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Mord auf Raten

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„Na, dann schießen Sie mal los: Wie sind denn so die Gewohnheiten Ihres Gatten?“

Mit vorgebeugtem Körper sitzt Mr. Q mir gegenüber, bereit sich jede einzelne Kleinigkeit einzuprägen. Erwartungsvoll blickt er mich an und wartet darauf, die gewünschten Informationen von mir zu erhalten. Ohne mich zu drängen, lässt er mir Zeit, meine Antwort sorgfältig zu überdenken. Ich bin mir nicht sicher, was ich ihm sagen soll. Ich fühle mich überfordert. Überfordert und unwohl. Überfordert mit den Dingen, die er von mir zu hören erwartet, unwohl mit der gesamten Situation.

Wir sitzen in der hintersten Ecke eines kleinen antik eingerichteten Cafés. Die Lichtverhältnisse sind bescheiden, so dass ich mir nicht sicher bin, den Gesichtsausdruck meines Gegenübers richtig zu deuten. Sehe ich da ein Lächeln auf seinen Lippen oder ist es eher der Blick eines erfahrenen Geschäftsmannes, der es nicht abwarten kann, schnellstmöglich alles Notwendige in die Wege zu leiten?

Mr. Q – geschrieben tatsächlich wie der Buchstabe, nicht wie das Rindvieh – scheint meine Nervosität zu spüren und wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu, was wohl so viel heißen soll wie: „Nur Mut. Aller Anfang ist schwer. Wenn ich erst einmal alle notwendigen Informationen zusammen habe, läuft der Rest von ganz allein.“

Vor lauter Unsicherheit fange ich an, mit meinen Fingern an meinen Haaren im Nacken zu spielen. Eine kleine Locke hat sich aus meinem Kopftuch gelöst, was ich mir vorsichtshalber umgebunden hatte, um meine Identität ein wenig zu verschleiern. „Je weniger wir voneinander wissen, desto besser für alle Beteiligten“, hatte mir Mr. Q bei unserem ersten und einzigen Telefonat mitgeteilt. Das war vor zwei Wochen gewesen. Mr. Q gab mir Gelegenheit, noch einmal alles zu überdenken. Schadenersatzansprüche würde ich später nicht geltend machen können. Mr. Q wäre für mich nicht mehr erreichbar. Erfahrungswerte hatte er am Telefon nur trocken bemerkt.

Ich hatte hin- und herüberlegt, nächtelang nicht geschlafen. Wir hatten uns für den heutigen Nachmittag verabredet, sollte ich es mir bis dahin nicht anders überlegt haben. Hatte ich nicht. Jetzt sitze ich hier, mir gegenüber ein mir mehr oder weniger unbekannter Mann, der mir helfen würde, sämtliche meiner Probleme zu lösen.

„Nun ja. Ich weiß ja nicht genau, welche Gewohnheiten Sie benötigen. Aber Herbert sieht jeden Samstagnachmittag die Bundesliga. Außerdem trifft er sich dienstags mit ein paar Freunden zum Skat.“ Mir fällt auf, dass ich die ganze Zeit auf das Usambaraveilchen starre, das in einem alten Kaffeepott auf unserem Tisch steht.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und sehe Mr. Q in die Augen. „Meinen Sie diese Art von Gewohnheiten?“

„Ganz genau diese Art sogar. Damit kann ich arbeiten.“ Geschäftig kramt er in der Innentasche seines Trenchcoats und fördert schließlich einen Notizblock nebst Kuli zutage.

„Lassen Sie uns doch zunächst den Skatabend etwas genauer unter die Lupe nehmen. Sie sagten dienstags? Um wie viel Uhr und wo?“

Wieder schrillt eine Alarmglocke in meinem Kopf: Wenn ich jetzt weitermache, gibt es kein Zurück mehr!

Hastig nehme ich noch einen Schluck von meinem Cappuccino. Ich wünschte, ich hätte etwas Stärkeres bestellt – ein Cognac wäre nicht schlecht. Automatisch halte ich nach dem Kellner Ausschau. Das Klicken des gezückten Kugelschreibers bringt mich von dieser Idee jedoch wieder ab.

„In einer Eckkneipe, Zum goldenen Elch, etwa zweihundert Meter von unserer Wohnung entfernt“, bringe ich schließlich zaghaft hervor. „Sie treffen sich dort immer um 19:00 Uhr.“

Krampfhaft halte ich meine Handtasche mit beiden Händen fest umschlungen und drücke sie noch ein wenig fester an meine Brust. Ich darf sie nicht verlieren. Darin befindet sich sozusagen meine Lebensversicherung. Ein Schreiben, das mir dieses Treffen mit Mr. Q erst ermöglicht hat. Unsicher blicke ich mich noch einmal in dem kleinen Café um. Ein paar Tische weiter sitzt ein junger Mann, die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen. Bilde ich es mir nur ein oder beobachtet er mich tatsächlich die ganze Zeit? War es nicht derselbe Kerl, der mich schon auf der Herfahrt im Bus die ganze Zeit angestarrt hatte? Nicht auszudenken, wenn er plötzlich aufspringen und mir meine Handtasche entreißen würde. Dann wäre alles verloren.

Als hätte er meinen Blick auf sich gespürt, sieht der Mann plötzlich auf. Schnell senke ich den Blick, nicht schnell genug jedoch, um nicht das kleine Lächeln auf seinem Gesicht zu bemerken.

