Читать книгу Singapur – oder tödliche Tropen - Volker Schult - Страница 9

3. KAPITEL INSEL LANGKAWI. DIE SCHIEßÜBUNGEN

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Nun wieder auf hoher See ist der Augenblick gekommen, in dem Kapitänleutnant Wilhelm Kurz seine Offiziere zu sich ruft und ihnen den Geheimbefehl verkündet.

Mit fester Stimme ruft er aus: „Meine Herren, ich weihe Sie jetzt in unseren eigentlichen Auftrag ein. Es geht nicht um die Schießübungen, wie auch alle Männer an Bord glauben. Vielmehr hat man uns von hoher Stelle den folgenden Auftrag mitgegeben.“

Stille kehrt ein, Gebannte Blicke sind auf ihren Kapitän gerichtet. Die Anspannung unter den Offizieren ist nun förmlich mit Händen greifbar. Nach einer kurzen Pause und einem Räuspern fasst Kapitänleutnant Kurz den Befehl mit einem neutralen Gesichtsausdruck und mit sonorer Stimme zusammen:

„Der Staatssekretär des Äußeren von Bülow hat geruht festzustellen, dass man nicht abgeneigt sei, der Frage der Erwerbung einer Kohlenstation in der Gegend der Straße von Malakka durch die Firma Behn, Meyer & Co. näher zu treten. Voraussetzung sei, dass die Marine dies für wünschenswert halte. Wenn das der Fall sei, dann solle ein Kriegsschiff gelegentlich und unauffällig die Gegend erkunden. Wegen der politischen Brisanz der Unternehmung sei eine unbedingte Geheimhaltung notwendig.

Der Staatssekretär des Reichsmarineamts Admiral Tirpitz hat erklärt, dass er es begrüßen würde, wenn Iltis nach der Ausreise aus Penang, die Insel Langkawi aufsuchen würde. Der Kapitän solle sich ein Urteil über den Wert der Insel als Kohlenstation und auch als Stützpunkt machen. Ein Besuch des Kapitäns oder eines Offiziers von Iltis, natürlich inkognito, sei zweckmäßig.“

Nach einer kurzen Pause fügt Kapitänleutnant Kurz hinzu:

„Und genauso machen wir es, meine Herren.“

Mehr brauchen seine Offiziere nicht zu wissen. Das reicht schon, denkt sich Wilhelm Kurz. Angespannte Stille. Die Offiziere trauen ihren Ohren nicht. Aber Befehl ist Befehl und nicht zu hinterfragen. Dann nicken sie fast zeitgleich und gehen mit entschlossenem Ausdruck in ihren Gesichtern wieder auf ihre Posten.

Die Fahrt verläuft ohne Komplikationen. Mit dampfenden Schornsteinen hält Iltis schnurgerade seinen Kurs durch das ruhige, klare smaragdgrüne Wasser. Gelegentlich verdecken einige Wolken die Sonne, doch bringt das keine wirkliche Erleichterung. Unbarmherzig umweht die Männer die Tropenhitze.

Links und rechts begleiten Fregattvögel das Kriegsschiff. Die schlanken schwalbenschwanzähnlichen Jäger mit ihrem kurzen, gerundeten Kopf tauchen auf und ab. Schon bei geringen Windstärken müssen die Vögel nur noch gleiten und keine aktiven Flügelschläge mehr durchführen. Bei jedem Tropenfahrer lösen sie wegen ihrer wendigen, ja vollendeten Flugmanöver Begeisterung aus. Auch Kurz schaut den geschmeidigen Vögeln versonnen hinterher.

Richtung Meer ist der Himmel friedlich Er geht in geheimnisvollen Zwischentönen in ein helles, leuchtendes Wasserfarbenblau über, das nach oben hin immer dunkler wird. Urplötzlich bauen sich Wolkenbänke auf. Gewitter entladen sich. Blitze zucken.

Auch diese gelegentlichen, meist kurzen Tropengewitter mit ihren heftigen Regengüssen lindern die Qualen der Männer nicht. Das Gegenteil ist eher der Fall. Die Luft wird dadurch immer mehr mit Feuchtigkeit angereichert. Das unablässige Schwitzen zehrt an den Nerven der Besatzung. Aber mit großer Disziplin erledigt sie ihre Arbeit.

Nach sechzig Seemeilen auf nordwestlichem Kurs von Penang können die Männer auf der Brücke die gebirgige Insel Langkawi erkennen. Sie befindet sich zehn Seemeilen vom malaiischen Festland entfernt, eine geografisch äußerst günstige Lage.

