Wie reich waren meine neuen Eltern eigentlich?

Ich traute meinen Augen nicht, als ich das Haus sah, das Pamela und Peter ihr Heim nannten. Es war nicht einfach ein Haus; es war ein Herrenhaus wie Tara in Vom Winde verweht oder vielleicht das Weiße Haus. Es war größer und breiter als das Waisenhaus, hatte hohe Säulen und eine Marmortreppe, die zu einem Marmorsäulengang führte. Im ersten Stock gab es ein kleineres Portal.

Die Rasenfläche, die sich vor dem Haus erstreckte, war größer als zwei Baseballfelder nebeneinander. Ich sah Springbrunnen und Bänke. Zwei ältere Männer in weißen Hosen und Hemden jäteten ein Blumenbeet, das die Ausmaße eines olympischen Schwimmbeckens hatte. Als wir in die kreisförmige Auffahrt einbogen, erblickte ich hinter dem Haus einen Swimming-Pool und etwas, das wie ein Umkleidezelt aussah.

»Wie gefällt es dir?«, fragte Pamela erwartungsvoll.

»Ihr beide lebt hier ganz allein?«, fragte ich, und beide lachten.

»Wir haben Dienstboten, die in einem Teil des Hauses wohnen, aber, ja, bis jetzt lebten nur Peter und ich hier.«

»Es ist so groß«, sagte ich.

»Wie du weißt, ist Peter Rechtsanwalt. Er beschäftigt sich mit Wirtschaftsrecht und ist außerdem in der Politik aktiv. Deshalb konnten wir dich so rasch mit nach Hause nehmen«, erklärte sie. »Und du weißt ja auch bereits, dass ich beinahe Miss America geworden wäre«, fügte sie hinzu. »Viele Jahre habe ich als Model gearbeitet. Deshalb weiß ich so viel über Stil und Auftreten«, erläuterte sie ohne eine Spur von Bescheidenheit.

»Ich glaube, wir haben sie überfordert, Pamela«, meinte Peter.

»Das macht doch nichts. Wir haben so viel zu tun. Wir haben einfach keine Zeit, ihr unser Leben in homöopathischen Dosen zu verabreichen, Peter. Sie wird den Bogen schon rauskriegen, nicht wahr, Liebling?«

»Ich denke schon«, antwortete ich und gaffte immer noch nach draußen, als der Wagen anhielt.

Sofort öffnete sich die Haustür und ein großer, schlanker Mann mit zwei Büscheln grauen Haares über den Ohren eilte heraus, gefolgt von einer kleinen Brünetten in einer blauen Hausmädchenuniform mit einer weißen Spitzenschürze.

»Hallo, Sacket«, rief Peter, als er ausstieg.

»Sir«, erwiderte Sacket, ein Mann Ende fünfzig oder Anfang sechzig. Er hatte kleine, dunkle Augen und eine lange Nase, die anscheinend immer noch in Richtung auf seinen schmalen Mund und den scharf geschnittenen Kiefer wuchs. In seinem blassen Gesicht wirkten die Lippen wie geschminkt.

»Willkommen daheim, Mr. Thompson«, sagte er mit einer viel tieferen Stimme, als ich erwartet hatte. Sie schien aus seinem Bauch zu kommen und mit der Resonanz einer Kirchenorgel aus seinem Mund widerzuhallen.

Das Hausmädchen flatterte wie eine Motte um das Auto und wartete nervös darauf, dass Pamela ihr Anweisungen erteilte. Sie schien selbst nicht viel älter zu sein als dreißig, wirkte aber sehr unscheinbar, da sie kein Make-up trug. Ihre Nase war viel zu klein für den breiten Mund mit den dicken Lippen. Ihre braunen Augen zwinkerten unentwegt nervös. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat zurück, als Pamela aus dem Wagen stieg.

»Bring die Pakete aus dem Kofferraum in Brookes Zimmer hinauf, Joline.«

»Jawohl, Madame«, erwiderte sie. Sie warf mir einen raschen Blick zu und ging um den Wagen herum nach hinten zu Sacket. Dort bepackten sie sich mit meinen Einkäufen.