„Aus wie vielen Leuten besteht die Skatrunde?“

„Was?“ Erschrocken blicke ich auf. „Verzeihung. Ich bin ziemlich nervös“, lächle ich unsicher.

„Verständlich.“ Mr. Q scheint mit seiner Geduld jedoch langsam am Ende.

„Naja, der Typ da drüben“, ich nicke kurz in Richtung Kapuzenmann. „Ich glaube, der verfolgt mich. Nicht, dass Sie denken, ich leide unter Verfolgungswahn“, entschuldige ich mich sofort. „Also, normalerweise jedenfalls nicht.“ Nervös kichere ich.

Mr. Q hebt wortlos eine Augenbraue.

„Tschuldigung.“ Ich räuspere mich. Wenn ich nervös bin, fange ich an zu plappern. Ich weiß das, kann jedoch nichts dagegen tun.

„Das ist schon in Ordnung“, versichert mir Mr. Q, inzwischen jedoch nicht mehr ganz so überzeugend wie zu Beginn unseres Gesprächs. Beinahe unauffällig wirft er einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. Aber ich habe es dennoch bemerkt. Ebenso die vielen kleinen glänzenden Steinchen auf seiner Uhr. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Herbert so eine Uhr tragen würde. Oder ich. Unvorstellbar. Nein, Herberts Uhr ist ein ganz schlichtes Modell. Ebenso wie meines. Beide von Woolworth, aber immerhin von der Theke, nicht einfach nur vom Grabbeltisch. So richtig mit Beratung. Ich kann mich noch genau daran erinnern, was für ein Tohuwabohu Herbert darum gemacht hat. Ich war ganz aufgeregt, bis wir dann doch nur wieder auf dem Woolworth-Parkplatz gelandet sind. Oh dieser ewige Geiz! Doch Herbert tat weiter gönnerhaft. Schließlich feiere man ja nur einmal im Leben seinen vierzigsten Hochzeitstag. Die Wahrscheinlichkeit dürfte ziemlich hoch sein, dass er damit ausnahmsweise einmal Recht behalten sollte.

„Soweit ich weiß sind sie zu viert.“ Unsicher ruht mein Blick auf Mr. Qs rot-schwarz gestreifter Krawatte, während ich meine Antwort noch einmal überdenke. „Spielt man Skat zu viert? Jetzt wo ich darüber nachdenke, muss ich gestehen, dass ich mir noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht habe, wie viele Leute man für ein Skatspiel benötigt. Sie wissen es nicht zufällig?“

Mr. Q sieht mich ungläubig an. „Sie wissen also nicht, mit wem sich Ihr Mann jeden Dienstag trifft?“

So, wie er das sagt, klingt es gleich irgendwie verdächtig. „Nun ja, ich überwache meinen Herbert doch nicht. Er hat seine Kumpel und ich kenne sie natürlich alle. Aber wer da nun regelmäßig dienstags anwesend ist, kann ich ehrlich nicht sagen.“

„Aber Sie sind sich sicher, dass er im Goldenen Elch ist?“

„Natürlich! Wir kennen den Wirt schon seit Jahren und halten ihm die Treue.“ Wieder dieser skeptische Blick von Mr. Q.

„Also gut“, lenkt er schließlich ein. „Haben Sie das Foto dabei?“

„Ja“, sage ich, erleichtert scheinbar doch noch etwas Brauchbares beisteuern zu können. Ich ziehe es aus meinem Portemonnaie und schiebe es, nach einem kurzen Blick auf die Fotografie, über den Tisch. Mr. Q nimmt es auf und studiert es eingehend.

„Ich denke, das dürfte fürs Erste reichen.“ Geschäftsmäßig sammelt Mr. Q all seine Utensilien zusammen und erhebt sich galant. „Wenn Sie mir dann bitte noch die Anzahlung aushändigen würden?“

Ich bin ein wenig verwirrt. Sollte das etwa schon alles gewesen sein? Ich hatte viel mehr Zeit für das Treffen mit Mr. Q eingeplant. Enttäuscht krame ich in meiner Handtasche herum, um nach dem Kuvert zu suchen, während Mr. Q bereits erwartungsvoll und mit ausgestreckter Hand vor mir steht. Endlich habe ich es gefunden.

„Tschuldigung“, nervös überreiche ich ihm den braunen Umschlag. „In meiner Handtasche herrscht immer so ein Chaos, da ...“

„Ist schon in Ordnung“, unterbricht mich Mr. Q unwirsch, wobei er mir den Umschlag förmlich aus der Hand reißt. Ich bin ein wenig empört angesichts seiner schlechten Manieren. Schließlich habe ich ihm gerade meine gesamten Ersparnisse überreicht. 10.000 Euro. Jahrelang mühsam vom Haushaltsgeld beiseite geschafft. Versteckt am unteren Boden des Wäschepuffs in einer extra für diesen Zweck zusammengenähten Unterhose von Herbert. Bei dem Gedanken daran muss ich wieder kichern. Es gibt Orte, da kann sich Frau sicher sein, dass kein Ehemann der Welt dafür gesteigertes Interesse aufbringt. Und dreckige Wäsche gehört mit Abstand zu den sichersten Orten. Für so viel Raffinesse kann man doch wirklich etwas mehr Respekt erwarten.

Noch bevor ich Gelegenheit habe, Mr. Q auf sein unangemessenes Benehmen anzusprechen, geht er schon zum letzten Punkt der Tagesordnung über.