Eine märchenhafte Landschaft tut sich vor ihnen auf. Ein Tropenidyll. Und ausgerechnet in einer solchen fast schon paradiesischen Atmosphäre soll er Gespräche mit möglicherweise geostrategischen Folgen führen, denkt Wilhelm Kurz. Das hat schon etwas Skurriles.

Die Wasseroberfläche ist vollkommen glatt. Das letzte bisschen Wind hat sich gelegt. Das Kanonenboot pflügt sanft durch tiefblaues ruhiges Wasser. Über dem Schiff und ihrer Besatzung erstreckt sich ein endlos klares Hellblau des Himmels, verziert mit einzelnen makellos weißen Wolken. Ein Schwarm Vögel fliegt gemächlich über das Meer. Lautlos. Alles scheint unendlich friedlich.

In dem betörenden Licht tauchen alsbald kleinere Inseln auf, die so gruppiert sind, dass sie einen großen, natürlichen Hafen mit genügendem Tiefgang für Schiffe jeder Größe bilden, der auch gegen alle Winde Schutz bietet. In einer Bucht mit sanft geschwungenem Halbkreis befiehlt Kapitänleutnant Kurz am späten Nachmittag vor Anker zu gehen. Eine üppig sprießende Vegetation lässt die Insel geradezu überquellen. Eine Fülle von Grüntönen. Einfach überwältigend. Die Insel hat ein prächtiges, einnehmendes Flair. Wilhelm Kurz, die Offiziere wie auch die gesamte Besatzung sind fasziniert von dem Anblick. Eine verschwenderische Vegetation tut sch vor ihnen auf. Üppige Sträucher. Bambus. Schatten spendende Palmen.

Heinrich Adler hat ein Treffen mit einem Chinesen vereinbart, der sich auf Langkawi gut auskennt, also die notwendigen Informationen liefern und Wilhelm Kurz auch einen persönlichen Eindruck vermitteln kann. Zugleich soll der Chinese über gute Kontakte zum Sultan von Kedah verfügen und auch dessen Vertrauensperson sein.

Mit einem Beiboot lässt sich Wilhelm Kurz an den blendend weißen Strand bringen, wo der Chinese schon auf ihn wartet. Das Wasser in der Bucht strahlt. Leuchtet. Ein unglaubliches Blau. Türkisblau.

Das lässt sich ja alles gut an, denkt sich Wilhelm Kurz. Nach der Begrüßungszeremonie führt ihn der Chinese, der sich als Kaufmann Heng Wan Chu vorstellt, in einen fast direkt am Stand gelegenen größeren Bambusbungalow. Mit kleinen, aber schnellen Trippelschritten läuft Heng vorweg. Heng ist wie die meisten Chinesen von eher kleinem Wuchs und sein langer schwarzer Zopf baumelt auf seinem Rücken hin- und her.

Wie in den Tropen üblich löst die Dunkelheit den hellen Tag innerhalb kürzester Zeit ab. Eine richtige Abenddämmerung gibt es nicht. In der lauschigen Tropennacht mit einer leichten, erfrischenden Brise bittet Kaufmann Heng zu Tisch. Bei einem ausgiebigen Essen mit allen möglichen Arten von Fleisch und Fisch, mit viel Reis, reichhaltigem Gemüse und natürlich leckeren tropischen Früchten, gibt Heng Wilhelm Kurz einen Überblick über die Gegebenheiten Langkawis. Nach dem traditionellen chinesischen Tee nach dem Essen kommt auch der Alkohol nicht zu kurz.

Mit etwas hoher Stimme und in einem eher schwer verständlichen Englisch mit hartem chinesischem Einschlag teilt Heng Wilhelm Kurz die wichtigsten Informationen mit.

„Sir, zwischen den Gebirgszügen gibt es fruchtbare Täler und gutes Wasser in ausreichender Menge. Die Berge sind dicht mit Nutzhölzern bestanden und bieten erholungsbedürftigen Europäern einen kühlen und gesunden Aufenthaltsort. Die zahlreichen Täler und Ebenen sind, wie schon erwähnt, fruchtbar, so dass hier Kokosnüsse, Reis und Zucker angebaut werden können. Außerdem gibt es Marmor und Zinnvorkommen, die aber bisher überhaupt nicht ausgebeutet worden sind.“