»Peter, könntest du Brooke das Haus zeigen, während ich mich frisch mache?«, bat Pamela ihn. Sie wandte sich mir zu. »Reisen und Einkaufen kann die Haut austrocknen, besonders, wenn man in diese Warenhäuser mit ihren Klimaanlagen geht. Und all dieser Staub.«

»Kein Problem, mein Liebling«, versicherte Peter.

»Brooke«, sagte er und streckte seinen Arm aus. Zuerst verstand ich ihn nicht. Er kam näher mit seinem Arm; da begriff ich und steckte meinen Arm hindurch. »Sollen wir einen Rundgang durch dein neues Heim machen?«, fragte er lächelnd.

Ich sah auf die Dienstboten, die mit meinen Paketen hinaufeilten, die Gartenanlagen, in denen Leute Beete jäteten, Pflanzen beschnitten, die Hecken und Rasenflächen, die schiere Größe des Besitzes, und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mir wurde ganz schwindelig davon.

Mein neues Heim?

Mein ganzes Leben lang hatte ich in Zimmern gewohnt, die nicht größer waren als Schränke, manchmal hatte ich den Raum sogar mit einer anderen Waisen geteilt. Das Badezimmer benutzte ich gemeinsam mit einem halben Dutzend anderer Kinder. Ich aß in einem Speisesaal, kämpfte darum, im Fernsehen sehen zu können, was ich wollte, und verteidigte meine winzige Privatsphäre wie eine Bärin ihre Jungen.

Dann wurde ich von einem Augenblick zum anderen in einen Palast gebracht. Ich war sprachlos. Ich hatte solch einen Kloß im Hals, dass ich das Gefühl hatte, einen Apfel verschluckt zu haben. Ich lehnte mich auf Peters Arm, dessen Stütze ich jetzt wirklich brauchte, und er führte mich die Treppe hinauf zu der imposanten Eingangstür, durch die Pamela geeilt war, als sei das Haus eine Zuflucht vor bösen Geistern, die ihr ihre Schönheit rauben wollten.

»Voilà«, sagte er und machte einen Schritt zurück, damit ich eintreten konnte.

In der lang gestreckten Eingangshalle, deren Bodenfliesen an gestrudeltes Schokoladen- und Vanilleeis erinnerten, drehte ich mich langsam im Kreis und betrachtete die großen Ölgemälde, die aussahen, als stammten sie aus einem europäischen Museum. Ich betrachtete den riesigen goldenen Kronleuchter über uns und den prächtigen Gobelin an der Wand neben der halbkreisförmigen Treppe, die mit eierschalenfarbenem Teppich bedeckt war, der so flauschig aussah wie Kaninchenfell.

»Das ist eine Szene aus Romeo und Julia«, sagte Peter und nickte in Richtung Gobelin. »Der Maskenball. Das hast du noch nicht gelesen, oder?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber ich wette, du kennst die Geschichte, hm?«

»Ein wenig«, meinte ich.

»Was hältst du bis jetzt davon?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist alles so groß hier.« Ich schnappte nach Luft, und er lachte.

»Annähernd tausend Quadratmeter«, prahlte er. »Komm mit.«

Auf seiner Seite sah ich einen riesigen Wohnraum mit einem weißen Flügel.

»Keiner von uns kann spielen, fürchte ich. Du?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, dir Unterricht geben zu lassen. Würde dir das gefallen?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, zögerte ich. Ich wusste es wirklich nicht. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, Klavier zu spielen. Natürlich hatte ich auch noch nie die Gelegenheit, es zu lernen.

»Wahrscheinlich wirst du eine Menge neuer Dinge entdecken, die du gerne tun möchtest«, stellte Peter nachdenklich fest. »Wenn etwas unmöglich erscheint, denkt man gar nicht weiter darüber nach, hm?«

Ich nickte. Das ergab einen Sinn. Er war clever. Er musste clever sein, um genug Geld für dies alles zu verdienen, dachte ich.