„Sobald nächste Woche das restliche Geld in meinem Postfach liegt, werde ich wie besprochen mit meiner Arbeit beginnen.“ Mr. Q steht jetzt direkt vor mir, um nicht zu sagen über mir, weil ich ja noch sitze. Den Kopf weit zurückgelegt, blicke ich angestrengt zu ihm nach oben. Hoffentlich verrutscht das Kopftuch nicht.

„Für Sie bedeutet das dann Abwarten und Tee trinken“, weist Mr. Q mich an und nickt in Richtung meiner Schwarzwälder Kirschtorte, die noch immer unangetastet vor mir steht.

Mein Halswirbel knackt, als ich ihm zur Bestätigung zunicke.

„Wenn alles wie geplant läuft, werden wir uns nicht noch einmal begegnen.“

Wieder ein Knacken im Nacken. Ein leises Kichern entweicht meiner Kehle angesichts des unbeabsichtigten Reims.

Und dann ist er weg. Einfach verschwunden. Ohne sich zu verabschieden. Wie versteinert sitze ich da, bis ich schließlich registriere, dass er wohl nicht wieder zurückkommen wird.

Ungläubig schüttele ich den Kopf. Zu schade, dass wir uns nicht wiedersehen. Mr. Q hätte es wirklich dringend nötig, dass ich ihn einmal über gute Umgangsformen aufkläre. So geht man doch schließlich nicht mit seinen Mitmenschen um. Ich ziehe die Schultern zurück und lasse meinen Kopf auf den Schultern kreisen, um die unangenehme Starre in meinem Nacken zu lösen.

Schwarzwälder Kirschtorte. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, ich könnte bei solch einer Begegnung etwas essen? Während ich noch überlege, ob ich eigentlich Appetit habe, lässt mich ein Griff auf meine Schulter zusammenfahren.

„Gerda! Wusste ich doch, dass du es bist!“ Ohne weitere Umstände lässt Uschi sich auf den mir gegenüberliegenden Platz sinken. Kurz durchzuckt mich die Überlegung, ob der wohl noch warm von Mr. Qs Hintern ist.

„Hallo Uschi!“, bekomme ich gerade noch heraus. Mehr nicht, denn Uschi ist jetzt alarmiert.

„Was machst du denn hier? Und warum um Himmels Willen trägst du dieses furchtbare Kopftuch? Haben wir schon Karneval?“

Ich merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Uschi registriert mein Erröten und setzt sofort ihr Hab-ich-dich-ertappt-Gesicht auf. „Oh, störe ich vielleicht? Erwartest du etwa jemanden?“ Aufgeregt sieht sie sich um.

„Quatsch!“, falle ich ihr sofort ins Wort und bin froh, dass Mr. Q nichts verzehren wollte. Eine zweite Kaffeetasse hätte ich schwerlich erklären können.

Die Antwort scheint Uschi auszureichen, um es sich auf ihrem Stuhl jetzt so richtig bequem zu machen.

„Und“, führt Uschi die bisher eher einseitige Unterhaltung ohne Umschweife fort, „hast du schon alles für unseren Wohltätigkeitsbasar zusammen?“

Ach herrje, der Wohltätigkeitsbasar. Den hatte ich völlig vergessen. Kein Wunder, bei der ganzen Aufregung in den letzten Tagen. Da hatte ich wahrlich Wichtigeres zu tun.

„Sicher Uschi“, flöte ich ihr ungeniert entgegen und nippe elegant an meinem Kaffee. „Du kennst mich doch, wie könnte ich ein so wichtiges Ereignis vergessen?“

Skeptisch blickt Uschi mich an, als sei sie sich nicht sicher, ob sie meinen Worten trauen kann. Also lege ich noch einen drauf. „Ich habe bereits den halben Keller entrümpelt und bin dabei auf ein paar sehr interessante Dinge gestoßen, die sich sicher gut verkaufen lassen.“

Kein Stück hab´ ich bisher zusammen. Herbert kann sich ja von nichts trennen. Das ist doch noch gut, das kann man doch noch gebrauchen. Nur weil hier und da was abgeblättert ist, muss man doch nicht das ganze Service wegschmeißen. Wie ich das hasse. Dieser ewige Geiz. Und dann diese hässlichen Krüge, die er überall in der Wohnung herumstehen hat. Sowas von hässlich. Nur über meine Leiche, hat er gesagt, der Herbert. Na dann …

„Prima! Ich hab ja, ehrlich gesagt, immer Schwierigkeiten, mich von dem Gerümpel zu trennen.“ Uschi lacht mich jetzt offen an. „Aber wenn du so gut bestückt bist, kann ich ja vielleicht etwas kürzer treten.“

Der Kellner kommt und überreicht Uschi ein eingewickeltes Paket.

„Oh, vielen Dank!“ Uschi schnappt sich das Päckchen und ist schon auf den Beinen. „Ich muss los, Hans-Günther wartet.“

Ein fliegender Handkuss und weg ist sie. Zurück bleibe ich und das elendige Stück Torte.

Zaghaft blicke ich mich noch einmal in alle Richtungen um. Das Café hat sich zwischenzeitlich geleert, selbst der komische Kauz mit der Kapuze, der mich ständig beobachtet hat, ist verschwunden. In geduckter Haltung krame ich geheimnisvoll in meiner viel zu großen Handtasche nach dem Schreiben der Lotteriegesellschaft. So etwas trifft einen ja erst einmal völlig unvorbereitet. 250.000 Euro. Was für ein Glück. Erfüllen Sie sich Ihre langersehnten Träume…

Ich musste mir das Schreiben genau zweimal durchlesen, um zu wissen, woraus meine langersehnten Träume bestehen. Jetzt bedurfte es nur noch der Umsetzung. Aber mit 250.000 Euro dürfte das ja nicht so schwer werden. Und so war es dann auch. Ich musste mich nur an Mr. Q wenden, der würde das Kind schon schaukeln.