Letzteres liegt Heng dabei besonders am Herzen. Hat doch vor kurzem sein Neffe Low bewiesen, wie lukrativ der „Handel“ mit Zinn sein kann. Es scheint leicht zu sein, diese Deutschen zu betrügen. Man muss sich zunächst natürlich ihr Vertrauen sichern. Daran soll es nicht scheitern, denkt sich Heng und lacht lautlos in sich hinein. Vielleicht gelingt es auch ihm, Heng, in absehbarer Zeit mit Hilfe der Deutschen ein kleines Vermögen für den Zweig seiner Familie abzuzwacken. Doch diese Gedanken behält er für sich. Vielmehr fährt er fort:

„Sir, auf der gesamten Insel Langkawi leben knapp unter eintausenddreihundert Menschen, teils Malaien, teils Chinesen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt meist durch Fischfang. Ein anderer chinesischer Kaufmann, aber kein Freund von mir, wie ich Ihnen versichern kann Sir, hat die Einnahmen auf die Opiumausfuhr, die Abgaben auf Spirituosen, den Holzschlag, den Fischfang und auf die Ausfuhr von Büffeln, Häuten und Reis für zwei Jahre im Voraus gepachtet. Das ist hier in der Gegend durchaus üblich.

Seine Hoheit der Sultan benötigt dringend Geld. Soviel kann ich Ihnen verraten, Sir. Natürlich nur im Vertrauen“ und grinst Wilhelm Kurz dabei mit seinem kleinen Mund und dem dünnen Oberlippenbärtchen verschwörerisch an.

„Mit Verlaub, Sir, darf ich Ihnen ebenfalls ganz im Vertrauen und in vollkommener Bescheidenheit mittteilen, dass ich von Seiner Hoheit dem Sultan persönlich autorisiert bin, anzufragen, ob das Deutsche Reich an der Pachtung der Insel Interesse hat.“ Dabei streift sein Blick Wilhelm Kurz nur kurz.

Der ist ganz begeistert von den Ausführungen und der viele Alkohol in ungewohnt tropischer Hitze lassen ihn unachtsam werden.

„Das ist es! Langkawi ist der geeignete Stützpunkt für unsere Marine!“, entfährt es ihm begeistert. Heng horcht auf. Dann realisiert Wilhelm Kurz, wie unklug diese Äußerung war. Verdammt! Hoffentlich hat der Heng das nicht richtig mitbekommen. Nun in einem neutralen Tonfall stellt Kurz klar:

„Sehr interessant, muss ich schon sagen. Aber wir Preußen schießen nicht so schnell.“

Mit einem Fragezeichen im Gesicht schaut Heng Wilhelm Kurz an.

„Das heißt mit anderen Worten, ich benötige Bedenkzeit für die Überlegung, ob ein Landstreifen aus Sicht der deutschen Marine geeignet ist, um als Kohlenlager zu taugen.“

Diese Worte kann Heng nachvollziehen und nickt leicht.

Da die Tropennacht früh hereingebrochen ist, hat Wilhelm Kurz das Gefühl, dass der Uhrzeiger schon viel weiter vorgerückt ist. Tatsächlich aber ist es noch gar nicht so spät. Wie schnell man sich doch täuschen kann, denkt er.

Mittlerweile haben die beiden einiges getrunken, Kurz dabei mehr als Heng.

Heng besteht darauf, seine Gastfreundschaft unter Beweis zu stellen.

„Sir, es wäre mir und meiner Familie eine große Ehre und außerordentliche Freude, wenn der Herr Kapitän die Nacht als mein Gast in dem Bambusbungalow nebenan, der ganz bescheiden auch mir gehört, verbringen würden.“

„Ähm, ja, nun. Sehr freundlich von Ihnen. Aber ich weiß nicht so recht. Ich sollte vielleicht doch lieber auf mein Schiff zurückkehren“, bemüht sich Wilhelm Kurz die Einladung freundlich abzulehnen.

„Herr Kapitän, Sie sollten heute Abend wirklich hier übernachten. Das würde Ihnen erlauben, die besondere Atmosphäre der Insel aufzunehmen. So können Sie besser zu einer Entscheidung kommen, Sir. Wenn Herr Kapitän diesen Ratschlag untertänigst erlauben. Alles ist auch schon vorbereitet, Sir.“

Wilhelm Kurz denkt darüber nach. Der Vorschlag hat tatsächlich etwas für sich. Nach so viel gutem Essen verspürt er wahrlich keine rechte Lust, in seine stickige Kajüte an Bord zurückzukehren. Aber für seine Entscheidung ausschlaggebend ist eher die Tatsache, dass sich der Alkohol nun doch in seinem Kopf deutlich bemerkbar macht.

