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Ludwig Boltzmann

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Bisher haben wir die wissenschaftlichen Väter und Großväter der experimentellen Seite vorgestellt, jetzt wollen wir uns zur wichtigeren Seite hinwenden – den wissenschaftlichen Vorfahren auf der theoretischen Seite. Friedrich (Fritz) Hasenöhrl wäre demnach als Vater zu bezeichnen und Ludwig Boltzmann, einer der größten theoretischen Physiker, als Großvater. Ein wissenschaftlicher Stammbau unterliegt keinen biologischen Zwängen; Hasenöhrl war in dieser Hinsicht nicht nur Schrödingers Vater, da er zu seinem ersten Abschluss 1896 unter Anleitung von Exner kam, er wäre somit auch sein älterer Bruder.

Boltzmann wurde am 20. Februar 1844 in Wien als Sohn eines Regierungsbeamten geboren. Der Tag war ein Faschingsdienstag, und nicht ganz ernsthaft schrieb er seine plötzlichen Stimmungsschwankungen zwischen Fröhlichkeit und Bedrückung der Tatsache zu, dass er während der letzten Stunden einer heiteren Faschingsfeier zur Welt kam. Er war von kleiner Statur und kräftig gebaut, mit lockigem Haar – seine Verlobte pflegte ihn „süßer fetter Liebling“ zu nennen. Seinen Doktortitel erwarb er 1866 an der Universität Wien mit der Anfertigung einer Arbeit über die kinetische Gastheorie unter Stefan. Hierbei kam seine Genialität schnell zum Vorschein, und mit nur 25 Jahren erhielt er eine Professur für mathematische Physik an der Universität Graz.

Dank seines Temperaments hielt es Boltzmann nie lange an einem Ort. Aber wo immer er auch war, setzte er seine Arbeiten an der kinetischen Gastheorie fort. Weitgehend unabhängig voneinander entwickelten Boltzmann und Willard Gibbs in Yale die statistische Mechanik. Hierbei handelt es sich um das Fachgebiet, das die Verbindung zwischen der mikroskopischen Welt der Atome und Moleküle und der makroskopischen Welt der Gase, Flüssigkeiten und Festkörper herstellt. Die Gesetze der makroskopischen Welt, zum Beispiel die Abhängigkeit des Druckes eines Gases von Volumen und Temperatur, können hierbei aus statistischen Überlegungen über das mechanische Verhalten der enorm großen Zahl von Molekülen im makroskopischen Bereich abgeleitet werden. Soweit es die makroskopische Welt betrifft, werden die Koordinaten und Geschwindigkeiten einzelner Gasmoleküle als versteckte Variablen betrachtet; sie gehorchen zwar den üblichen Gesetzen, treten aber nicht explizit in den Gasgesetzen in Erscheinung. Ein beträchtlicher Teil von Schrödingers Forschung beschäftigt sich mit der statistischen Mechanik, seine Publikationen zu diesem Thema füllen die ersten 514 Seiten in seinen Gesammelten Abhandlungen.

Zu Boltzmanns Zeiten waren Chemiker und Physiker viel mit der Frage nach der „Realität“ von Atomen und Molekülen beschäftigt. Hierbei ging es nicht um die alten philosophischen Auseinandersetzungen zwischen „Realismus“ und „Idealismus“, obwohl derartige Fragen mit in den Disput einflössen. Viele Wissenschaftler sahen den Diamanten und Kohlenstoffatome als grundlegend verschiedene Entitäten an: Diamanten „existieren“, demgegenüber ist das Kohlenstoffatom lediglich ein theoretisches Konzept zur Ableitung mathematischer Beschreibungen. Für Boltzmann hingegen waren die Atome genauso real wie die Diamanten.

Als Stefan 1894 starb, übernahm Boltzmann seinen Lehrstuhl an der Universität Wien. Ein Jahr später wurde Ernst Mach auf den Lehrstuhl für Geschichte und Wissenschaftsphilosophie berufen. Mach lehnte die Vorstellung der Realität von Atomen durchweg ab und seine Vorlesungen und Bücher wurden in Wien begeistert aufgenommen. 1900 übernahm Boltzmann den Lehrstuhl für theoretische Physik in Leipzig. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands wurde Mach 1901 in den Ruhestand versetzt und Boltzmann kehrte nach Wien zurück, da sein früherer Lehrstuhl nicht wieder besetzt worden war. Wenn man seine Missbilligung gegenüber den meisten Philosophen betrachtet, ist es eher als Ironie anzusehen, dass er auch den Philosophiekurs von Mach übernahm. Er war in Bezug auf die Philosophie als Realist und Materialist zu bezeichnen, hinsichtlich der persönlichen Beziehungen eher als weichherzig – so hat er nie einen Studenten durchfallen lassen. Des Weiteren war er ein begeisterter Darwinist: In der Evolution sah er einen Vorgang, der leblose Materie in mechanistische Strukturen überführte, in menschliche Gehirne – der Liebe, des Mitleids und künstlerischer Kreativität fähig. Moderne Molekularbiologen wie Francis Crick und Jacques Monod hätten in diesen Fragen zweifelsfrei die Ansichten Ludwig Boltzmanns geteilt.

Als sich die Angriffe auf den Atomismus fortsetzten, bezeichneten die Anhänger Machs Boltzmann als „die letzte Säule dieses gewagten Gedankengebäudes“. Auch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich und er wurde deutlich depressiver. Er begann, jedes Zittern als Wanken des Gebäudes wahrzunehmen, das beim Zusammensturz sein Lebenswerk unter den Trümmern begraben würde. Im Sommer 1906 ging es in den Ferien in die wunderschöne Bucht von Duino in der Nähe von Triest. Während seine Frau und seine Tochter das Schwimmen genossen, erhängte er sich.

Obwohl manchmal gesagt wurde, dass Selbstmord ein Wiener Lebensweg gewesen sei, war der Tod Boltzmanns ein fürchterlicher Schock für die Mitglieder des Instituts für Physik. Auch Erwin Schrödinger war zutiefst betroffen. Er war davon ausgegangen, sein Studium der theoretischen Physik in einigen Monaten bei dem bedeutenden Lehrmeister zu beginnen. Der Gefühle dieses Herbstes erinnerte er sich beim Betreten des Physikgebäudes:

„Das alte Wiener Institut, welchem vor kurzem Ludwig Boltzmann in so tragischer Weise entrissen wurde, dem Gebäude, wo Fritz Hasenöhrl und Franz Exner arbeiteten und viele andere von Boltzmanns Schülern ein und aus gingen, erzeugte in mir eine unmittelbare Empathie für die Ideen dieses gewaltigen Geistes. Die Reichweite seiner Ideen war für mich wie eine wissenschaftliche Jugendliebe, niemand sonst hat mich je wieder so fasziniert.“

Erwin Schrödinger

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