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Neutrum

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Ich bin eine Travestie. Das hat mit Sex wenig zu tun. Travestie ist eine Theaterrolle, die von einer verkleideten Person des anderen Geschlechts gespielt wird. Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer. Ich spiele Knaben: „Zeitungen, frische Zeitungen!..“, weil ich klein bin und ein Knabengesicht habe. Ich renne auf die Vorbühne und schreie aus allen Kräften. Der Saal amüsiert sich zusehends, der Saal lacht schallend, wenn ich wie eine Verrückte hopse: ich habe eine lustige Rolle.

Von allen Frauen des Theaters wird allein die Bekleidung für mich in der Männerschneiderei angefertigt. Ich gehe hin wie eine Königin zu einem orthodoxen Altar. Danach kann die Kirche verbrannt werden, mir ist das egal. Wie vor dem Arzt haben die Männer keine Scheu, sich vor mir auszuziehen. Denn – ich bin eine Travestie. Ich bin ein Neutrum.

Vor vielen Jahren, noch in der Schule, spielte ich Ophelia.

„Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen?“

„Nein, mein Prinz.“

„Ich meine, meinen Kopf auf Euren Schoß gelehnt.“

„Ja, mein Prinz.“

„Denkt Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinne?“

„Ich denke nichts.“

„Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen.“

„Was ist, mein Prinz?“

„Nichts.“

„Ihr seid heiter, mein Prinz...“

Unsere Geschichtslehrerein weinte damals bei der Premiere. Nicht nur die Augen, das ganze Gesicht war rot von den Tränen; ihr Taschentuch zum Auswringen, als sie zu uns hinter die Kulissen kam.

Unser Regisseur, unser gutmütiger und schutzloser Literaturlehrer! Er umarmte uns alle der Reihe nach, dann fing er wieder von vorne an.

Er war heimlich in mich verliebt, ich spürte das, wie es jede Frau mit der Haut spürt, obwohl er keinen einzigen Ton von sich gab. Er schien mir uralt – mit seinen dreißig Jahren ... Ein blödes Frauenstück! Bald werde ich auch dreißig, trotzdem habe ich so ein Gefühl, dass wahre Leben fange erst jetzt an, und all das, was bis heute vorgefallen ist, war nur die erste Probe ... Und dann, irgend wann mal werde ich diese Rolle besser spielen.

...Er kam in das Klassenzimmer, suchte mich mit den Augen, und erst dann, nach dem er mich gefunden hatte, fing er an zu erzählen ... Was denn? Ich kann mich jetzt an keinen einzigen Satz erinnern, aber er erzählte sehr schön über Epochen und Stil, Autoren, Werke, überwältigende Gefühle - und die große Literatur. Er vergewaltigte uns nicht mit Interpretationen (Sie kennen das: „Dem formalen Primat des Ichs entsteht sogleich eine inhaltliche Wiederströmung; es folgt ein syntaktischer Bruch...“) und sortierte in den Romanen lebende Menschen aus Fleisch und Blut nicht - wie ein Verkäufer die Käsesorten - in Fächer ein. Wir hörten ihm mit offenem Mund zu.

Und quälten ihn.

Er trug eine schauderhafte Brille mit überdimensional dicken Gläsern und schämte sich dafür, weil er damit wirklich ganz entstellt aussah. In der Stunde nahm er sie oft ab und legte sie auf den Tisch. Eines Tages versteckte jemand dieses ungeheuerliche Gerät unter den Papieren, und unser Axel suchte sie mit kurzsichtig zusammengekniffenen Augen, indem er alle Gegenstände auf seinem Tisch wie ein Blinder mehrmals abtastete. Es gab kein größeres Vergnügen für uns! Wir rannten durch das Klassenzimmer, tauschten die Plätze und kicherten – er sah uns nicht, konnte uns nicht voneinander unterscheiden. Jungs breiteten auf ihren Tischen mitgebrachte Leberwurstschnitten mit großen Fettstücken aus, schossen aus Katapulten, und wir Mädchen krochen hinter seinen Rücken und schauten ins immer geheim gehaltene Klassenbuch.

So trieben wir es mehrmals, aber er nahm trotzdem die Brille ab und legte sie auf den Tisch. Vielleicht wollte er mir gefallen? Er errötete immer, wenn wir allein blieben – und das in seinem Alter! Meine Mitschüler hatten schon lange vor dem Abitur aufgehört sich zu genieren, ganz gleich unter welchen Umständen.