Kurzerhand sagt er zu.

„Heng, ich bedanke mich für Ihre Gastfreundschaft und nehme Ihr freundliches Angebot an.“

Daraufhin verbeugt sich Heng tief vor Kurz und begleitet seinen Gast zu dem nahegelegenen Bambusbungalow. In der Tat, alles scheint vorbereitet zu sein. Das Bett ist hergerichtet, das Moskitonetz hängt schon von der Decke.

„Herr Kapitän gestatten mir noch einen letzten Hinweis. Es ist außerordentlich wichtig, schnell unter das Netz zu kommen, sodass die umherschwirrenden Moskitos keine Chance haben, sich darunter zu verirren.“

Nickend nimmt Wilhelm Kurz den Rat entgegen. Heng verabschiedet sich, wünscht eine gute Nacht und fügt an, dass er seine Tochter noch schnell schicken werde, um dem Herrn Kapitän kühles Wasser und einige Erfrischungen für die Nacht zu reichen. Wieder bedankt der sich für die ihm gewährte Gastfreundschaft.

Nachdem Heng den Bungalow verlassen hat, beginnt Wilhelm Kurz sich Gedanken zu machen.

Eigentlich aber muss er gar nicht länger nachdenken. Nach seinen Informationen und Eindrücken steht für ihn fest, dass Langkawi für das Reich nicht nur als Kohlenstation von großem Wert ist, sondern die Insel kann sich innerhalb kurzer Zeit zu einem bedeutenden Handelsplatz entwickeln und damit dem britischen Penang Konkurrenz machen. In seinem Kopf formuliert er schon seine offizielle Schlussfolgerung: Langkawi ist als Kohlenstation außerordentlich geeignet. In einem geheimen Zusatz, der aber ausschließlich für Berlin bestimmt ist, wird es dann heißen: Außerdem ist ihr militärischer und ihr wirtschaftlicher Wert ein so großer, dass der Erwerb der gesamten Insel als Stützpunkt nur wärmstens befürwortet werden kann. Das Codewort dafür lautet: „Iltis schwimmt sehr gut.“ Aber das weiß außer ihm nur noch Admiral Tirpitz.

Jetzt erst merkt Kurz, wie ausgelaugt er ist, obwohl er sich im Innersten unruhig fühlt. Kribbelig. Ein verrückter Zustand. Merkwürdig. Wahrscheinlich machen das der Alkohol und die besondere Atmosphäre einer Tropennacht.

Während Wilhelm Kurz noch über seinen Geheimauftrag nachdenkt, ist Liang, Hengs Tochter, auf dem Weg zum Bungalow mit den versprochenen Erfrischungen. Kurz davor bleibt sie abrupt stehen. Genau in diesem Bungalow ist etwas anderes vor gar nicht so langer Zeit geschehen. Sie ruft sich das Gesicht des weißen Mannes ins Gedächtnis. Und dabei hatte sie sich wirklich in ihn verliebt. In der Nacht erwiderte er auch ihre Liebe, so meinte sie jedenfalls. Und nun denkt sie mit Furcht an ihren zukünftigen chinesischen Ehemann, dem sie durch ihre Familie versprochen ist. Gedankenverloren streicht sich über ihren Bauch, bleibt einige Sekunden regungslos stehen.

Spontan fasst Liang einen Entschluss.

Sie klopft an die Tür und ihre schlanke Gestalt huscht in den Bungalow. In der einen Hand hält Liang eine Karaffe mit Wasser, in der anderen Hand einen Teller mit Erfrischungen. Sofort fallen Wilhelm Kurz die langen schwarzen Haare, das runde Gesicht mit den strichförmigen Augen, der zierliche Körperbau und ihre grazilen Züge auf.

Verstohlen schaut sie Wilhelm Kurz an, der darüber etwas verwirrt scheint. In einem halbwegs verständlichen Englisch beginnt Liang ein kleines Gespräch mit dem Fremden zu führen. Der ist zunächst überrascht, lässt sich dann aber darauf ein. Natürlich weiß Liang schon von der anderen Langnase, in die sie sich verliebt hat, und von ihrem Vater, warum der schneidige deutsche Marineoffizier auf der Insel weilt.

„Gefällt es Ihnen hier, mein Herr?“, flötet Liang fragend mit junger Stimme und in einem lieblichen Tonfall, wobei sie ihren Kopf dezent senkt. Ihr Mund lächelt sanft.