Einige Tage später stehe ich am Schalter meiner Bank, um meinen Scheck abzuholen. 250.000 Euro. Ich bin so aufgeregt wie ein Kind am Heiligen Abend. Zappel nicht so rum, ermahne ich mich selbst, sonst ruinierst du noch alles.

„Einen schönen guten Tag, Frau Schlinger, was kann ich für Sie tun?“, werde ich von einer adrett gekleideten Frau hinter dem viel zu hohen Tresen begrüßt. Um einigermaßen auf Augenhöhe zu kommen, stelle ich mich auf meine Zehenspitzen.

So weit es geht, beuge ich mich über den Tresen und schiebe der Dame meine Losnummer zu. „Ich bin hier, um meinen Gewinn abzuholen“, raune ich ihr entgegen und komme mir dabei vor wie der schlaksige Händler aus der Sesamstraße, der den Leuten mit seinem langen Trenchcoat immer versucht, ein A zu verkaufen. "He, Du!“ – „Wer, ich?“ – „Psssst!“ – „Wer, ich?“ – „Genaaaaau…“

„Einen kleinen Moment bitte, Frau Schlinger.“ Mit meinem Zettel in der Hand verflüchtigt sich die junge Frau in den hinteren Teil der Filiale und verschwindet hinter einer weiteren Tür. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie schließlich wieder zurück und überreicht mir freudestrahlend meinen Scheck.

„Herzlichen Glückwunsch, Frau Schlinger!“

Glückselig werfe ich einen Blick auf meinen Scheck. Doch die Freude währt nicht lange.

„Entschuldigen Sie Fräulein, aber ich fürchte, Ihnen ist hier ein klitzekleiner Fehler unterlaufen.“ Mit strafendem Blick sehe ich sie an.

„Wie bitte?“ Ihre eben noch so freundliche Art verwandelt sich abrupt in Unsicherheit.

„Ich fürchte, Sie haben beim Ausstellen des Schecks ein paar Nullen vergessen.“

„Ein paar Nullen vergessen?“, wiederholt sie verunsichert, was die Situation aber auch nicht besser macht. Langsam werde ich nämlich richtig wütend. Noch einmal schiebe ich ihr meine Losnummer mit dem dazugehörigen Anschreiben entgegen.

„Es müssten 250.000 Euro sein und nicht nur 2.500 Euro. Steht hier doch. Können Sie etwa nicht lesen?“ Um meinem Unmut Nachdruck zu verleihen, klopfe ich ein paar Mal mit meinem Finger auf besagtes Dokument.

„Entschuldigung.“ Unsicher blickt sie sich hilfesuchend nach einem Kollegen um, der auch sogleich herbeieilt.

„Gibt es ein Problem?“ Fragend wandert sein Blick zwischen mir und der Dame hinter dem Tresen hin und her. Noch bevor sie etwas erwidern kann, übernehme ich die Führung.

„Allerdings. Ich habe bei Ihnen in der Lotterie gewonnen, aber Ihre Kollegin will mir nur einen Teil des Gewinns auszahlen. Hier bitte schön, sehen Sie selbst.“

Der Herr, der sich mit seinem Schild an seinem Revers als stellvertretender Filialleiter Herr Knaur ausweist, sieht sich die Dokumente noch einmal genau an.

„Entschuldigung Frau Schlinger, aber es hat alles seine Richtigkeit. Sehen Sie, mit Ihrem Los haben Sie sich für eine lebenslange Sofortrente entschieden. Monatlich 2.500 Euro.“

„Eine lebenslange Sofortrente? So ein Blödsinn! Was soll ich denn mit 2.500 Euro jeden Monat? Ich brauche das Geld sofort, und dabei wäre es hilfreich, auch den gesamten Betrag zu erhalten und nicht aufgestückelt in lebenslange Raten. Wer weiß, wie lange ich noch lebe? Da nützt mir das überhaupt nichts! Kann ja immer mal was passieren, und dann? Alles futsch und umsonst. Nein, nein, das müssen Sie ändern. Ich benötige das gesamte Geld, und zwar sofort.“

„Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Das Formular, welches Sie uns zurückgesandt haben, weist ausdrücklich aus, dass Sie sich für eine lebenslange Sofortrente entschieden haben. Ansonsten hätten Sie unten rechts ein Kreuzchen machen müssen.“

„Wie bitte? Ein Kreuzchen?“

„Ja.“

„Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass meine gesamte Zukunft von einem einzigen kleinen Kreuzchen abhängig ist?“

„Also, Frau Schlinger, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber 2.500 Euro jeden Monat sind doch auch eine stattliche Summe.“

„Stattlich mag ja sein, aber das hilft mir im Moment nicht weiter. Ich benötige das Geld in einer Summe. Und zwar sofort. Ansonsten ...“

Ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn ich Mr. Q die vereinbarte Summe in Raten zahle. Ob er sich überhaupt darauf einlässt?

Herr Knaur scheint mein Ansonsten jedoch falsch verstanden zu haben. Unauffällig schiebt er seine Kollegin beiseite und gibt ihr mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen, dass sie gehen kann.