Mein Blick fiel auf viele weitere teuer aussehende Gemälde, sehr kostspielig aussehende Vasen und Kristall, auf Möbel ohne ein Stäubchen. Die Holzarmlehnen und Beine waren auf Hochglanz poliert, die Sofas und Sessel sahen aus, als hätte noch nie jemand darauf gesessen. »Wir verbringen nicht genug Zeit hier«, sagte Peter, als könnte er Gedanken lesen. »Dies ist einer dieser Vorzeigeräume. Normalerweise halten wir uns in dem Wohnzimmer auf, in dem unser Fernseher steht. Vielleicht verbringen wir jetzt, da du da bist, ja mehr Zeit damit, uns im Familienkreis zu unterhalten. Für Unterhaltungen ist er doch gut geeignet, oder?«, fragte er mit einem Lächeln.

»Ich habe hier das Gefühl, ich müsste flüstern. Es ist wie ein Raum in einem berühmten Haus oder so«, entgegnete ich, und er lachte.

»Ich sehe gerne die Gesichter der Leute, die zum ersten Mal in meinem Haus sind, denn durch sie kann ich selbst alles neu sehen«, erklärte er.

Wir gingen weiter den Flur entlang, der von Spiegeln in vergoldeten Rahmen mit Schnörkelverzierung, Tischchen mit Vasen voller frischer Blumen und Gemälden, wo immer sich ein freier Platz fand, gesäumt war.

»Ihr habt so viele Gemälde«, sagte ich, als ich stehen blieb, um eine wunderschöne Seelandschaft eingehender zu betrachten.

»Kunst ist heutzutage eine gute Investition«, erklärte Peter. »Du genießt die Schönheit, während der Wert wächst. Das ist doch besser als langweilige Aktien, hm?«

Ich zuckte die Achseln. Das war mir alles völlig fremd. Er lachte.

»Pamela interessiert sich genauso wenig dafür. Sie ist eine der Frauen, die wollen, dass die Maschine läuft, aber nicht wissen wollen, wie sie funktioniert. Das ist völlig in Ordnung«, fügte er rasch hinzu. »Ich kümmere mich um diesen Teil unseres Lebens und sie … also, sie ist schön und sorgt dafür, dass ich gut aussehe. Du weißt schon, was ich meine?«, sagte er mit einem Augenzwinkern.

Wieder hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach, daher lächelte ich nur.

»Pamela ist fest davon überzeugt, dass du genauso schön wirst wie sie. Weißt du, sie hat es fast bis zur Endausscheidung zur Miss America geschafft«, erzählte er stolz.

»Tatsächlich?«

»Hmhm. Erst war sie Ballkönigin auf der High School, dann Königin des Ehemaligenballes, dann Miss Aluminiumverkleidung und schließlich Teilnehmerin der Endausscheidung zur Miss Delaware. Als Gewinnerin hätte sie am Miss-America-Wettbewerb teilgenommen. Aber sie verlor gegen die Tochter eines sehr reichen Rennpferdebesitzers. Das war wohl eine abgekartete Sache«, meinte er.

Im Esszimmer blieben wir stehen. Um dort eine Mahlzeit einzunehmen, brauchte man Diener. Der ovale dunkle Kirschbaumtisch war groß genug, um allen Kindern des Waisenhauses, den Verwaltungsangestellten, den Köchen, den Vormündern und sogar noch einigen Besuchern Platz zu bieten. Ein Dutzend Plätze waren mit Gläsern und mehr Besteck eingedeckt, als es in unserem ganzen Speisesaal gab. Auf einer Seite befand sich ein riesiger Kirschbaumschrank mit Gläsern und Geschirr. Mein Blick fiel auch auf Serviertischchen, Stühle mit hohen Rückenlehnen, einen Wandspiegel und zwei Kerzenleuchter.