Einmal wollte er mich nach Hause begleiten. Er war ein sehr interessanter Gesprächspartner. Aber ich rannte weg. Ich konnte Brillenträger damals nicht ausstehen.

Gerade zu seinen Stunden brachten die Jungs eine Natter mit und steckten sie ihm in seine Aktentasche, ausgerechnet ihm stellten sie das Tintenfass auf den Stuhl (wir kannten damals noch keine Kulis), gerade bei ihm streikte die Klasse, als er 33 „Sechser“ – auch dem Klassenbesten – für nicht erledigte Hausaufgaben in das Klassenbuch eintrug. Von unserer Direktorin ist er ordentlich gerügt worden! Und wir fühlten uns wie Helden: Wir hatten ihm eine „Lehre verpasst“!

An dem Tag hat er geweint. Das erzählte mir später Tante Lore, die Putzfrau aus unserer Schule, die bei ihm zu Hause aus Mitleid im Winter den Ofen heizte - selber hat er das nie gekonnt, ein verwöhntes Mama – Söhnchen!

Aber ausgerechnet er gab mir damals die Rolle von Ophelia. Vielleicht weil er das Wort Travestie nicht kannte?

Ich hörte das Wort zum ersten Mal von einem rundköpfigen Mann bei den Aufnahmeprüfungen in der Theaterschule. Eigentliche waren die Prüfungen schon vorbei, es liefen bereits letzte Gespräche mit Abiturienten. Ich wurde gefragt, wie alt ich bin. Ich war achtzehn, fast achtzehn.

„Vielleicht wächst sie noch?“ sagte einer.

„O nein, nein“, erwiderte der Rundköpfige. „Ohne Zweifel ist das eine typische Travestie.“

Seitdem habe ich ihn nie gesehen, weiß auch nicht, wer er war und woher er zu unseren Gesprächen kam.

Aber das war damals doch nicht das Wichtigste. Ich wurde in die Theaterschule aufgenommen! Ich werde Ophelia spielen. Wie toll : „Ihr seid heiter, mein Prinz...“

Ich hatte keine Ahnung, dass das ein Urteil war, wie die ärztliche Diagnose über eine unheilbare Krankheit. Wie ein Siegel - „Ausschuss“.

Ich spielte. Ich fand das wahnsinnig spannend, als ich von einem angehenden Regisseur zum ersten Mal mit einer Männerrolle besetzt wurde. Ich war die erste von unserem Studienjahr, die in einer Diplomarbeit spielen durfte. Wie ich mich einst freute: nicht irgend eine Rolle, sondern eine Männerrolle! Wie viel Einfallsreichtum und Können muss man da mitbringen, um diese Rolle nicht schlechter als Männer zu spielen. Und dieser Regisseur! Er wählte ausgerechnet mich, er sah mich auf der Bühne, er glaubt an mich, er ist überzeugt, ich bin ein Talent!

Oh, wie viele ehrgeizige Gedanken hatte ich zu jener Zeit! Erst später habe ich verstanden, was Travestie bedeutet: nicht ich wurde eingeladen in dem Stück zu spielen, sondern nur meine kleine Gestalt, mein Diskant, meine Pony-Frisur... Als ich das begriff, schnitt ich meine Haare ab - eine Travestie hat kein Recht auf einen langen Schopf.

Danach war die zweite Rolle, die dritte... Ich rannte als Gavroche in dem Pariser Slum, war ein Kind der blaublütigen Fürstin, sprang als Schiffsjunge von der Decke aufs Bühnenpodest...

Und danach taten mir die Brüste weh, die ich mir eisern für die Vorführung mit einem Korsett band. Keiner durfte in mir eine Frau erkennen. Ich bin für alle eine Travestie, ein Neutrum...