„Frau Schlinger, ich denke nicht, dass wir uns drohen sollten. Wir können doch vernünftig über alles reden. So wie es aussieht, liegt hier lediglich ein Missverständnis vor. Wollen wir uns vielleicht in mein Büro setzen? Ich bin sicher, wir finden eine Lösung.“

In sein Büro? Irgendwie fühle ich mich, als würde ich abgeführt. Aber sitzen wäre jetzt gar nicht mal so schlecht. Meine Beine fühlen sich plötzlich an wie aufgedröselte Lakritzschnecken. Herr Knaur scheint dies zu spüren. Er bietet mir nicht nur sein Büro, sondern auch seinen Arm an.

Erleichtert sinke ich auf den angebotenen Stuhl und bin Herrn Knaur dankbar für die kurze Pause, die er mir gewährt, indem er mir seinen Rücken zukehrt, um mir ein Glas Wasser einzuschenken.

„Vielen Dank“, bringe ich artig heraus. „Wissen Sie, das sollte wirklich keine Drohung sein. Ich hab nur fest mit dem Betrag gerechnet und weiß nun gar nicht, wie ich alles regeln soll.“

Herr Knaur setzt sich nicht hinter seinen Schreibtisch, sondern auf den Stuhl neben mir. Schon toll, was sie den jungen Leuten heutzutage alles beibringen. Verhandlungspsychologie vom Feinsten. Und das Schlimme: Es funktioniert. Hätte er hinter seinem klobigen Schreibtisch gesessen, wäre es mir leichter gefallen, ein weiteres Mal auf den Tisch zu hauen. So eine riesige Bank und Sie zucken wegen 250.000 Euro?

Nun allerdings sitzt Herr Knaur neben mir, direkt kameradschaftlich. Und so ein stattlicher Bengel. Ich will ihm ja wirklich keine Schwierigkeiten machen. Und jetzt lächelt er mich auch noch so verschwörerisch an.

„Na, Frau Schlinger, das klingt ja fast, als hätten Sie sich Ihren Ferrari direkt schon nach Gewinnbekanntgabe bestellt.“

Unsicher lächele ich zurück. Ja, so könnte man es auch formulieren. Nervös nehme ich einen Schluck aus dem Wasserglas.

„Was halten Sie von folgendem Vorschlag: Ich kopiere mir jetzt Ihre Unterlagen und werde dann einige Telefonate führen. Ich bin mir sicher, dass wir Ihnen entgegenkommen können. Leider kann ich die Entscheidung nicht allein treffen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen einfach die fehlenden Nullen auf dem Scheck ergänzen. Aber Sie können sich ja sicher denken, dass hinter so einem Gewinnspiel ein ganzer Verwaltungsapparat steckt.“ Er lässt beide Hände auf seine Oberschenkel klatschen und springt auf. „Dann wollen wir das Getriebe mal in Gang schmeißen, oder?“

Meine Güte, auf so viel Motivation bin ich gar nicht vorbereitet. Ich merke, wie ich ihn strahlend anlächle und ihm meine Unterlagen übergebe. Im gleichen Moment könnte ich mich selbst dafür ohrfeigen. Hast du dich wieder schön um den Finger wickeln lassen, Gerda. Du bist einfach zu gutmütig!

Herr Knaur verlässt zum Kopieren das Zimmer und ich versuche verzweifelt, meinen Unmut wiederzufinden. Vergeblich, wie sich herausstellt. Aber gut, vielleicht lässt sich durch ein paar Telefonate ja tatsächlich alles aufklären. Geben wir dem netten Herrn Knaur eine Chance.

Durch diesen Gedanken versöhnt und mir meines Großmuts voll bewusst, leere ich das Wasserglas.

Wie von einem Stromschlag getroffen fahre ich zusammen als direkt neben mir das Telefon zu läuten beginnt. Mit einem dumpfen Plopp landet der Königsberger Klops unsanft wieder auf meinem Teller. Starr vor Schreck wage ich nicht zu atmen. Seit einer Woche warte ich nun schon vergebens auf eine Nachricht von Herrn Knaur.

„Willst du nicht rangehen?“, blafft Herbert mich an, wobei er angewidert auf meine mit Kapernsauce besprenkelte Bluse starrt.

Mit zittriger Hand greife ich zum Telefonhörer, ohne Herbert dabei aus den Augen zu lassen. Warum ausgerechnet jetzt?

„Ja, hallo?“, bringe ich zögerlich hervor.

Erst höre ich nichts, nur ein undefinierbares Rauschen, bis schließlich eine gedämpfte Stimme an mein Ohr dringt. „Zahlungsschwierigkeiten?“

Mein Herz droht aus der Brust zu springen. Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Ich kann doch nicht …

Zögerlich lege ich meine Hand auf die Sprechmuschel. „Deine Mutter!“, raune ich Herbert verschwörerisch zu.

Es dauert keine zehn Sekunden, da höre ich nur noch das dumpfe Zuknallen der Wohnungstür.

„Morgen haben Sie Ihr Geld, versprochen.“

„Gut, denn Sie wissen ja, ein Zurück gibt es nicht. Ich bin Geschäftsmann und ich mache keine halben Sachen. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren. Deswegen habe ich bereits alles in die Wege geleitet.“ Mit diesen Worten legt Mr. Q einfach auf.

Hastig krame ich in meiner Handtasche nach der Visitenkarte von Herrn Knaur.