»Das Abendessen und alle offiziellen Mahlzeiten werden hier serviert«, erklärte Peter mit einer ausholenden Handbewegung. »Pamela überwacht alles im Haus«, erläuterte er. »Ihre Eltern haben sie auf ein Pensionat geschickt, wo Mädchen den gesellschaftlich letzten Schliff bekommen. Sie weiß alles, was man über Etikette wissen kann. Du wirst viel von ihr lernen. Sie hätte in den Hochadel geboren werden können. Sie könnte in dieser Welt leben. Unser Wohnzimmer«, fuhr er fort und blieb an der nächsten Tür zu unserer Rechten stehen.

Dort standen Möbel aus schwarzem Leder und ein Fernseher, der so groß war wie die Leinwände in manchen Kinos. Die roten Samtvorhänge waren aufgezogen, sodass man einen Blick auf den Swimming-Pool und das Umkleidezelt hatte. Ein Großteil des Raumes war Fotos von Pamela gewidmet, die mich magisch anzogen.

»Das ist sie!«, rief Peter. »Als Siegerin bei Schönheitskonkurrenzen, bei Werbeveranstaltungen von Firmen, zu Pferde in Paraden, zusammen mit berühmten Persönlichkeiten und wichtigen Politikern, bei der Vorführung von Modellkleidern, wo ich sie kennen gelernt habe.«

Ich riss die Augen auf. Meine Mutter kannte all diese berühmten Leute?

Peter stellte sich neben mich. »Beeindruckend, hm?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich hatte Glück, als sie sich in mich verliebte. Sie überrascht mich ständig. Pamela besitzt eine ganz eigene Schönheit und weiß, was man mit Schönheit erreichen kann und was nicht«, sagte er und nickte mir zu. »Du wirst eine Menge lernen, das für eine attraktive Frau nützlich ist«, versprach er. Er redete so, als seien Pamela und jetzt auch ich wegen unseres Aussehens Bewohner eines anderen Sterns oder Angehörige einer anderen Spezies. »Sie kann unschuldig und kindlich wirken, wenn sie muss, aber auch raffiniert, verführerisch, kultiviert und scharfsinnig, wenn es nötig ist, und sie weiß, wann sie welche Rolle spielen muss. Nur wenige Frauen, die ich kenne, wissen das, und das schließt die Intelligenzbestien, diese Ms. Soundso und Ms. Sowieso, die in meiner Firma arbeiten, ein«, sagte er mit einiger Bitterkeit.

Er schien zu merken, dass er zu ernst wurde, und lächelte. »Das ist eine digitale Anlage nach dem neuesten Stand der Technik mit Surround Sound. Nur wenige Leute haben so etwas, die Technik ist noch so neu. Ein gemütliches Zimmer, was?«

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, ein Teil von mir war immer noch vor dem überwältigenden Luxus dieses Hauses in Ehrfurcht erstarrt. Er setzte die Führung fort und zeigte mir die zwei Badezimmer im Erdgeschoss, die Quartiere des Hauspersonals, die Küche, die groß genug erschien, um ein Restaurant voller Gäste zu bewirten, die Bibliothek, sein Arbeitszimmer, das mit seinen Hunderten von Ledereinbänden dunkel und prunkvoll wirkte.

»Ich befürchte, in Bezug auf mein Arbeitszimmer bin ich ein wenig unvernünftig Ich gestatte nicht, dass irgendjemand es betritt, wenn ich nicht anwesend bin. Zu viele wichtige Dokumente und vertrauliche Unterlagen«, erklärte er. Ich sah, wie aus einer Maschine etwas Gedrucktes herausrollte. »Manchmal faxt man mir etwas direkt hierher. Jetzt wollen wir aber dein Zimmer anschauen.«

Ich kehrte mit ihm zur Treppe zurück, und wir stiegen hinauf. Durch eine geschlossene Doppeltür am Ende des Ganges hörten wir Klänge wie von einer Oper.

»Pamela hört gerne Operetten, wenn sie in ihrem Boudoir ist.« Als ich ein Gesicht schnitt, lachte er.