Das ist mein Emploi. In einem Theater gibt es „Helden“ - ein Meter neunzig, Schulter, Bizeps, Körper. Es gibt „Charakterdarsteller“ - ein blasses, mit spitzem Bleistift gezeichnetes Gesicht, dünne Arme, melancholischer Blick. Es gibt noch ein Dutzend „Komiker“, „Tragiker“, einfältige „lyrische Ingénue“ und gutgläubige „dramatische Ingénue, „Soubretten“, „Dorffrauen“, „Stadtfrauen“, mit ihrem Gesicht lombrosianisch vorprogrammierte „Halunken“, „Verräter“ und „untreue Männer“. Nur durch ein Wunder können sie sich ab und an von den fest schließenden Krallen des Emploi befreien. Das Emploi zieht und saugt wie ein Sumpf ein, von einer Rolle zu den anderen. Denkt keiner nach, dass du eine gute Schauspielerin bist? Nein. Du bist eine gute Schauspielerin in solchen Rollen.

Aber ein Komiker kann Hamlet, Prinz von Dänemark, werden. Travestie wird nie zu Ophelia. Als ob jemand ganz genau wüsste, dass sie baumlang war. Sogar die vierzehnjährige Julia wird immer von einer Matrone gespielt, deren speckige Schenkel man ohne Fernglas sehr gut vom letzten Rang sehen kann.

... Ich komme zur Arbeit vor dem neuen Stück und schaue nicht einmal in den Aushang mit der Aufteilung der Rollen und Darsteller. Ich bin bestimmt nicht drin, wenn dort alles ohne Dienstjungen abgeht. Sogar in der dritten Besetzung nicht. Ich weiß das ganz genau, ich bin nicht seit gestern am Theater. Ich ringe nicht, wie alle anderen, um Rollen - ich hatte schon im Mutterbauch verloren. Aber es gibt auch durchaus positive Seiten meines Daseins: Ich werde nie verdächtigt, mit dem Regisseur für eine Rolle geschlafen zu haben. Ich bin aus dem Spiel, ich stehe den Primadonnen nicht im Weg. Ich werde nie zum Star - den Bühnenknirpsen werden keine Blumen geschenkt.

Wenn ich alt geworden bin und keine Maske meine Falten verdecken werden, fertigen mir Requisiteure einen Buckel an, und ich werde auf der Bühne mit einer Krücke erscheinen, ich werde laut husten, und der erbarmungslose Zuschauerraum wird lachen über mein Alter und meine Schwäche. Ich werde mich in einem Spielsaison von einem Buben in eine alte Ruine verwandeln, und kein einziger Zuschauer wird mich als Frau sehen.

Weil ich ein Neutrum bin.

Eine Travestie.

... In meinen Schminkraum kommt ein Mann herein - er ist ein echter Riese, ich kann seinen Kopf nur mit der Hand erreichen. Ihn zu küssen ist äußerst unbequem, aber er beugt sich zu mir herab und küsst mich, wie immer kalt und trocken. Das ist mein Mann. Er meint, im zehnten Ehejahr müsse man nicht unbedingt Liebesleidenschaft vortäuschen. Früher bei den Vorstellungen warf er immer einen Blumenstrauß zu meinen Füssen. Er konnte das hervorragend machen - direkt zu meinen Füssen. Ich sah, wie er aufstand und Blumen warf wie den Ball beim Strafwurf auf dem Basketballplatz. Und jedes Mal bückte sich jemand von den männlichen Kollegen nach dem Strauß und reichte ihn der Hauptdarstellerin. Gewiss, es stand auf den Blumen nichts drauf...

Damals hatte ich genug Verehrer, ich wählte aber ausgerechnet ihn. Und nicht, weil ich ihn am meisten liebte, überhaupt nicht...

Er reicht mir meinen Mantel, und wir gehen langsam durch nächtliche Straßen. Unsere Tochter geht schon lange allein ins Bett - wir brauchen uns nicht zu beeilen. Ich merke, wie ich nach der Vorstellung mehr und mehr ausgelaugt bin, wie meine Muskeln schmerzen. Ich möchte so schnell wie möglich nach Hause und dort - geradewegs ins Bett, ohne mich auszuziehen und zu waschen. Aber ich zwinge mich ganz langsam zu gehen und mit voller Brust die Luft einzuatmen - während der Aufführung unter den Bühnenscheinwerfern kann man ersticken.

Wir schweigen.

Ich denke an meine Tochter. Sie ist schon fast so groß wie ich, und ich möchte, dass sie Schauspielerin wird. Dann spielt sie vielleicht Ophelia auf der großen Bühne.

„Seid Ihr heiter, mein Prinz?..“

Briefbombe

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