„Schlinger mein Name. Ich muss dringend mit Herrn Knaur sprechen.“ Ich habe jetzt keine Zeit für überflüssige Floskeln oder großartige Erklärungen.

„Herr Knaur befindet sich im Urlaub. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“

„Im Urlaub? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wann kommt er denn zurück?“

„Lassen Sie mich kurz nachsehen. In drei Wochen.“

„Was? Aber er wollte mich doch zurückrufen!“

„Oh, das tut mir sehr leid. Hier war Einiges los in letzter Zeit. Wir hatten eine hausinterne Lotterie ausgeschrieben, wissen Sie? Sie können sich gar nicht vorstellen, was da für Arbeit dahintersteckt. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja helfen. Worum geht es denn?“

Oh nein! Nicht noch einmal von vorn das Ganze. Und nur, weil ich dem netten Herrn Knaur eine Chance geben wollte. So nicht! Jetzt sollen die mich aber mal kennenlernen.

„Also hören Sie, ich habe das alles schon mit Herrn Knaur besprochen. Es geht genau um besagte Lotterie und es gab da ein kleines Missverständnis. Mir läuft jetzt langsam die Zeit davon und alles, was ich von Ihnen jetzt verlange ist, dass Sie mir meinen Gewinn auszahlen. Und zwar nicht in Häppchen, sondern als Gesamtbetrag.“

Am anderen Ende der Leitung herrscht konsterniertes Schweigen.

„Hallo?“, frage ich ungeduldig. „Sind Sie noch dran?“

„Ja, äh, Entschuldigung. Würden Sie mir nochmal Ihren Namen nennen, bitte?“

Ach Gott, schon wieder so ein Mäuschen.

„Schlinger, Gerda Schlinger. Und jetzt seien Sie so gut und verbinden Sie mich mit Ihrem Geschäftsführer.“

„Ja, äh, einen Moment bitte.“

Es knackt in der Leitung und Beethovens Neunte ist zu hören. Alle Menschen werden Brüder, von wegen. Wäre doch echt mal erfrischend, wenn eine Bank die Fakten auf den Tisch legen und beispielsweise ABBA spielen würde: Money money money. Die Warteschleife dauert an und ich kann mir richtig vorstellen, wie herzlich mich die Mitarbeiterin in die Chefetage empfiehlt. Ich wappne mich auf einen deftigen Schlagabtausch mit einem gewieften Bänker. Doch dann:

„Es tut mir wirklich aufrichtig leid, Frau Schlinger, aber ich fürchte, wir können da wirklich nichts weiter für Sie tun. Glauben Sie mir, ich habe alles versucht, aber ...“

„Herzchen, jetzt passen Sie mal auf und das können Sie auch gerne Ihrem Chef erzählen. Wenn hier demnächst ein Unglück passiert, dann sind SIE schuld. SIE und IHRE ganze gottverdammte Bank!“ Wutentbrannt lege ich auf.

Noch einmal durchsuche ich hektisch meine Tasche nach dem Scheck über die erste monatliche Gewinnausschüttung, den mir Herr Knaur bereits nach unserem Gespräch in die Hand gedrückt hatte.

2.500 Euro. Ich bin gespannt, wie weit ich damit komme. Aber es nützt ja nichts, da muss ich jetzt durch, besser gesagt: Mr. Q. Als erfahrener Geschäftsmann, wie er sich schimpft, wird er schon wissen, was zu tun ist. Außerdem hat er ja schon eine Anzahlung von 10.000 Euro von mir bekommen. Den Rest gibt es halt in Raten, das kann ich jetzt auch nicht ändern.

Kurzerhand schnappe ich mir meine Jacke und werfe den Scheck mit einem kurzen Hinweis auf Ratenzahlung in das vereinbarte Postfach ein. So, das wäre erledigt. Nun bleibt mir nur zu tun, was Mr. Q mir empfohlen hat: Abwarten und Tee trinken.

„Herbert?“ Es ist doch einfach nicht zu fassen. Noch gestern haben wir vereinbart, dass wir uns heute gemeinsam die Sachen ansehen, die ich im Keller für den Wohltätigkeitsbasar beiseite gelegt habe. Die Szene am Samstagmorgen beim Abtransport der gepackten Kisten möchte ich mir nämlich gerne ersparen.

Seit dem frühen Morgen habe ich schon den gesamten Keller auf- und die Kisten mehrfach umgeräumt und Herbert lässt sich noch immer nicht blicken. Wird wohl wieder feuchtfröhlich zugegangen sein bei der gestrigen Skatrunde. Das wäre allerdings nicht verwunderlich. Nur selten bekomme ich Herbert am Dienstagabend noch zu Gesicht. Inzwischen ist es sogar so, dass ich – sobald ich den Schlüssel im Haustürschloss höre – schnell das Licht lösche und ins Bett springe, gern auch noch in voller Montur. Wenn Herbert so angetüdelt nach Hause kommt, ist er nämlich schlichtweg nicht zu ertragen.

Meine Güte, was dann alles ausdebattiert werden muss. Sachen, die schon seit einem halben Jahr erledigt sind. Oder Dinge, die erst in einem halben Jahr anfallen. Nein danke, das kann ich mir sparen. Zumal er am nächsten Morgen sowieso nichts mehr davon weiß. Wie gut, dass wir seit geraumer Zeit getrennte Schlafzimmer haben.