An einer hohen Tür blieben wir stehen. Mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen schaute er mich an, bevor er sie öffnete. Wieder konnte ich nicht verhindern, dass ich hörbar nach Luft schnappte.

Das Zimmer, mein Zimmer, war viermal so groß wie mein Zimmer im Waisenhaus, und mein Bett war groß genug, um darauf Trampolin zu springen. Es hatte vier hellrosa Bettpfosten und ein Kopfteil, in das eine langstielige Rose geschnitzt war. Dort stand ein weißer Schreibtisch mit Schubladen und am anderen Ende des Zimmers eine lange Theke mit Spiegeln und einem Schminktisch. Der Tisch war mit Bürsten, Make-up-Behältern, Wimperntusche, Lippenstiften, einem Föhn und einem Elfenbeinkästchen voller Spangen und Haarbänder bedeckt.

All meine neuen Kleidungsstücke waren in Kommoden und den großen begehbaren Schrank geräumt, und dennoch war Platz für viel mehr. In dem Schrank befanden sich Spiegel und sogar ein kleiner Tisch und Stuhl.

Die Fenster zu beiden Seiten des Bettes waren mit weißen und rosa Vorhängen dekoriert. Mein Zimmer hatte einen Blick auf die Landschaft hinter dem Haus, und in der Ferne konnte ich einen kleinen See erkennen.

Peter öffnete einen Schrank dem Bett gegenüber und zeigte mir einen kleinen Fernseher. Dann öffnete er den Unterschrank, in dem sich eine Musikanlage verbarg.

»Wir werden dir dieses Wochenende etwas Musik besorgen«, versprach er. »Pamela hat die nächsten Tage bereits verplant, und zwar hauptsächlich mit Einkaufen. Nun?«, erkundigte er sich, die Hände in die Hüften gestemmt. »Bist du glücklich?«

Ich schüttelte den Kopf. Glücklich war einfach ein viel zu kleines Wort. Ich drehte mich um und berührte Dinge, um mich zu vergewissern, dass alles wirklich war und kein Traum.

»Das ist mein Zimmer?«, fragte ich schließlich.

Er lachte. »Natürlich. Warum ruhst du dich nicht ein wenig aus, duschst oder badest und ziehst dich dann zu unserem ersten gemeinsamen Abendessen um. Pamela hat etwas Besonderes vorbereiten lassen. Sie ist wild entschlossen, dich maßlos zu verwöhnen. Ihrer Meinung nach muss eine schöne Frau verwöhnt werden. Und damit hat sie wohl Recht. Schließlich verwöhne ich sie ja auch«, sagte er.

Es klopfte an der Tür. Als wir uns umdrehten, trat Joline ein.

»Mrs. Thompson schickt mich, um nachzuschauen, ob ich Miss Brooke jetzt ein Bad einlassen soll«, erklärte sie.

Miss Brooke?, dachte ich. »Siehst du«, meinte Peter, »wie Pamela immer vorausdenkt. Also?«

»Also was?«, fragte ich.

»Soll Joline dir jetzt ein Bad einlassen?«

»Ein Bad einlassen?«

»Es für dich vorbereiten?«, übersetzte Peter.

Ich blickte auf die große runde Wanne in dem funkelnden Badezimmer. Was war so schwer daran, ein Bad vorzubereiten?

»Das kann ich auch selbst machen«, entgegnete ich.

»Natürlich kannst du das«, sagte er, »aber von jetzt an wird jemand anders das für dich erledigen. Pamela möchte das so. Sie möchte, dass du wirst wie sie.«

Tief in mir – dort, wo ich alle meine Träume und Geheimnisse aufbewahre – rührte sich etwas. Es war wie eine winzige Alarmglocke. Aber ich verstand nicht, wieso sie läutete.

Ich betrachtete meine neuen Kleider, meine teure Uhr, meine ganze neue Welt, die so viel privilegierter und sicherer war als das Waisenhaus.

Wo konnte hier eine Gefahr lauern?

Spiegel der Schatten

Подняться наверх