„Äh, äh, ja, ja doch“, kommt es stotternd aus Wilhelm Kurz Mund. Dann wird ihm klar, dass diese Worte deutlich zu wenig und zu allgemein sind.

„Nein, wirklich. Es ist ausgesprochen schön hier. Geradezu fantastisch. Eine tropische Wunderwelt, wie ich sie noch nie gesehen habe“, betont er.

„Mein Herr, Sie haben einen wirklich wertvollen Auftrag für Ihr Land zu erfüllen“, lenkt Liang wie zufällig das Gespräch auf Kurz Auftrag. Der will sie unterbrechen, doch Liang kommt ihm zuvor.

„Mein Herr, bei uns ist es Brauch, jemanden bei einer so wichtigen Mission Glück zu wünschen und ihm ein kleines Geschenk zu machen.“

Ohne den Blick von Wilhelm zu lassen, wandern ihre Hände zu ihrem Nacken. Dort öffnet sie den Verschluss ihrer Halskette.

„Es ist ein Familienschmuckstück, ein Jadeamulett, das die Form einer Acht hat.“

Regungslos verfolgt Wilhelm die Szene mit großen Augen.

„Die Zahl acht“, so erklärt Liang, „ist die Glückszahl bei uns Chinesen.“

Dabei nimmt sie die Kette von ihrem Hals und übergibt sie Wilhelm. Der ist vollkommen gerührt. Sprachlos. Schaut das Jadeamulett in seinen Händen an, sammelt seine Gedanken. Nur langsam findet er Worte.

„Das ist ja überaus reizend und eine sehr freundliche Geste. Von wem, wenn Sie mir erlauben zu fragen, habe ich dieses unglaublich schöne Geschenk bekommen?“

„Liang, mein Herr. Meine Name ist Liang.“

„Ein reizender Name, Liang. Also, Liang ganz ganz herzlichen Dank. Es möge mir Glück bringen. Das habe ich dann Ihnen zu verdanken.“

Dann weiß Wilhelm Kurz nicht weiter. Soll er ihr einen Handkuss geben? Tut man das hier überhaupt? Vielleicht wird das auch missverstanden. Und das ist das allerletzte, was er bei seinem Auftrag gebrauchen kann. Bloß kein unnötiges Aufsehen erregen. Vorsichtig, als ob es zerbrechen könnte, legt er das Amulett auf den Tisch. Fast gleichzeitig beginnt Liang das Bett von Wilhelm Kurz herzurichten und streicht das Laken unter dem Moskitonetz straff. Danach verabschieden sie sich und wünschen einander eine gute Nacht.

Währenddessen dauert es Vater Heng zu lange, bis seine Tochter zurückkommt. Sie sollte doch nur schnell die versprochenen Erfrischungen vorbeibringen. Deshalb schickt er Liangs jüngeren Bruder hinterher. Kurze Zeit später kommt der atemlos zurück und berichtet seinem Vater, dass er eine weibliche Gestalt im Schatten der Petroleumlampe im Zimmer dieser Langnase gesehen hat, wie sie sich über das Bett gebeugt hat. Das kann nur seine Schwester gewesen sein. Schockiert ist er deshalb sofort zurückgelaufen, um Vater Heng davon zu berichten.

Als Liang nach Hause zurückkommt, bemerkt sie den strengen Gesichtsausdruck ihres Vaters.

„Was hast du in dem verfluchten Zimmer der Langnase so lange gemacht?“, fragt er Liang mit ernster Stimme.

Liang bleibt wie erstarrt stehen und schaut zu Boden. Die Sekunden der Stille kommen ihr wie eine Unendlichkeit vor. Dann bricht Liang zusammen, schluchzt und fängt an zu weinen.

Während Wilhelm Kurz unter dem Moskitonetz bereits in einen unschuldigen Schlaf gesunken ist, erzählt Liang ihrem Vater stockend und mit tränenerstickter Stimme, dass diese elende Langnase sich an ihr vergangen hat. Ungläubig starrt Heng seine Tochter an. Er kann ihre Worte nicht begreifen. Dann holt er aus und schlägt seine Tochter rechts und links ins Gesicht. Danach will er wutentbrannt in den Nachbarbungalow stürmen und diesen schrecklichen Mistkerl, der ihm von Anfang an unsympathisch war, wie er jetzt meint, den Garaus zu machen. Er hat schon die Messerklinge in der einen Hand und ist dabei, die Klinke der Tür herunterzudrücken.