Du hast ja heute wieder den gesamten Berliner Forst abgeholzt. Diesen und ähnlich charmante Sätze durfte ich mir morgens beim Frühstück anhören. Auf solch ein übellauniges Gegenüber kann ich gut und gerne verzichten. Zumal ich bis heute nicht an mein Schnarchen glaube. Ganz im Gegenteil, wenn ich den guten Berliner Forst abholze, den, mit den lang aufgeschossenen, schlanken, hohen Fichten, dann will das gar nichts heißen. Herbert schafft in derselben Zeit nämlich einen ganzen Regenwald! Mit sämtlichen Mammutbäumen!

Doch sei es wie es sei, dank der getrennten Schlafzimmer kann ich mich nach Herberts diversen Zechereien flugs verflüchtigen. Allerdings bekomme ich dann oft auch nicht mehr mit, wann Herbert nach Hause kommt. Gestern jedenfalls scheint es mal wieder später geworden zu sein.

Wütend stampfe ich die Kellertreppe hinauf und knalle provokativ die Kellertür zu. „Herbert!“

***

Acht Jahre später betrete ich erneut meine Bank, um mir meinen monatlichen Scheck über 2.500 Euro abzuholen.

Herbert war an jenem verhängnisvollen Abend gar nicht nach Hause gekommen. Irritiert stand ich am Morgen in seinem Schlafzimmer und blickte auf sein unberührtes Bett. Sollte Mr. Q etwa bereits tätig geworden sein? Sollte mein Elend wahrhaftig schon ein Ende haben? Ich musste noch eine geschlagene Stunde warten, bis man mich über das tatsächliche Schicksal von Herbert unterrichtete.

Wie jeden Dienstag war Herbert in jener Nacht vom Goldenden Elch angesäuselt durch den kleinen Park nach Hause marschiert, als ein neu aufgestelltes, kleines Holzschild seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Pinkeln verboten! Herbert fasste das scheinbar weniger als Warnung, als vielmehr als Aufforderung auf. Kurzerhand ließ er die Hosen runter und trat siegessicher und mit blankem Hintern auf das Schild zu. Die 2,3 Promille, die er intus hatte, taten dabei ihr Übriges. Noch ehe der erste Tropfen kam, strauchelte er. Der markerschütternde Schrei, der daraufhin durch den kleinen Park und die angrenzende Umgebung schallte, holte sämtliche Nachbarn aus dem Tiefschlaf. Bis heute ist es uns allen ein Rätsel, was jemand damit bezweckte, in einer so gut behüteten Gegend wie der unseren, ein verrostetes Fangeisen aufzustellen. Mir war jedenfalls nichts von freilaufenden Wildschweinen bekannt.

„Sie können wirklich von Glück sagen, Frau Schlinger, dass es nur seinen rechten Fuß getroffen hat. Hätten die Nachbarn nicht sofort den Notarzt gerufen, ich bin mir nicht sicher, ob wir dann noch etwas für Ihren Mann hätten tun können. Er wäre wahrscheinlich an einer Blutvergiftung verstorben.“

Der Arzt, der mich über die unvermeidliche Amputation von Herberts Fuß informierte, klang wirklich aufrichtig. Nur nutzte mir das in diesem Moment gar nichts. Sie überreichten Herbert zwei Krücken und schickten ihn nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt wieder zu mir nach Hause.

Seit jenem Tag war Herbert nicht mehr der Alte und es ging stetig bergab mit ihm. Nicht nur, dass er immer weniger wurde, er wurde auch immer übellauniger.

Etwa ein Jahr später geschah ein weiteres tragisches Unglück, als Herbert gerade wieder dabei war, Fuß zu fassen. Nun ja, ein makaberes Wortspiel vielleicht. Aber er kam mit seinen Krücken immer besser zurecht und wir waren beide froh, dass wir uns endlich wieder etwas aus dem Weg gehen konnten. Also habe ich Herbert auf seinen Wunsch hin zum Baumarkt gefahren. Auf den rüden Hinweis, ab hier käme er allein zurecht, blieb ich im Wagen, während Herbert davonkrückte.

Lange warten musste ich allerdings nicht. Aufgeregt hin- und herlaufende Leute und der kurz darauf eintreffende Notarztwagen machten meiner Langeweile bald ein Ende. Als ich ausstieg, um nachzusehen, was da los war, kamen mir schon die Baumarktangestellten entgegen, die Herbert auf einem dieser Baumarkt-Einkaufswagen ankarrten. Sein Arm war in eine Plane gewickelt, was jedoch nicht verhinderte, dass eine Spur winziger Bluttröpfchen den Weg des Wagens markierte.

„Oh mein Gott, Herbert, was ist denn passiert?“ Der Schrecken hatte mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen. Doch Herbert war nicht in der Lage, auch nur irgendwas zu sagen. Wimmernd wiegte er sich vor und zurück.

„Entschuldigung, gehören Sie zusammen?“, sprach mich da eine junge Frau an. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass Herbert mein Mann sei, fing sie sofort an, zu beteuern, dass sie gar nicht wüsste, wie das alles passieren konnte. Aus dem Kauderwelsch konnte ich mir irgendwann zusammenreimen, dass Herbert wohl in die Gartenabteilung gebummelt war. Warum, frag´ ich mich bis heute. Wir haben keinen Garten und auf unserem kleinen Balkon können wir weiß Gott nichts mehr unterbringen. Jedenfalls muss er sich einen der Abfallhäcksler genauer angesehen haben, der groß als Sonderangebot angepriesen wurde. Besonders leise und absolut zuverlässig. Warum das Gerät angeschlossen war und wieso aus dem Einwurf ein 100 Euroschein herausragte, konnte sich niemand erklären.