Doch dann hält er inne, unterdrückt seinen ersten Impuls, versucht sich etwas zu beruhigen und fängt an nachzudenken. Wenn er jetzt zur Tat schreitet, kommt alles heraus. Zwar ist der Schänder dann tot, aber die Schande seiner Familie ist auch öffentlich. Nein, sagt er sich. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, ist die Tugend der Stunde.

Dieses Jahr steht im Sternzeichen des Schweins, dem letzten im zwölfjährigen Zyklus des chinesischen Kalenders. Im nächsten Jahr fängt es mit der Ratte wieder von vorne an. In erster Linie wird das Schwein mit Fruchtbarkeit und Potenz verbunden. Ein Kind im Jahr des Schweins zu bekommen gilt als großes Glück.

Aber natürlich nicht unter diesen unwürdigen Umständen, denkt Heng. Eine Schande für die ganze Familie.

Eigentlich steht das Schwein für Charakterzüge wie Mitgefühl, Großzügigkeit und Fleiß. Man genießt die Gesellschaft anderer und bringt den Mitmenschen viel Freude. Doch bei aller Gutherzigkeit des Schweins, wenn es verletzt wird – und das ist hier der Fall – kann es richtig böse werden. Und Heng ist richtig böse. Dazu hat er wohl auch allen Grund. So meint er.

Außerdem genießen es Schweine, mehr auszugeben als zu sparen. Wie wahr, wie wahr, sagt sich Heng. Wirklich sparsam ist auch er, Heng, in diesem Jahr nicht gewesen. Aber sein Neffe Low hat es vorgemacht, wie man die Deutschen um ihr Geld erleichtern kann. Heng beschließt, von dieser deutschen Langnase eine erhebliche Geldsumme als Sühnegeld zu fordern. Dazu will er den Deutschen nach Singapur fahren lassen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. In Singapur leben viele Mitglieder seines weitverzweigten Familienclans. Zum einen hat Heng dadurch größere Zugriffsmöglichkeiten auf die Langnase und zum anderen kommt die Langnase dort an sehr viel mehr Geld heran, als hier auf der abgeschiedenen Insel Langkawi. Er soll Geld als Sühne bluten. Das wird Hengs Rache sein.

Erste Fliege.

Wenn diese Langnase ihre Zustimmung zur Unterzeichnung des Vertrags über die Kohlenstation auf Langkawi gibt, wird er, Heng, das als Mittelsmann zum Sultan über Heinrich Adler erfahren. Dann kann er seine Provision einstreichen.

Zweite Fliege.

Vielleicht, so seine Überlegung, könnte er sogar drei Fliegen mit einer Klappe erlegen. Diese unbedarfte Äußerung der Langnase über Langkawi als Stützpunkt könnte ihm eventuell noch von ganz anderer Seite, die an dieser Information interessiert ist, ein zusätzliches hübsches Sümmchen einbringen. In Vorfreude reibt sich Heng schon einmal die Hände und lächelt vor sich hin.

Dritte Fliege.

So, und das Töchterchen wird mit der erstbesten Dschunke in Begleitung von Onkel Chu schnellstens zu ihrem Verlobten nach Sumatra in Niederländisch-Indien gebracht. Dort muss Liang alles unternehmen, damit die versprochene Heirat möglichst rasch vollzogen werden kann, bevor irgendetwas ruchbar wird. Der zuverlässige und erfahrene Onkel Chu wird das Kind schon schaukeln. Im übertragenen Sinne natürlich. Da ist sich Heng sicher.

Am anderen Morgen ist weder von Heng noch von seiner Tochter etwas zu sehen. Verwundert nimmt Wilhelm Kurz das tropische Frühstück, das ihm bereitet worden ist, mit viel Obst, darunter zahlreiche Mangofrüchte, die ihm sehr behagen, zu sich. Etwas merkwürdig findet er es schon, dass der am gestrigen Abend noch so eifrige Gastgeber nicht anwesend ist, aber seine Meinung hat Wilhelm Kurz sich ja schon gebildet. Und nur darauf kommt es letztendlich an. Mission erfüllt, sagt er zu sich selber. Nun müssen nur noch die Schießübungen durchgeführt werden. Das wird einige Zeit dauern und anschließend wird die nächste Etappe Singapur in Angriff genommen werden, wo er gedenkt, seinen Geheimbericht zu verfassen und ihn nach Berlin zu senden.

Singapur – oder tödliche Tropen

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