Irgendwie musste Herbert jedenfalls beim Griff nach dem Geldschein das Gleichgewicht verloren haben. Mit nur einer Krücke hatte er keine Chance. Der Geldschein war dann Konfetti, genau wie Herberts rechte Hand.

Schmerzensgeld gab es natürlich für Herbert. Der Baumarkt hatte sich gar nicht erst auf einen Prozess einlassen wollen, sondern gleich eine großzügige Summe gezahlt. Herbert hat diese dann auch direkt in seine Rehabilitation investiert.

Nichts desto trotz war mit nur einer Hand und einem Fuß an ein eigenständiges Leben nicht mehr zu denken. Herbert war ein Pflegefall. Und weil das Geld vom Baumarkt nicht ewig reichte und Pflegepersonal heutzutage trotz Pflegestufe unsagbar teuer ist, blieb das Ganze natürlich an mir hängen.

Tragischerweise trugen sich auf ominöse Art in völlig unregelmäßigen Abständen immer wieder die unmöglichsten Unfälle zu. Herbert schwand dahin – vor meinen Augen.

Am letzten Wochenende habe ich nun endlich meinen Herbert zu Grabe tragen können. Die Kosten für die Beerdigung hatte mir der Bestattungsunternehmer freundlicherweise bis zur nächsten monatlichen Gewinnausschüttung gestundet. Viel war von Herbert auch nicht mehr übrig geblieben, so dass sich die Investition in einen überteuerten Sarg bereits erübrigt hatte. Die kleine Holzkiste, in der jetzt seine letzten wenigen Überreste liegen, hat mir freundlicherweise unser Gemüsehändler zur Verfügung gestellt.

Der Tresen der Bank kommt mir jetzt viel höher vor, vielleicht liegt es aber auch daran, dass meine Kräfte in den letzten acht Jahren merklich nachgelassen haben. Es war aber auch nicht gerade eine einfache Zeit. Herbert war ja ständig auf meine Hilfe angewiesen. Füttern hier, Zähneputzen da, aus dem Bett in den Rollstuhl, aus dem Rollstuhl ins Bett. Sogar zum Skat musste ich ihn jeden Dienstag schieben und ihm dann die Karten halten. Dass Herbert überhaupt so lange durchgehalten hatte, grenzt wahrlich an ein Wunder.

Mr. Q scheint sein Handwerk tatsächlich zu beherrschen. Immer alles Stück für Stück, wie mein Herbert zu Lebzeiten immer schon zu sagen pflegte. Auch wenn sich Herberts Körper von Jahr zu Jahr weiter reduzierte, ich wurde ja schließlich auch nicht jünger. Und das ewige Heben hat mich doch sehr geschwächt. Eine Pflegehilfe konnten wir uns auch später nicht leisten, denn die monatliche Sofortrente landete ja regelmäßig in Mr. Qs Postfach. Ich hatte vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Doch nur zu gut erinnerte ich mich an seine Warnung: „Ein Zurück gibt es nicht. Ich bin Profi und Sie glauben nicht, wozu ich fähig bin.“

Mir blieb also nichts anderes übrig, als weiter zu zahlen und so war das Einzige, was Herbert schließlich noch selbständig tun konnte, Nörgeln – und das den lieben langen Tag.

Nun, nach acht endlos langen Jahren hat das Ganze doch noch ein Ende gefunden. Mr. Q hat sein Geld bekommen und Herbert den Gnadenstoß.

Der ursprünglich geplante Zeitpunkt hat sich zwar ziemlich weit nach hinten verschoben, aber ich fühle mich noch nicht zu alt, um es noch einmal so richtig krachen zu lassen. Endlich kann ich anfangen zu leben und meine monatliche Sofortrente wird mir dabei sehr hilfreich sein. Immerhin zahlt die Bank ja bis an mein Lebensende. Ich könnte mir ein Theaterabonnement kaufen oder es mir auf einer dreimonatigen Kreuzfahrt mal so richtig gutgehen lassen. Irgendetwas wird mir schon einfallen.

Gerade als ich meinen Scheck entgegennehme, ertönt hinter mir ein lautes „Alles auf den Boden, die Hände auf den Rücken und keine Sperenzien. Du auch, Alte!“

Mein Gott, schon wieder so ein ungehobelter Mensch ohne Manieren. Bin ich denn nur von Rüpeln umgeben? Ich will dem Mann mit seiner viel zu weit ins Gesicht gezogenen Kapuze gerade meine Meinung geigen, als er auch schon direkt vor mir steht und wild mit seiner Pistole vor meinem Gesicht herumfuchtelt.

„Guter Mann“, setze ich gerade an, als sein Mund plötzlich dicht an mein Ohr dringt.

„Fang jetzt nicht an, mir etwas von guten Manieren zu erzählen.“ Sein schiefes Lächeln erinnert mich schwach an jemanden.

„Ich habe dich beobachtet. All die Jahre. Ich weiß, was du getan hast.“

Das Lächeln… Die Kapuze… Das Café!

Erschrocken starre ich den Kapuzenmann an und stolpere instinktiv einen Schritt zurück. Den sich daraufhin lösenden Schuss nehme ich nur noch am Rande wahr. Schmerzen spüre ich nicht wirklich. Kraftlos gleite ich zu Boden, in meiner Hand den vermutlich letzten Scheck der Lotteriegesellschaft.

MordsSpaß

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